11 Aug

Alter und Zeit

Von Kay Herrmann (Chemnitz)


Alter und Altern sind unweigerlich an Zeit gebunden. Doch was ist überhaupt Zeit? Warum scheint Zeit einmal langsamer, ein andermal schneller zu vergehen? Kann man den beharrlichen Strom der Zeit überlisten und Möglichkeiten finden, das Altern zu umgehen? Was sagt die Physik zu Thema der Zeitreisen?

Das Paradox des Alterns

Das Altern ist unvermeidbar, die Jahre fließen beharrlich dahin. Und das Paradoxe daran ist: Obwohl für alle Menschen objektiv dieselbe Zeitspanne vergangen ist, etwa die Zeit vom 01. 01. 2019 bis heute, so wird die Dauer doch ganz unterschiedlich empfunden.

Vermutlich basiert dieses Phänomen auf dem sogenannten „Urlaubs-Paradoxon“, das dadurch entsteht, dass neue Erfahrungen von unserem Gehirn umfangreich abgespeichert werden, Vertrautes jedoch weniger. Wir verfügen über keinen Sinn, mit dem wir Zeit wahrnehmen könnten. Deshalb können wir die Dauer einer Zeitspanne nur anhand der Anzahl der Ereignisse abschätzen: Je mehr Ereignisse passieren, desto länger wirkt retrospektiv eine Zeitspanne. Ein ereignisreicher Urlaub wird deshalb als länger empfunden als dieselbe Zeitspanne, in der sich vergleichsweise wenig ereignet hat.

Die Zeit der Kindheit ist durch viele neue Ereignisse geprägt, dagegen stellt sich später eher Routine ein. Deshalb scheinen die frühen Jahre länger gedauert zu haben.

Allerdings gibt es eine Möglichkeit, die Zeit des Alterns zu „verlangsamen“: nämlich das Gehirn fordern, neue Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, Neues probieren, unbekannte Orte entdecken und erkunden, die Alltagsroutine durchbrechen (https://www.spektrum.de/frage/warum-vergeht-die-zeit-im-alter-schneller/1486561).

Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob damit bereits das Phänomen der Zeit-Akzeleration des Alters erklärt ist. Vielleicht ist es im Alter auch das Bewusstsein der immer knapper werdenden Zeit: Eine Ressource, die fast aufgebraucht ist, gewinnt an Wert, scheint sich plötzlich schneller zu verbrauchen als eine Ressource, die scheinbar unbegrenzt zur Verfügung steht.

Vielleicht könnte man das Gesagte auf die kurze Formel bringen: Je größer die Anzahl der Ereignisse ist, desto größer ist die Zeitdauer – je kleiner die verbleibende Zeit ist, desto schneller scheint sie zu vergehen. Der Tod schließlich ist die Singularität, auf die das Altern zurast.

Was ist Zeit?[*]

Zeit gehört zu den Grundbedingungen der menschlichen Existenz. Wenngleich wir mit ihr auch im Alltag auf vielfältige Weise konfrontiert sind, stößt man auf große Schwierigkeiten zu sagen, was Zeit ist. So formulierte Augustinus:

„Und ich bekenne es dir, o Herr, daß ich immer noch nicht weiß, was die Zeit ist […]“ (Augustinus, Bekenntnisse (11. Buch), S. 311)

Augustinus betonte, dass Zeit zwar zu den uns vertrauten Begriffen gehöre, doch unsere Vorstellung von dem, was Zeit eigentlich sei, im Dunkeln bleibe:

„Wir reden von Zeit und Zeit, von Zeiten und Zeiten und sprechen: „Wie lange hat er gelebt?“ „Wann hat er das getan?“ „Wie lange habe ich das schon nicht mehr gesehen?“ „Diese Silbe da dauert doppelt so lange wie jene kurze.“ So sagen wir, und so hören wir andere sagen; man versteht uns, und wir verstehen selbst. Es sind ganz gewöhnliche und gebräuchliche Dinge, und doch sind sie wiederum ganz dunkel, und die Lösung des Rätsels ist noch nicht gefunden.“ (Augustinus, Bekenntnisse (11. Buch), S. 309)

Zudem weist der Zeitbegriff, wie Augustinus zeigte, eine „antinomische Natur“ auf:

„Wenn es also eine Zukunft und eine Vergangenheit gibt, so möchte ich gern wissen, wo sie sind. Kann ich das auch noch nicht, so weiß ich doch, daß, wo sie auch sein mögen, sie dort nicht Zukunft oder Vergangenheit sind, sondern Gegenwart. Denn wäre die Zukunft dort auch Zukunft, so könnte sie dort noch nicht sein; wäre die Vergangenheit dort auch Vergangenheit, so wäre sie dort nicht mehr.“ (Augustinus, Bekenntnisse (11. Buch), S. 306)

Dieser Hinweis auf die widersprüchliche und subjektive Natur der Zeit bereitet eine philosophische Diskussion vor, die mit Kant einen Höhepunkt erreichte und bis heute nichts an Dringlichkeit verloren hat: Ist die Wirklichkeit selbst zeitlich verfasst oder können wir die Wirklichkeit (wie Kant lehrt) erst erfassen, wenn unser Bewusstsein die Sinneseindrücke zeitlich strukturiert? Doch das Bewusstsein ist selbst ein Evolutionsprodukt. Wie sollte sich aber die Evolution vollziehen, läge ihr nicht bereits die Zeit zugrunde?

Die Zeit erweist sich als vielschichtiger Begriff. Sie tritt uns entgegen als physikalischer Parameter, als Form der Wahrnehmung, als biologischer Rhythmus, als soziales Phänomen im Sinne einer kollektiven Zeitbestimmung. Zeit ist einerseits objektiv, andererseits enthüllt sie mit Formulierungen wie „Augenblick“, „Moment“, „wie im Fluge vergehen“, „gefühlte Ewigkeit“, „kurz- oder langweilig“ usw. ihre zutiefst subjektive Innenseite. Der subjektive Aspekt der Zeit kann eben nicht auf die physikalische Zeit zurückgeführt werden (vgl. Herrmann, 2016, S. 10).

Der Zeitpfeil

Das uns vertraute Geschehen hat eine Richtung. Man spricht deshalb auch vom Zeitpfeil. Was geschieht, wenn dieser Zeitpfeil umgekehrt wird, zeigt sich, wenn man einen Film rückwärtsspult. Erstaunlicherweise werden die fundamentalen Gesetze der Physik (abgesehen von ex­trem seltenen und makroskopisch nicht in Erscheinung tretenden quantenmechanischen Effekten) bei einer Zeitumkehr nicht verletzt. Interessanterweise lässt sich die Richtung der Zeit auf der Ebene der fundamentalen Gesetze der Physik nicht wiederfinden. Ebenso gibt es auch keinen Zeitpunkt, der sich als Jetzt fixieren ließe. Das Jetzt hat keine physikalische Grundlage, es ist vielmehr ein Bewusstseinsakt (vgl. Herrmann, 2016, S. 18).

Zeitreisen

Es ist ein alter Menschheitstraum: Die Macht zu haben über die Zeit und damit auch über die Geschichte. Dies führt notwendigerweise zu Paradoxien. Diese beflügeln die Fantasie und bieten zugleich Stoff für skurrile Geschichten. Wells’ Roman Die Zeitmaschine (1895) steht am Anfang einer Fülle von Science-Fiction-Literatur, die sich dem Thema der Zeitreisen widmet.

Wir müssen zwischen zweierlei Typen von Zeitreisen entscheiden: Reisen in die Zukunft und Reisen in die Vergangenheit.

Reisen in die Zukunft

Ein Ergebnis von Einsteins Spezieller Relativitätstheorie (1905) ist, dass die Zeit im bewegten System für einen außerhalb des Systems befindlichen Beobachter langsamer verläuft, sie dehnt sich also. Dieser Effekt wird als Zeitdilatation bezeichnet.

Unter Bezug auf die Zeitdilatation wurde das sogenannte Zwillingsparadoxon formuliert. Man stelle sich folgende Geschichte vor: Ein Zwillingspaar – nennen wir sie Max und Sepp – verfügt über zwei gleich gebaute und synchronisierte Uhren. Max reist mit einem Raumschiff, das Geschwindigkeiten in der Nähe der Lichtge­schwindigkeit erreicht, von der Erde fort und kehrt nach einer bestimmten Zeit zur Erde zurück. Max und Sepp vergleichen danach ihre Uhren und stellen fest, dass Max’ Zeit langsamer vergangen ist als die von Sepp. Dies mag auch insofern erstaunen, als doch nach der SRT alle Inertialsysteme gleichberechtigt sind. Dies trifft zu, doch musste Max bei seiner Reise Beschleunigungs- und Bremsmanöver durchführen, weshalb die beiden Bezugssysteme eben doch nicht gleichberechtigt sind. Max ist in der Tat jünger geblieben. Er ist also quasi in die Zukunft gereist.

Dieser Effekt ist empirisch gut bestätigt. Mit seiner Hilfe lässt sich etwa erklären, wieso die (sich mit beinahe Lichtgeschwindigkeit bewegenden) Myonen, die in der Erdatmosphäre aufgrund der kosmischen Strahlung oder der Höhenstrahlung entstehen, eine wesentlich größere Strecke zurücklegen (ca. 38 km), als ihre Lebensdauer von ca. 2,7 10-6 s erwarten lässt (ca. 600 m) (vgl. Herrmann, 2016, S. 24).

Reisen in die Vergangenheit

Wie steht es um die – gewiss viel interessanteren – Reisen in die Vergangenheit? Was „sagen“ die Gesetze der Physik zum Thema der Reisen in die Vergangenheit?

Versteht man darunter Vergangenheitsreisen in dem Sinne, dass Rückkehr zu einem früheren Ereignis soll, eröffnet sich ein großes Spektrum absurder Effekte. Was wäre, wenn wir verhinderten, dass sich unsere Eltern jemals begegneten, oder wenn wir unseren Großvater töteten (Großvater-Paradoxon)? Was wäre, wenn wir uns selbst begegneten und als ein und dieselbe Person im Alter von 20 und 50 Jahren gemeinsam durch die Stadt spazieren würden? Was wäre gewesen, wenn ein in die Vergangenheit gereister Arzt den Tod Mozarts verhindert hätte und Mozart sein Requiem hätte selbst noch vollenden können? Solche Szenarien widersprechen unserer kausalen Intuition.

Es drohen zudem logische Widersprüche. Im Falle des aus der Zukunft zu Mozart herbeigeeilten Arztes wären dies etwa folgende: „Mozart ist am 5. Dezember 1791 in Wien gestorben“ und „Mozart ist nicht am 5. Dezember 1791 in Wien gestorben“ oder „Mozart hat sein Requiem nicht mehr selbst vollendet“ und „Mozart hat sein Requiem selbst vollendet“.

Mit einer nicht minder paradoxen Konsequenz spielt Robert Heinlein in seiner Erzählung „By his Bootstraps“, wo jemand eine Geschlechtsumwandlung vornehmen lässt, in die Vergangenheit reist und mit sich selbst schläft und sich selbst zeugt.

Zeitreisen sind zudem mit Informationsparadoxa verbunden. Der Physiker Paul Davies erwähnt folgendes Beispiel: Ein Professor, der ins Jahr 2000 reist, notiert sich aus einem Journal Informationen über ein neues Theorem. Nach seiner Rückkehr ins Jahr 1998 publiziert er das Theorem in genau jenem Journal, das er im Jahre 2000 durchgesehen hat. Es erhebt sich die Frage nach der Herkunft der Information. Sie kann weder vom Professor stammen, der sie im Journal gelesen hat, noch von irgendeinem anderen (vgl. Davis, 1998, S. 30).

Vergangenheitsreisen und die Physik

Paradoxerweise verstößt eine Zeitumkehr zwar gegen kein physikalisches Gesetz, sie würde aber zu einer Kausalverletzung führen. Mittlerweile sind etliche physikalische Mechanismen bekannt, die zumindest eine theoretische Option für eine Reise in die Vergangenheit darstellen. Hierzu gehören:

  • Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit
  • Tiplers rotierender Zylinder
  • Der Gödelkosmos
  • Der Anti-de-Sitter-Kosmos
  • Wurmlöcher
  • Kosmische Strings (vgl. Herrmann, 2016, S. 27ff.)

Aber bei all diesen Optionen wird auf Bedingungen zurückgegriffen, die in unserem Kosmos entweder nicht erfüllt sind, sich nicht erfüllen lassen oder aber die betreffenden Objekte sind instabil. Zudem muss angemerkt werden, dass man mit einer Zeitmaschine nur bis zum Zeitpunkt zurückreisen könnte, an dem die Zeitmaschine erfunden wurde. Plausibler erscheint es dagegen anzunehmen, dass Konsistenzbedingungen so wirken, dass Reisen in die Vergangenheit grundsätzlich nicht möglich sind. Hawking vermutet, es sei ein Prinzip wirksam, wonach bei realen Raum-Zeiten immer nur solche Raum-Zeit-Krümmungen verwirklicht sind, bei denen sich eine konsistente Geschichte ergibt (principle of consistent histories) (vgl. Hawking/Mlodinow, 2005, S. 135). Irgendwie scheinen die Naturgesetze so zusammenzuwirken, dass verhindert wird, dass makroskopische Körper Information in die Vergangenheit tragen können (vgl. Hawking/Mlodinow, 2005, S. 136). Jeder Versuch, eine Zeitmaschine zu bauen, scheint dadurch vereitelt zu werden, dass das Gebilde (so etwa ein Wurmloch) zerstört wird, bevor es zur Zeitmaschine wird. Doch auch das ist eine bislang unbestätigte Hypothese, es spricht allerdings anscheinend viel dafür (vgl. Herrmann, 2016, S. 47).


Literatur

Augustinus: Bekenntnisse (11. Buch). In: Gadamer, H.-G. (Hg.): Philosophisches Lesebuch, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1989.

Davies, P.: Paradox lost. In: New Scientist, vol. 157, No. 2126, 21.3.1998, S. 26–30, hier S. 30.

Hawking, St./Mlodinow, L.: Die kürzeste Geschichte der Zeit. Deutsch von Hainer Kober, Hamburg 2005.

Herrmann, K.: Vor dem Starten ankommen. Über Zeitreisen und Warp-Antriebe. Chemnitz 2016. (https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:ch1-qucosa-203188)

Wüthrich, Chr.: Zeitreisen und Zeitmaschinen. In Thomas Müller (ed.), Philosophie der Zeit: Neue analytische Ansätze, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2007, S. 191–219.


Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Kay HerrmannStudium der Physik und Forschungsstudium der Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehramt für die Fächer Physik und Mathematik an Oberschulen beim Sächsischen Landesamt für Schule und Bildung, 2011 Habilitation (Privatdozent, venia legendi) im Fach Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz, seit 2019 Außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz und seit 2020 Fachausbildungsleiter für Physik an der Lehrerausbildungsstätte des Landesamtes für Schule und Bildung in Chemnitz.


[*] Grundlage der folgenden Abschnitte ist der Text „Herrmann, K.: Vor dem Starten ankommen. Über Zeitreisen und Warp-Antriebe. Chemnitz 2016“, der stellenweise unverändert übernommen wird.

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