21 Jul

Successful ageing – eine Tugend? Anfragen aus der Frühen Neuzeit

Von Daniel Schäfer (Köln)


Ist Altern womöglich ein Vorgang mit moralischen Implikationen? Für eine Epoche wie die Frühe Neuzeit war das offensichtlich, wie Beispiele aus der Medizin und der Moraltheologie zeigen. Mein Ziel ist es zu überlegen, inwieweit solche historischen, normativen Vorstellungen mit dem modernen gerontologischen Konzept des Sucessful ageing vergleichbar sind.

Alter(n) aus Sicht der modernen Gerontologie und Geriatrie

Alterungsvorgänge sind aus Sicht der modernen Gerontologie und Geriatrie multifaktoriell bedingt: Neben genetischen und Umwelteinflüssen, Krankheiten und Ernährung gelten inzwischen auch sozialer und psychischer Stress als wesentliche Ursachen für rasches Altern. Angesichts dieser vielfältigen Ätiologie wird in der medizinischen Forschung biologisches Altern (ähnlich wie Gesundheit) auch als ein individueller Vorgang angesehen, der bis zu einem gewissen Grad beeinflusst werden kann, beispielsweise durch Ernährung und Lebensgestaltung. Gleichwohl wird die – eigentlich naheliegende – moralische Überlegung, dass viele Menschen für ihren früheren oder späteren Alterungsprozess und auch für die Qualität ihres Alterns ein Stückweit selbst verantwortlich sind, nur selten explizit geäußert – am ehesten findet sich das Argument eines verantworteten Alterns noch in der präventiven Anti-Ageing-Medizin.

Vielen Menschen erscheint Altern jedoch immer noch als ein schicksalshafter, lebenslanger Vorgang, den man hinnehmen muss, aber nicht aktiv steuert. Allerdings fasst das seit den 1980er Jahren populäre Motto „Erfolgreich altern“ (successful ageing) multidisziplinär nicht nur Bedingungen zusammen, unter denen Altern zu einem insgesamt positiven Prozess sich entwickeln kann (nach Jopp 2002: Adaptation an biologische, psychologische und soziale Veränderungen im Alter, Kompensation bzw. Coping der entsprechenden Stressoren), sondern er impliziert auch, dass damit für die Einzelnen Aufgaben verbunden sind: Erfolg ist in unserer Leistungsgesellschaft meist Folge von Einsatz und Leistung.

Alter(n) im Kontext der vormodernen Medizin

Dass gutes Altern – übrigens genauso wie Gesundheit – eine Tugend sein könnte und damit im weiteren Sinne auch eine individuelle oder gesellschaftspolitische Aufgabe, war in früheren Epochen wesentlich geläufiger. Gerontologische Themen wurden in der frühneuzeitlichen Medizin schon lange, bevor es die Begriffe Gerontologie und Geriatrie gab, systematisch abgehandelt. In den einschlägigen normativen Schriften findet sich eine Vielzahl möglicher Faktoren für früheres oder späteres Altern. Die Medizin versuchte also, ähnlich wie heute, das Rätsel des unterschiedlichen Alterns individuell und multifaktoriell zu erklären.

Dabei spielten moralische Argumente im Kontext des zeitgenössischen Tugend- und Lasterdiskurses zumindest indirekt eine Rolle: Altern ist zwar unausweichlich, aber keinesfalls ein ausschließlich kontingent ablaufendes Ereignis, sondern Ergebnis einer Fülle teils kontingenter, teils planbarer Umstände vor und nach der Geburt sowie der selbstgewählten Lebensweise. Doch mit der knappen Benennung der beeinflussbaren Faktoren (die sich weitgehend aus dem Bereich der Diätetik, also der richtigen Lebensweise speisen) verbanden die geriatrischen Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts in der Regel keine unmittelbare Aufforderung, das Verhalten zu ändern.

Es fällt nun auf, überrascht aber angesichts des moralisch-didaktischen Programms der europäischen Aufklärung auch wiederum nicht, dass Ärzte im 18. Jahrhundert deutlicher als früher auf die Selbstverantwortung für das Altern hinweisen. Zwei Dissertationen aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts thematisieren explizit die Gründe für vorzeitiges Altern:

Johann Heinrich Buihring nennt 1765 als wichtige Faktoren vorzeitigen Alterns eine „üppigere Lebensweise, zu ausgiebiger Müßiggang, zu viel Arbeit/Mühe, ein Missbrauch der Geschlechtslust sowie das Durchleiden vieler Krankheiten“ und qualifiziert einen Teil dieser caussas [!] obendrein als morales unter Einbezug verschiedener Laster: eine sitzende Lebensweise, nächtliches Wachsein, fortwährendes tiefsinniges Nachdenken, Kummer, Neid, Zorn und Habgier. Und darüber hinaus verweist Karl Narziss Premauer 1782 auf den schädlichen Einfluss von Spirituosen: In Schweden seien in denselben Landstrichen, in denen früher siebzigjährige Großväter behende gearbeitet hätten, nun schon Fünfzigjährige vom Gebrauch des Getreideschnapses entkräftet.

Ein moralphilosophisches Gegenprogramm zum medizinischen Konzept der Altersdefekte

Angesichts der überwiegend negativen, weil auf körperliche und geistige Defekte fokussierenden Alterskonzepte in der frühneuzeitlichen Medizin – Premauer spricht explizit von einer tragoedia senectus – wirkt ein moralphilosophisches Gegenprogramm, welches kurz vor 1600 propagiert  und bis weit in das 17. Jahrhundert rezipiert wurde, auf den ersten Blick erstaunlich. Aber wenn man die Autorschaft und den kulturhistorischen Kontext der Entstehung betrachtet, lässt sich der Entwurf leicht einordnen und seine moralischen Implikationen besser verstehen.

Der greise Bologneser Kirchenrechtler und Kardinal Gab­riele Paleotti (1522–97) gab 1595 einen umfangreichen Traktat über das „Gut des Alters“ (De bono senectutis) in den Druck. Das Autorprofil passt in mehrfacher Hinsicht zu dem gewählten Thema: Alte Menschen schreiben zumindest in der Frühen Neuzeit häufiger als jüngere über Altersfragen, Juristen positiver als etwa Ärzte, und die vor al­lem nach Anciennität strukturierte Hierarchie des Klerus kann generell als beson­ders altersfreundlich gelten.

Was genau ist für Paleotti und seine Zeitgenossen ein Bonum? Primär rekur­riert der Universitätsgelehrte auf die aristotelisch-thomistische Definition: Ein Gut ist demnach etwas, was seiner eigenen „Form“ entspricht; beim Menschen bedeu­tet das: ein Zustand, der mit der ratio („Vernunft“ als wichtigstes forma­les Kennzeichen des Menschlichen) in Einklang steht und daher ange­strebt wird. Ein menschliches Gut muss also nicht unbedingt „gut“ im Sinne von angenehm oder gefällig sein, wohl aber „vernunftgemäß“. Und so fordert der Autor von vornherein, dass ein Bonum senectutis auch für alte Menschen gel­ten soll, denen es körperlich oder seelisch nicht „gut“ geht, also zum Beispiel auch für Bettlägerige (languentes), die Paleotti immer wieder anspricht. Der Titel des Trak­tats meint also kein Oxymoron, verbindet nicht Gegenteiliges (ob­wohl dieses Stilmittel mit­schwingt), sondern zielt auf eine mit Hilfe der Vernunft zu erkennende und anzustre­bende reale Möglichkeit ab.

Aus rationaler Sicht ist das Bonum senectutis nicht mit dem absolut Guten (im Diesseits unerreichbar) identisch und auch keineswegs bei allen alten Men­schen in gleichem Maße vorhanden. Denn das Gut des Alters ist kein Ge­schenk der Natur, sondern eine Frage des menschlichen Willens, der Wahl. Gleichwohl ist aus den genannten Gründen kein anderes Lebensalter da­für so geeignet, „ehrenvoll zu leben, Tugenden zu kultivieren und an der menschlichen Natur, die mit Vernunft begabt ist, schicklich zu arbeiten“. Diese knappe Definition des Bonum um­reißt – im Unterschied zum guten Alter (bona senectus), das mit Lang­lebig­keit, körperlicher und geistiger Gesundheit konnotiert wird – nicht einen äußerli­chen Zustand, sondern ein generelles moralisches und religiöses Ziel, dessen sukzessives Erreichen sich freilich an konkreten „Ernteerträgen“ (fruc­tus messis) erkennen lässt.

Aus dem zeitgenössischen christlichen Kontext her­aus erwartet Paleotti, dass Schwäche und Krank­heiten, wie sie für das Al­ter typisch sind, Tugenden fördern. Zwar sei allen Lebensaltern gemeinsam, dass mit Mühe und Eifer, in Gedanken und Taten nach Tugend gestrebt wer­den muss. Allein das Greisenalter zeichnet sich aber vor den ersten bei­den Lebensaltern dadurch aus, dass auch Früchte dieser Haltung geerntet und genossen werden können: Unter dem fortwährenden Einfluss der Tu­gend ist das Alter fruchtbar (Ps. 91/92,15; im Kontrast zur physiologi­schen Sterilität des Alters) und wie ein Feld zur Ernte reif.

Einordnung in den historischen Kontext und den moralphilosophischen Diskurs

Es bereitet aus heutiger Sicht keine großen Schwierigkeiten, das frühneuzeitliche Modell des Bonum senectutis für obsolet zu erklären. In spät­scholasti­scher Manier wählt sein Schöpfer fast beliebig und weit­schweifig antike und mittelalterli­che Quellen als autoritative Belege für normative Behauptun­gen über den idealtypischen Greis aus, ohne auf die (auch damals schon existierende) reale Vielfalt des Alters und alter Menschen (zum Beispiel Frauen!) nä­her einzugehen. Holzschnittartig werden drei Altersstufen miteinander vergli­chen bzw. gegeneinander geführt. Der – in der Frühen Neuzeit allerdings kaum hinter­fragte – starre Tugend- und Lasterdiskurs dient als universelle Folie für alle Lebensbereiche und wirkt mit seinen Vorgaben und Forderungen ausgespro­chen elitär, auch wenn der Text an einzelnen Stellen nicht gebil­dete Personen in den Blick nimmt. Überhaupt kommt das Mo­dell ohne religiöse Vorannahmen (zum Beispiel christliche Normen, die Schwäche in Stärke umdeuten, Leiden teleologisch aufwerten und eine jenseitige Beloh­nung als letztgültige Begründung diesseitigen Verhaltens implementie­ren) nicht aus. Damit eng verknüpft ist eine Dominanz des Geistig-Geistli­chen über körperliche Schwächen; dement­sprechend findet die Möglichkeit geistiger Defizite im Alter kaum Erwähnung.

Die hier kurz vorgestellten Texte medizinischer und geistlicher Herkunft belegen die eingangs formulierte These, dass frühneuzeitliche Autoren moralische Mitverantwortung für Alterungsprozesse mittelbar oder unmittelbar ansprechen. Doch über diese Moralisierung hinaus entwickelte der Kirchenrechtler Paleotti mit seinem Bonum senectutis eine neue Dimension der Altersbewertung, die den traditionellen Dualismus zwischen Alterslob und -tadel teilweise überwindet und die Option eröffnet, Alter per se als eine potenziell von Tugend geprägte Lebensphase zu betrachten. Ungeachtet der skizzierten Schwächen seiner Darlegung wirkt dieses Konzept auf den ersten Blick wie eine Vorwegnahme des modernen successful ageing, bei genauerem Hinsehen aber eher wie ein Gegenmodell dazu.

Vergleich mit Successful-Ageing-Konzepten

Lässt man die religiösen und philosophischen Rahmenbedingungen von Paleottis Modell beiseite, so geht es in seinem Kern um eine Umdeutung des Alters: Der Blick soll weg von (keineswegs geleugneten) Defektzuständen hin zu den Gewinnen („Früchten“) gelenkt werden, die in dieser Lebensphase zu „ernten“ sind. Dazu ist aber eine praktisch lebenslange Vorbereitung im Sinne einer Einübung von Tugend notwendig, die (nach Aristoteles) nicht angeboren, sondern zu erwerben ist.

successful ageing verfolgt zum Teil eine ähnliche Strategie. Inzwischen gibt es viele Modelle „erfolgreichen Alterns“, die sich je nach zugrundeliegender Disziplin und Methode deutlich voneinander unterscheiden (im Folgenden nach Bowling/Dieppe 2005):

(1.) Biomedizinische Modelle gehen bei erfolgreichem Altern ex negativo von fehlender Krankheit und Gebrechen aus; mit einem entsprechend hohen Gesundheitslevel verbinden sie physisches und mentales „Funktionieren“ (functioning) sowie sekundär Unabhängigkeit, Mobilität und soziale Einbindung bzw. Engagement. Rowe und Kahn (1998) unterscheiden sogar explizit „normales“ Altern mit zunehmenden Einschränkungen vom successful ageing, bei dem impairments (wenigstens weitgehend) fehlen.

(2.) Psychosoziale Modelle fokussieren gegenüber den biomedizinischen auf Lebenszufriedenheit, soziale Teilhabe, bestimmte psychologische Eigenschaften und Ressourcen (z.B. Autonomie, Kontrolle, Selbstachtung und -wahrnehmung, Fähigkeit zu Adaptation und Bewältigung, Zielorientiertheit) sowie ein Wachsen in der Persönlichkeit (personal growth).

(3.) Bei Umfragen unter Laien nach den Kennzeichen von erfolgreichem Altern wurden außerdem positiv besetzte Umstände und Eigenschaften wie Lebensbewältigung, Nahrungsgenuss, finanzielle Sicherheit, gelingende Nachbarschaftlichkeit, gutes körperliches Erscheinungsbild, Sinn für Humor, Zweckempfinden und Spiritualität genannt. Gleichzeitig wurde bei den Erhebungen der letzten zehn Jahre deutlich, dass Altern auch unter sehr unterschiedlichen Umständen subjektiv als gelungen interpretiert und dass die Einschätzung der genannten Faktoren von sozioökonomischer Schicht, Rasse, Geschlecht, Kultur etc. stark beeinflusst wird.

Paleotti würde biomedizinisch gelingendes Altern und auch die meisten von Laien genannten Faktoren wohl eher als „gutes Altern“ (senectus bona, d.h. Altern unter äußerlich günstigen Umständen) apostrophieren; diesen Zustand unterscheidet er deutlich vom Bonum senectutis, bei dem ja (im Sinne „normalen Alterns“) körperliche Einschränkungen durchaus möglich sind. Insbesondere Krankheitsvermeidung und Förderung von Gesundheit lassen sich in seinem frühneuzeitlichen Traktat nicht nachweisen. Bei den psychosozialen Merkmalen für successful ageing gibt es hingegen deutliche Überschneidungen zum Bonum senectutis: Erfahrung, gesellschaftliche Anerkennung (Würde und Autorität) und Teilhabe durch Engagement sowie Humor (Lachen über sich selbst) gehören in beiden Konzepten dazu; insbesondere aber das Wachsen der Persönlichkeit als Charakteristikum erfolgreichen Alterns scheint kongruent zu Paleottis stark ausdifferenzierter Fruchtmetapher zu sein.

Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass diese Parallelen nur äußerlich bei einigen Eigenschaften, gewissermaßen Sekundärtugenden, vorliegen, die Unterschiede zwischen den Konzepten aber gravierend sind:

  • Paleotti geht explizit von einer lebenslangen Einübung bestimmter Tugenden aus, einem willentlich gesteuerten dynamischen Wachstum bestimmter Eigenschaften und dem konsequenten Vermeiden entgegengesetzter Laster. Dagegen thematisieren psychosoziale Modelle des successful ageing nicht die Ursachen für die Herausbildung bestimmter positiver Merkmale, sondern analysieren lediglich den Status quo.
  • Gerade weil Ursachen nicht thematisiert werden, dominieren in den psychosozialen Modellen (im Unterschied zu den medizinischen) kontingente (zufallsgesteuerte) Elemente. Bestenfalls ist erfolgreiches Altern keine lebenslange, sondern eine situative Aufgabe des alten Menschen. Paleotti betont demgegenüber, dass auch bei widrigen Umständen ein Bonum senectutis möglich sei, da der Wille zu einer zielführenden Lebensweise entscheidend sei.
  • Die Betonung des Rationalen (im Sinne einer Basis menschlichen Seins und Handelns) als Voraussetzung für das Bonum ist nur mit einem Teil der successful ageing-Merkmale (z.B. Autonomie/Kontrolle) kompatibel.

Conclusio: Frag-würdige moralische Dimensionen des Alter(n)s

Die hier äußerst kursorisch vorgestellten und interpretierten frühneuzeitlichen Alterskonzepte passen aufgrund ihrer spezifischen sozialhistorischen Kontextualisierungen und ihrer moralischen Implikationen nicht in unsere komplexen und individualisierten Vorstellungen von Altersprozes­sen und -realitäten. Insofern eignen sie sich keinesfalls als aktuelles Modell für gutes Altern etwa im Sinne eines successful ageing. Vielmehr bilden sie historische Fremdkörper, an denen wir uns reiben können. Sympathisch an ihnen ist, dass sie ohne Anti-Ageing-Visionen auskommen, die das Altern möglichst negieren oder durch strapaziöse Selbstoptimierungen ungesche­hen machen wollen. Speziell das Bonum senectutis Paleottis fordert keine äußere Verände­rung der Situation oder Aktivität alter Menschen, sondern lädt ein zu einer Umdeu­tung der bestehenden Zustände unter Berücksichtigung von immaterieller Lebensleistung und -qualität.

Bemerkenswert an den frühneuzeitlichen medizinischen Konzepten ist, dass ihnen zufolge Gesundheit wie auch gesundes Al­ter in der Ära der selbst verantworteten Lebensregel (Diäte­tik) nicht (nur) Zufall, sondern (auch) Ergebnis einer lebenslangen Beachtung von Ordnungen sind; umgekehrt wer­den Krankheiten häufig auf Feh­ler in der Lebensweise zurückgeführt. Dass diese Einschätzung einseitig die Last fehlender Gesundheit den Kranken und Alten aufbürdet, erkannten kritische Geister wie Friedrich Hebbel schon im frühen 19. Jahrhundert. In einem (häufig missverstandenen) Bonmot beantwortete er Frage „Was ist Tugend?“ mit der ironischen Antwort „Ein schöner Name für das einfachste Ding: Gesundheit.“ Wer gesund ist, hat es demnach leicht, tugendhaft zu sein oder zu wirken – er oder sie hat alles richtig gemacht. Kranke und Alte stehen dagegen unter dem Generalverdacht eines nicht gesundheitskonformen Lebenswandels. Doch im Blick auf viele sogenannte Zivilisati­ons- oder Wohlstandskrankheiten und deren selbstverantwortete Risikofaktoren könnte dieses einstige Modell von der Gesundheit als Tugend wieder aktuell werden, auch wenn man den Umstand heute anders benennt: beispielsweise rationale Wahrnehmung von Gesundheitskompetenz (health lite­racy).

Paleottis Vision hingegen ist es, sich lebens­lang moralisch für das Alter zu rüsten und es positiv als Zeit zu begrei­fen, in der der Wert der Tugend sich auszahlt. Auf diese Weise kann ihm zufolge so etwas wie „Alterskompetenz“ entstehen; das „Gut des Alters“ wäre dann das Ergebnis von Arbeit an der eigenen Persönlichkeit und damit Teil des lebenslangen Lernens. Als Ergeb­nis vernunftgesteuerter Arbeit an der menschlichen Natur wäre das Bonum senectutis durchaus anschlussfä­hig an moderne Konzepte der Entwicklungs­psychologie und der kogniti­ven Verhaltenstherapie.

Doch ist es heute noch nachvollzieh­bar, dass ein von Jugend an „tugendhaftes Verhalten“ eine wichtige Voraussetzung für gutes Altern bildet, indem Einstellungen eingeübt wer­den, die später – wie auch immer – „Frucht tragen“? Abgesehen von der materiellen Altersvorsorge (Rentenversicherung!) leuchtet das Argument am ehesten für den (möglichst frühen) Erwerb von Schlüsselkompetenzen ein: Lesen, Rechnen, Kommunizieren, Netz­wer­ken, aber auch das Bedienen von Informations- und Assistenzsystemen aller Art sind heutzutage wichtige Voraussetzungen, ein komplexes Leben auch im Alter zu meistern. Aber Paleottis frühneuzeitliche Forderungen zielen eher auf moralische Schlüsselkompetenzen, die wir hinterfragen müssen: „Zahlt“ es sich für das Al­ter aus, sich in Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, aber auch in der Bereitschaft, Hilfe zu suchen und anzunehmen, etc. zu üben? Kann man den konstruktiven Umgang mit eigenen und fremden Schicksals­schlägen, der im Alter vermutlich wichtiger wird, trainieren? Angesichts der Pluralität von Lebensentwürfen und -zielen ist eine allgemeingültige Antwort auf kei­nen Fall möglich.


Anmerkung: Dieser Blogbeitrag fasst äußerst knapp einen demnächst erscheinenden Buchbeitrag (s.u. Schäfer 2020) zusammen; weitere Analysen, Argumentationen und Belege sind dort nachzulesen.


Daniel Schäfer (apl. Prof. Dr. Dr.) arbeitet als Medizinhistoriker am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität zu Köln. Seine historischen Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Alter(n) und Tod, Frauen- und Kinderheilkunde sowie Gesundheitskonzepte.


Literatur

Paleotti, Gabriele (1595): De bono senectutis. Romae: Ex typographia Aloysij Zanetti. https://books.google.de/books/download/De_bono_senectutis.pdf?id=NvekXNEzCAEC&hl=de&output=pdf&sig=ACfU3U0uJFE716mbgQv5-KlpsJ_7bwhbmw [22.4.20]

Schäfer, Daniel (2004): Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase. Frankfurt/M.: Campus Verlag.

Schäfer, Daniel (2020): „Gutes Alter(n) als Tugend? Medizinische und theologisch-philosophische Impulse aus der Frühen Neuzeit. In: Gadebusch, Mariacarla/Kaiser, Christian/Förg, Manuel (Hgg.) : Menschennatur in Zeiten des Umbruchs. Das Ideal des „politischen“ Arztes in der Frühen Neuzeit. Berlin: De Gruyter, 2020 (im Druck; Kapitel-DOI: 10.1515/9783110612349-007).

Wahl, Hans-Werner (2015): „Erfolgreiches Altern, nein danke! Der Leistungsdruck sollte nicht auch noch die letzten Lebensjahre bestimmen.“ [SWR 2 Manuskript der Sendung Aula vom 6.9.15], https://www.swr.de/-/id=15688800/property=download/nid=660374/uu9dek/swr2-wissen-20150906.pdf [22.04.2020]

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