Chancengleichheit und Armut
Dieser Blogbeitrag bezieht sich auf einen ausführlichen Beitrag im neuen Handbuch Philosophie und Armut, welches im April 2021 bei J.B. Metzler erschienen ist.
Von Marcel Twele (Bern)
Die Begriffe „Armut“ und „Chancengleichheit“ lassen verschiedene Interpretationen zu. Umfasst Armut nur das Entbehren absoluter Güter (wie eine nahrhafte Ernährung) oder auch positionaler Güter (wie gesellschaftliche Anerkennung)? Haben Menschen bereits dann gleiche Chancen, wenn sie, ohne diskriminiert zu werden, mit allen anderen um vorteilhafte gesellschaftliche Positionen wetteifern können, oder erfordert Chancengleicheit einen Ausgleich sozial- oder gar genetisch ungleicher Ausgangsbedingungen, womöglich bereits im Kindesalter (oder früher)? Dies ist mehr als ein Streit um Worte, denn viele Menschen glauben, dass wir Gründe haben, Armut zu bekämpfen und Chancenungleichheit zu verringern. Doch auch hier ist man sich keinesfalls einig: Manche sehen Handlungsbedarf hinsichtlich keines oder nur eines der beiden Phänomene. Diejenigen, die sowohl ein (moralisches bzw. politisches) Prinzip der Beseitigung von Armut (im Folgenden „Suffizienzprinzip“) als auch ein Prinzip der Chancengleichheit akzeptieren, können zudem unterschiedlicher Ansicht darüber sein, was von beiden im Konfliktfall Vorrag hat.
In diesem Blogbeitrag möchte ich sechs verschiedene Positionen vorstellen, die man mit Blick auf die Existenz und das Verhältnis dieser zwei Prinzipien einnehmen kann und die sich auch in der philosophischen Fachliteratur wiederfinden: i) Chancen ohne Suffizienz, ii) Suffizienz vor Chancen, iii) Chancen vor Suffizienz, iv) Abwägung von Chancen und Suffizienz v) Suffizienz ohne Chancen und vi) weder Chancen, noch Suffizienz.
i) Chancen ohne Suffizienz
Gemäß dieser Position sollte sich eine Gesellschaft mit der Herstellung von Chancengleichheit begnügen, anstatt sich um Armut zu sorgen. Es wird zwar nicht ausgeschlossen, dass Armut zu verhindern ist, wenn und weil sie zu ungleichen Chancen führt; dann aber handelt es sich nicht um ein unabhängiges, sondern bloß um ein „derivatives“ moralisches Anliegen. Sobald Chancengleichheit erst einmal hergestellt ist, so ein mögliches Argument für diese Position, sei Armut zu tolerieren (oder gar gutzuheißen), denn sie sei darauf zurückzuführen, dass einige Gesellschaftsmitglieder weniger aus ihren (gleichen) Chancen gemacht haben als andere. Armut wird damit als das Ergebnis freiwilliger Entscheidungen angesehen und den Betroffenen selbst zugeschrieben (Vgl. Rakowski 1993).
Die Plausibilität dieses Argumentes hängt stark von der genauen Formulierung des Chancenprinzips ab: Nur wenn es sich um effektive Chancen und nicht etwa um Chancen wie bei einer Lotterie handelt, können alle Individuen für ihre Armut verantwortlich gemacht werden. Andernfalls wäre pures Glück/Pech im Spiel. Auch macht es einen Unterschied, ob das Chancenprinzip soziale und biologische Benachteiligungen berücksichtigt. Nur so wäre gewährleistet, dass Armut das Resultat eigener Entscheidungen ist. Während biologische Veranlagung und von manchen auch soziale Herkunft als Grundlage ungleicher Chancen akzeptiert werden (Vgl. Miller 1999), sind nur wenige der Ansicht, dass von diesen Faktoren abhängen soll, ob ein Mensch in Armut lebt oder nicht. Ferner hängt die Plausibilität des Argumentes davon ab, in welchem Maße Chancengleichheit tatsächlich realisiert ist. Solange es einer Gesellschaft nicht gelingt, hinreichende Chancengleichheit für alle zu sichern, es ihr aber möglich wäre, ein bestimmtes Suffizienzlevel zu gewährleisten, so liegt es nahe, dass die Pflicht besteht dies auch zu tun.
ii) Suffizienz vor Chancengleichheit
Chancengleichheit und Suffizienz sind beide von grundlegender Bedeutung, aber das Suffizienzprinzip ist dem Prinzip der Chancengleichheit (streng) vorgeordnet. Das Chancenprinzip um ein Suffizienzprinzip zu ergänzen, liegt für viele auf der Hand: Nicht nur ist wichtig, dass Menschen die gleichen Chancen haben, zusätzlich soll auch niemand Not leiden oder in elenden Verhältnissen leben (Shue 1980; White 2003). Auch ist es eine verbreitete Ansicht, dass das Suffizienzprinzip Priorität genießen soll: Zunächst einmal ist wichtig, dass es niemandem am Nötigsten mangelt. Erst „danach“ sollten wir uns um andere Ideale, wie das der Chancengleichheit, sorgen. Die meisten Suffizientaristen glauben zudem, dass der durch das Suffizienzprinzip garantierte Anspruch bedingungslos gilt und es daher auch keine Rolle spielt, ob und in welchem Maße die Armut das Ergebnis eigenverantwortlicher Entscheidungen ist. Denn auch wenn es wichtig ist, dass Menschen die Folgen ihrer Entscheidungen selbst tragen, gebiete es die Menschlichkeit Not und Elend auch derjenigen zu verhindern, deren Lage selbstverschuldet ist (Vgl. Anderson 1999). Oberhalb der Suffizienzschwelle gilt gemäß der hiesigen Positon das Prinzip der gleichen Chancen, weshalb Ergebnisungleichheiten oberhalb der Schwelle (bei Gewährleistung des Chancenprinzips) zu akzeptieren sind.
iii) Chancengleichheit vor Suffizienz
Chancengleichheit und Suffizienz sind beide von grundlegender Bedeutung, aber das Prinzip der Chancengleichheit ist dem Prinzip der Suffizienz (streng) vorgeordnet. Diese Position ist ungewöhnlich und wird nicht oft vertreten. Eine gewisse Ähnlichkeit lässt sich jedoch zur Position von Rawls feststellen, für den das Prinzip der Chancengleichheit absolute Priorität vor seinem Differenzprinzip genießt. Letzteres zielt darauf ab, dass es den schlechtestgestellten Gesellschaftsmitgliedern – gemessen in Einkommen und Vermögen – so gut wie möglich geht (Rawls 1971). Anders als das Suffizienzprinzip kennt das Differenzprinzip keine Obergrenze, es erfüllt aber mitunter eine ähnliche Funktion: Indem es gewährleistet, dass die schlechtestgestellten Gesellschaftsmitglieder über so viel Geld wie möglich verfügen, schützt es diese gleichzeitig vor (monetärer) Armut. Entscheidend für den Vergleich mit der hiesigen Position ist, dass Rawls dem Chancenprinzip strikten Vorrang gegenüber dem Differenzprinzip und damit auch (da er kein zusätzliches Suffizienzprinzip akzeptiert) gegenüber der Bekämpfung von Armut einräumt. Gegen Rawls wurde eingewendet, dass die strenge Priorisierung von Chancengleichheit gegenüber dem Differenzprinzip keineswegs unseren Intuitionen entspricht (Arneson 1999). Ein analoger Einwand lässt sich gegen die Priorisierung des Chancenprinzips gegenüber einem Suffizienzprinzip vorbringen: Wären wir wirklich bereit, im Konfliktfall ein Leben in Armut zu führen, um dadurch unsere Chancen auf vorteilhafte gesellschaftliche Positionen zu erhöhen?
iv) Abwägung von Chancen und Suffizienz
Philosoph*innen, welche keinem der zwei Prinzipien strikte Priorität einräumen möchten, können die Position vertreten, dass es sich sowohl beim Chancenprinzip als auch beim Suffizienzprinzip um grundlegende Prinzipien handelt, denen allerdings bloß ein sogenannter pro tanto Status zukommt, d.h., dass beide Prinzipien auf bestimmte Weise zu gewichten und miteinander abzuwägen wären.
v) Suffizienz ohne Chancen
Gemäß dieser Position komme es ausschließlich darauf an, dass niemand unter eine bestimmte Suffizienzschwelle fällt (Frankfurt 1987). Auf Chancengleichheit könne dagegen verzichtet werden. Was die Vertreter*innen dieser Position motiviert, ist häufig eine generelle Ablehnung des Egalitarismus: Es gehe nicht darum, wie wir im Vergleich zu anderen, sondern darum, wie wir in „absoluter“ Hinsicht dastehen. Doch auch Rawls Differenzprinzip, welches – anders als ein striktes egalitaristisches Prinzip – ebenfalls um die absolute Stellung (der Schlechtestgestellten) besorgt ist, wird auf der Grundlage zurückgewiesen, dass es einen Punkt gäbe, ab dem man „gut genug“ dasteht und keine (moralischen/politischen) Ansprüche auf eine Verbesserung geltend machen kann. Theoretiker*innen, die ein Suffizienzprinzip zum einzigen Prinzip der Moral oder der Gerechtigkeit erklären, setzen die Suffizienzschwelle zumeist höher an als die Armutsgrenze, da eine Theorie, die uns ausschließlich den Anspruch zuspricht, nicht in Armut leben zu müssen, höchst unplausibel ist.
vi) Weder Chancen, noch Suffiziez
Der Vollständigkeit halber muss angemerkt werden, dass es normative politische Theorien gibt, die weder ein Chancenprinzip noch ein Suffizienzprinzip enthalten. Besonders strenge Formen des Libertarismus nehmen bspw. an, dass die einzige legitime Aufgabe des Staates in der Sicherung vorinstitutioneller Eigentumsrechte besteht (Vgl. Nozick 1974). Eine Verteilungssituation, die auf rechtmäßige Weise (d.h. für den Libertären: ohne die Verletzung von Eigentumsrechten) zustande gekommen ist, darf nicht durch staatliche Umverteilungsmaßnahmen verändert werden. Dies gilt selbst dann, wenn die Umverteilung zu mehr Chancengleichheit oder zur Verringerung von Armut führen würde. Zwar können auch Libertarier*innen der Ansicht sein, dass es sich hierbei um wünschenswerte Ideale handelt, die Realisierung dieser Ideale müsse jedoch auf freiwilliger Basis geschehen und dürfe daher nicht durch den Staat erzwungen werden.
Fazit und persönliche Einschätzung
Armut und Chancengleichheit gehören zu den zentralen Gegenständen der Politischen Philosophie. Es herrscht jedoch Uneinigkeit, nicht nur begrifflicher Art, sondern auch darüber, ob der Staat (finale) Gründe hat, etwas gegen Armut und ungleiche Chancen zu unternehmen und in welchem Verhältnis diese Gründe zueinander stehen. Ich habe hier einen skizzenhaften Überblick über verschiedene mögliche Positionen gegeben und (z.T.) angedeutet, was für und was gegen diese sprechen könnte. Jede der Positionen kann um beliebige andere Prinzipien – wie bspw. ein liberalen Prinzip gleicher politischer Freiheiten – ergänzt werden, weshalb sich ein Urteil hinsichtlich der Plausibilität der einzelnen Positionen letztlich nur im Kontext einer vollständigen politischen Theorie fällen lässt.
Persönlich halte ich eine Position für attraktiv, welche den schlechtestgestellten Gesellschaftsmitgliedern starke Priorität einräumt, ohne dabei an einer bestimmten Suffizienzschwelle Halt zu machen. Die so zu verteilende Güter sollen jeden Menschen in die Lage versetzen nicht nur ein „anständiges“, sondern das beste Leben zu führen, welches mit den Ansprüchen aller anderen Menschen auf ein ebenso gutes Leben vereinbar ist. Armutsbekämpfung wäre hier bereits inbegriffen und auch jene Güter, die gewöhnlich „chancen-vermittelt“ verteilt werden (wie sinnstiftende und anerkannte Arbeit), würden Berücksichtigung finden. Um der Idee der Eigenverantwortung Rechnung zu tragen, könnte man oberhalb einer bestimmten Schwelle zulassen, dass Menschen manche ihrer (weniger wichtigen) Freiheiten durch unkluge Entscheidungen auch verlieren können. Da man aber nicht für sozial- und biologisch bedingte Faktoren verantwortlich gemacht werden sollte, ist unklar, ob ein solches „Verantwortungskriterium“ für die Praxis wirklich einen Unterschied macht. Die von mir präferierte Position scheint mir Vieles zu verbinden, was wir an den Prinzipien der Chancengleichheit und der Suffizienz schätzen und zugleich einige ihrer Schwächen zu vermeiden.
Marcel Twele ist Assistent am Institut für Philosophie der Universität Bern. Die letzten drei Jahre war er Assistent und Doktorand an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er an seiner Dissertation zur Gerechtigkeit der Erbschaftssteuer schrieb. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Distributive Gerechtigkeit, Egalitarismus, Theorien des Wohlergehens, Erbschaftssteuer und Wirtschaftsphilosophie.
Literatur
Anderson, Elizabeth 1999: „What is the point of equality?“. Ethics, Vol. 109, No.2 (Jan.1999), 287-337.
Arneson, Richard J. 1999: „Against Rawlsian Equality of Opportunity“, Philosophical Studies 93, 77-120.
Frankfurt, Harry 1987: „Equality as a Moral Ideal“, Ethics, Vol.98, No.1, 21-43.
Miller, David 1999: Principles of Social Justice, Cambridge, Harvard University Press.
Nozick, Robert [1974] 2013: Anarchy, State, And Utopia. New York: Basic Books.
Rakowski, Eric 1993: Equal Justice. New York: Oxford University Press.
Rawls, John [1971] 1999: A Theory of Justice, revised edition, Cambridge, Harvard University Press.
Shue, Henry 1980: Basic Rights: Subsistence, Affluence And U.S. Foreign Policy, New Jersey:
Princeton University Press.
White, Stuart 2003: The civic Minimum: On the Rights and Obligations of Economic Citizenship, Oxford, Oxford University Press.