„Monetäre Armut“: die Details hinter diesem Armutsbegriff
von Stefan Angel (WU Wien) und Karin Heitzmann (WU Wien)
Dieser Blogbeitrag bezieht sich auf einen ausführlichen Beitrag im neuen Handbuch Philosophie und Armut, welches im April 2021 bei J.B. Metzler erschienen ist.
Die Frage, wie Armut definiert und gemessen werden kann ist nicht nur ein wissenschaftliches oder statistisches „Problem“, sondern auch eine höchst politische Angelegenheit. „Monetäre“ Armut ist nur eine, aber eine relativ weitverbreitete Möglichkeit, um Armut zu erfassen. Dieser Blogbeitrag beleuchtet die Details hinter diesem Armutsbegriff, was er ermöglicht und was er ausblendet.
„Monetäre“ Armut ist nur eine von mehreren Möglichkeiten, um Armut zu erfassen.
Über Armut zu forschen, und damit auch Armut zu messen, ist ein schwieriges Unterfangen, auch weil es sich bei „Armut“ um ein Konzept handelt, das – z.B. in der Alltagssprache – unterschiedliche Bedeutungen aufweisen kann: „(…) die arme Alleinerziehende, die altersarme türkische Migrantin, der bildungsarme männliche Jugendliche, der durch die Bankenkrise verarmte Banker oder die verschuldete Familie im Eigenheim (…)“. Im Kern deutet der Begriff an, dass bei den „Armen“ die Zugehörigkeit zu den Mindeststandards in einer Gesellschaft verloren gegangen oder zumindest bedroht ist. Dadurch ist die Frage, wie Armut definiert und gemessen wird, nicht nur ein wissenschaftliches oder statistisches „Problem“, sondern auch eine höchst politische Angelegenheit.
Im Fokus steht zunächst die Frage, ob zur Armutsfeststellung die tatsächliche Lebenssituation von Menschen erfasst werden soll (also etwa, ob die Menge an Nahrungsmitteln, die zum Überleben notwendig ist, einem Haushalt auch tatsächlich zur Verfügung steht), oder ob Rückschlüsse auf die Lebenssituation auch auf Grundlage der verfügbaren Ressourcen (also ob genügend Geld für den Kauf dieser Lebensmittel vorhanden ist) abgeleitet werden können.
Monetäre Armut kann entweder auf das Einkommen oder auf den Konsum fokussieren. Mit Einkommen werden alle Geldressourcen bezeichnet, die in einen Haushalt fließen (z. B. Arbeitseinkommen, Kapitaleinkommen, Sozialtransfers). Das Vermögen wird demgegenüber nicht berücksichtigt, weil es eine Bestandsgröße ist. Oft wird auch der in Geld ausgedrückte Wert von erhaltenen Sach- bzw. Dienstleistungen bzw. von der Haushaltsproduktion hinzugerechnet. Prinzipiell stellen „Einkommen“ in einem Haushalt das mögliche Konsumpotenzial dar, nicht jedoch die realisierten Konsumentscheidungen. Einkommensarmut wird deshalb oft als „indirekte“ monetäre Armut bezeichnet.
Forschende und Statistiker*innen müssen methodische Entscheidungen treffen.
Um das Ausmaß von Armut in einer Bevölkerung zu quantifizieren, müssen auf mehreren Ebenen Entscheidungen getroffen werden.
1) Auf welche Art von Ressourcen wollen wir unser Augenmerk legen? (Einkommen bzw. Geldwert von Ressourcen? Anzahl bestimmter Güter? Konsummenge? Dichte Sozialer Netzwerke?).
2) Sollen wir nur eine Ressource berücksichtigen oder eine Kombination unterschiedlicher Ressourcen?
3) Wo wollen wir die Schwelle festlegen, ab der jemand als arm oder nicht-arm gilt? (Soll die Schwelle regional/global festgelegt sein, zeit(un)gebunden?).
4) Soll Armut für Einzelpersonen oder Haushalte berechnet werden? Wie teilen wir Haushaltseinkommen auf Haushaltsmitglieder auf?
5) Wie aggregieren wir die (oft: Stichproben-)Ergebnisse und berechnen eine Armutsquote für eine Population?
Entscheidungen zu diesen Fragen beeinflussen maßgeblich welche Armutszahl am Ende herauskommt und sollten immer transparent gemacht werden.
Zur Popularität des monetären Armutsbegriffes.
Bereits Georg Simmel weist in seiner „Philosophie des Geldes“ (1900) darauf hin, dass Geld, weil es auf quantitative Maßstäbe reduziert ist, dazu beiträgt, die Beziehungen zwischen den Menschen zu verobjektivieren und individuelle Unterschiede zu verschleiern. Einkommen stellt in einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft nicht nur für die „Armutsgefährdeten“ eine besondere Art der Ressource darstellt, sondern auch für die Nicht-Armutsgefährdeten. So wird auch das Phänomen des Reichtums in erster Linie monetär betrachtet, genauso wie das Wirtschaftswachstum durch einen singulären Indikator letztlich lediglich monetär (als Bruttoinlandsprodukt) ausgewiesen wird.
In der Praxis bedarf es zur empirischen Quantifizierung zweier Schritte. Erstens der Identifikation der Armen auf individueller Ebene und zweitens der Aufsummierung aller Armen zur Berechnung der Armutsquote in der Gesamtbevölkerung. Beides lässt sich mit vorhandenen Einkommensdaten der nationalen Statistischen Ämter und durch die Verwendung relativ simpler methodischer Verfahren gut erfüllen. Für DatenproduzentInnen gibt es auf internationaler Ebene sehr detaillierte Empfehlungen (z.B. UNECE 2011). Im Europäischen Statistischen System (Eurostat) werden methodische Entscheidungen größtenteils von ExpertInnengremien getroffen, in denen sowohl Mitglieder aus der Forschung, transnationalen Organisationen (UNO) und nationalen Statistikämtern repräsentiert sind.
Für langfristige Betrachtungen ergibt sich zudem eine gewisse Pfadabhängigkeit. Zumindest in Europa wurden die ersten über Länder hinweg vergleichbaren Armutszahlen (seit Mitte der 1990er Jahre) auf Basis von Haushaltseinkommen berechnet. Allein die Fortführung dieser Zeitreihen verlangt weiterhin – zumindest auch – nach monetären Armutsindikatoren. Gleichzeitig ist durch diese langjährige Produktion von Einkommensdaten viel methodisches und konzeptionelles Wissen zur monetären Armut aufgebaut wurden.
Es sind nicht zuletzt diese Voraussetzungen, die dem monetären Armutskonzept v.a. auch in Europa zu großer Popularität verholfen haben. Trotz der Bemühungen, neben der Armutsgefährdung noch weitere Indikatoren zur Beschreibung einer benachteiligten Lebenslage zu erheben und zu publizieren, scheint die Debatte zur Armut aber durch den singulären Indikator der Einkommensarmut dominiert zu sein.
Wo Geld als Indikator für die Messung von Armut an Grenzen stößt.
Zunächst muss daran erinnert werden, dass es sich bei der monetären Armut lediglich um eine indirekte und eindimensionale Herangehensweise zur Illustration von Armut handelt und damit einer Problemlage, die sich – allein schon im Alltagsverständnis – als eine multidimensionale und komplexe Benachteiligung darstellt und daher durch einen einfachen Ressourcenansatz ohnehin bestenfalls näherungsweise erfasst werden kann.
Wenn wir die Wohlfahrt von Personen im Fokus haben, geht es fast immer um die Frage, welche Ziele und Bedürfnisse mit Geld erreicht werden können. Nicht jedes Bedürfnis eines Individuums kann durch den Einsatz von eigenem Geld erfüllt werden. Entweder es gibt keinen Zugang zu Gütern (z.B. Ernteausfall) oder keinen Markt für das Bedürfnis (z. B. Freundschaft), oder die Erfüllung des Bedürfnisses hängt auch von anderen Personen oder Institutionen, wie etwa dem Wohlfahrtstaat, ab (z. B. saubere Atemluft, Sicherheitsgefühl bei Pandemien, Zugang zu Naherholungsräumen und Bildungsinstitutionen). All diese Faktoren bestimmen im Vergleich von Gesellschaften und Zeiträumen, wie sehr ein zusätzlicher Geldtransfer Armut vermindern kann. So macht es eben einen Unterschied, ob ein Transfer von 1000 Geldeinheiten in Gesellschaft A gegeben wird, mit schwachen Bildungsinstitutionen, hoher Kriminalität, zerstörter Umwelt oder in Gesellschaft B, mit exzellenten Bildungsinstitutionen, niedriger Kriminalität, intakter Umwelt, obwohl dieser Transfer möglicherweise jeweils dieselbe Zahl von Personen über die Armutsschwelle hebt und die Statistik gleichermaßen verbessert.
Aus sozialphilosophischer Sicht ergibt sich also immer auch die Frage, wer bei einer Umverteilung zum Bezugspunkt gemacht werden soll bzw. wie der Kompromiss zwischen Ungleichheit und Armut entschieden werden soll. Nehmen wir zwei Gesellschaften (A und B) mit einer existenten Verteilung zwischen jeweils drei Personen an: A: (1,1,1) und B: (2,3,10). In B herrscht einerseits eine ungleichere Verteilung als in A, andererseits ist das Einkommen jeder Person in B größer als in A. Wenn wir ausschließlich den Wohlstand der Ärmsten zum Bezugspunkt machen (Differenzprinzip nach John Rawls), würde B demnach A vorgezogen werden. Dadurch wird aber gleichzeitig mehr Ungleichheit in Kauf genommen. Noch allgemeiner ergibt sich für die öffentliche Berichterstattung in den Medien aber auch für die Zielfunktion der PolitikerInnen immer die Frage, welches Armutskonzept (Einkommensarmut oder andere) in den Mittelpunkt gerückt werden soll.
Schließlich weisen einige AutorInnen auch darauf hin, dass Geld neben seinen klassischen ökonomischen Funktionen (Recheneinheitsfunktion, Wertspeicherfunktion, Tauschfunktion) auch ein kulturelles Symbol mit unterschiedlichen Bedeutungen für Individuen ist. Wird z. B. ein niedrigeres Einkommen der Frau im PartnerInnenhaushalt als zusätzliches Geld („Zusatzverdienst“) oder als qualitativ gleichwertiger Bestandteil des Haushaltseinkommens betrachtet? Ein Haushaltseinkommen mag zwar über der Armutsschwelle liegen, aber einzelne Personen können unterschiedlich viel dazu beigetragen haben und dadurch in Abhängigkeitsverhältnisse kommen. Darüber hinaus hat derselbe Geldfluss nachweislich unterschiedliche Bedeutungen, je nachdem ob er geerbt, gestohlen, am Arbeitsmarkt verdient, oder im Casino gewonnen wurde. Wer „Almosen“ erhält, mag sich dadurch erst recht arm fühlen.
Dr. Stefan Angel, Studium der Sozioökonomie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre, ist Post-Doc Mitarbeiter am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien und am Forschungsinstitut für Verteilungsfragen (INEQ) der WU Wien. Er forscht zu verschiedenen Aspekten sozialer Ungleichheit in Europa, insbesondere Verschuldung, Financial Literacy, Einkommen, Wohnbedingungen. Er untersucht Erklärungsfaktoren und Konsequenzen von sozialen Ungleichheiten auf diesen Dimensionen sowie den Erklärungsbeitrag von Institutionen des Wohlfahrtsstaates.
Karin Heitzmann ist ao.Univ.Profin am Institut für Sozialpolitik der WU und leitet gemeinsam mit Wilfried Altzinger das Forschungsinstitut für Verteilungsfragen (INEQ). In ihrer Forschungsarbeit beschäftigt sie sich mit der Analyse (der Zukunft) von Sozialstaaten und mit Fragen zur Verteilung, insb. zur Armut und sozialen Ausgrenzung.