Warum ein demokratischer Rechtsstaat Armut nicht tolerieren darf
Dieser Blogbeitrag bezieht sich auf einen ausführlichen Beitrag im neuen Handbuch Philosophie und Armut, welches im April 2021 bei J.B. Metzler erschienen ist.
von Eva Maria Maier (Wien)
Einleitung: Armut und Pandemie
Gerade die aktuelle Krise illustriert eindringlich, dass wachsende Armut und Arbeitslosigkeit nicht nur ökonomische Wachstumsraten gefährden, sondern selbst die demokratische Kultur etablierter Rechtsstaaten vor gravierende Herausforderungen stellen. Vor allem rückt die Pandemie-Ausnahmesituation neue Armutsfallen und neue Formen der sozialen Exklusion in den Fokus staatlicher Verantwortung. Generell müssen Armutsbekämpfung und soziale Sicherheit als genuine Aufgaben demokratischer Rechtsstaatlichkeit begriffen werden. Insbesondere sind Armut und Ausgrenzung mit dem fundamentalen Prinzip der Menschenwürde unvereinbar.
Gegen den wachsenden neoliberalen Trend der vergangenen Jahrzehnte sind aktuell neue Erwartungen an aktiven rechtlichen Interventionismus entstanden, insbesondere zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und anderer Formen psycho-sozialer Ausgrenzung. Dennoch liegt der Schwerpunkt häufig im Bereich kurzfristiger oder einmaliger Leistungen zur Erhaltung der Liquidität von Unternehmen. Ins Abseits regulatorischer Aufmerksamkeit gerät jedoch die Verstärkung bereits bestehender struktureller Armutsfallen durch die Krise. Dabei handelt es sich um jene Armutssituationen, die bereits durch den rezenten Rückbau des klassischen „unterstützenden“ Sozialstaats vermehrt zur Bedrohung für breitere Bevölkerungsschichten wurden, wie Langzeitarbeitslosigkeit, die Abhängigkeit von bloßen Fürsorgeleistungen (zur Mindestsicherung), prekäre Arbeitsverhältnisse, Bildungsarmut oder kulturelle Exklusion.
Soziale Sicherheit als Staatsaufgabe? Von der „Disziplinierung“ der Armen zum Sozialversicherungsstaat
Wie wird die staatliche Pflicht, Armut und Exklusion gegenzusteuern, begründet?
Von Anfang an gehört die rechtliche Bekämpfung von Armut zu den Aufgaben des modernen Staates. Sie leitet sich ursprünglich von der umfassenden Staatspflicht der Garantie öffentlicher Sicherheit ab – die eben das Konzept des Staates ab dem Beginn der Neuzeit prägt.
Nicht um die Unterstützung der Armen ging es freilich ursprünglich, sondern um die Bekämpfung des „Müßiggangs“, etwa durch Verbote von Betteln und Almosengeben, ja durch die Einrichtung von Arbeitshäusern. Der Armengesetzgebung kommt mindestens bis zum 19. Jh primär eine disziplinierend-repressive Rolle zu – Aspekte, die sich auch heute noch in modernen Bettelverboten abbilden. Auf das Arbeitsethos von Reformation und Aufklärung geht weiters die Unterscheidung in „würdige“, nämlich arbeitsunfähige, und „unwürdige“, nämlich „arbeitsunwillige“, Arme zurück.
Erst die Ausbildung moderner Sozialstaatlichkeit ab der Mitte des 20. Jh vollzieht auf der Grundlage eines umfassenden Ethos der Menschenrechte einen grundlegenden Richtungswechsel, der die rechtliche und soziale Inklusion aller Bevölkerungsteile in ein System sozialer Sicherheit als zentrale Staatsaufgabe begreift.
Den institutionellen Kern des modernen Sozialstaats bildet das System gesetzlicher solidarischer Sozialversicherung. Diese dient der Abwehr typischer sozialer Lebensrisiken, die Armut verursachen können, wie Erkrankung, Unfall, Arbeitslosigkeit und altersbedingte Erwerbsunfähigkeit. Damit hat sich der Fokus gesetzlicher Armutsbekämpfung vom Modell paternalistischer Armenhilfe für Randgruppen zu jenem einer – auf möglichst breite Bevölkerungsteile ausgerichteten – Solidargemeinschaft verschoben.
Diese Versicherungsleistungen zur solidarischen Daseinsvorsorge werden notwendig durch Institutionen leistungsunabhängiger Grundsicherung ergänzt (wie „Hartz IV“ in Deutschland oder „Sozialhilfe neu/Mindestsicherung“ in Österreich), die nach dem „Fürsorge- bzw. Bedürfnisprinzip“ organisiert sind. Als problematisch muss freilich der zunehmende Trend zum Rückbau von Versicherungsleistungen (Arbeitslosengeld) zu Gunsten von Zuwendungen nach dem Fürsorgeprinzip („Hartz IV“, „Sozialhilfe neu“) verstanden werden. Dies führt zur Zurückdrängung von erworbenen, grundrechtlich fundierten Rechtsansprüchen zu Gunsten paternalistischer Fürsorgemaßnahmen.
Armut und Sozialstaatlichkeit
Generell richtet sich die Gewichtung und Organisation von Sozialleistungen auch nach dem konkreten Modell von Sozialstaatlichkeit, für das selbst in modernen Wohlfahrtsstaaten eine Pluralität unterschiedlicher Konzeptionen existiert. Dabei bilden liberale Konzeptionen einerseits und sozialdemokratisch-universalistische Modelle andererseits die beiden entgegengesetzten Positionen dieser Bandbreite.
So bestehen liberale Sozialstaatstheorien – wie besonders am Beispiel der USA eindringlich ablesbar – auf der Trennung von Staat und Gesellschaft. In der Folge werden Sozialleistungen primär als Gebot der Moral verstanden, die im Rahmen privaten und zivilgesellschaftlichen Engagements wahrgenommen werden, nicht hingegen als Aufgabe von Staat und Recht. Staatliche Transferleistungen stehen vielmehr unter dem Verdacht, durch die damit verbundenen Steuerlasten übermäßig in die Freiheit der Bürger*innen einzugreifen.
Demgegenüber zielen sozialdemokratisch-universalistische Modelle – exemplarisch umgesetzt in skandinavischen Ländern – auf die umfassende Verwirklichung sozialer Chancengleichheit durch aktive Steuerungsmaßnahmen und Transferleistungen. Es gilt, Vollbeschäftigung und soziale Gleichheit auf einem relativ hohen Niveau zu sichern sowie die Bürger*innen vor strukturellen und ökonomischen Armutsrisiken zu schützen.
In den meisten europäischen Staaten wurden freilich Mischsysteme unterschiedlicher Modelle umgesetzt. Insgesamt konnte sich dabei ab den 1960er Jahren das Modell des „unterstützenden“ Sozialstaats durchsetzen, der aktiv soziale Chancengleichheit zu gewährleisten sucht.
Vom „aktiven“ zum „aktivierenden“ Sozialstaat? Von der sozialen Sicherheit zur „Eigenverantwortlichkeit“?
Ab der Mitte der 1990er Jahren wird freilich europaweit und in den USA der Umbau des „aktiven“ zum „aktivierenden“ Sozialstaat betrieben – vom „welfare“- zum „workfare-state“. Dies hat weitreichende Konsequenzen für gesetzliche Maßnahmen zur Armutsbekämpfung. Den Ausgangspunkt bildet die sukzessive Unterordnung der Sozialpolitik unter einseitig ökonomische Modelle der Leistungssteigerung, vor allem die nationale „Industriestandortsicherheit“. Dies führt einerseits zum Trend der „Verschlankung“ sozialstaatlicher Garantien. Besonders kennzeichnend ist aber die sozialpolitische Wende von der Orientierung am Grundsatz der sozialen Sicherheit zu jenem der sogen. „Eigenverantwortlichkeit“.
Damit ist nicht zuletzt ein Trend der „Moralisierung“ von Armut und Arbeitslosigkeit verbunden, der gar an die frühmoderne Unterscheidung von „würdigen“ und „unwürdigen“ Armenerinnert. Erneut wird vor allem auf die Kriterien von „Selbstverschuldetheit“ bzw. „Leistungsbereitschaft“ abgestellt. Das zeigt sich etwa in der rechtlichen Bindung von Sozialleistungen an die Erfüllung bestimmter Bedingungen, wie etwa den Aufweis qualifizierter Sprachkenntnisse, und in der verstärkten Verankerung von Leistungsanreizen.
Daneben zeigen sich Entwicklungen, Fördermaßnahmen nicht durch direkte Transferleistungen, sondern durch die Einräumung von Steuervorteilen zu gewähren. Das schließt aber gerade die Bedürftigsten von vornherein aus, da diese auf Grund ihres geringen Einkommens und geringerer Steuerpflichten eben keine oder kaum Steuerabschreibmöglichkeiten nützen können.
Ein weiteres Merkmal des „neuen“ Sozialstaats wurde bereits angesprochen: Komplementär zu dieser zunehmenden Orientierung an der „Leistungsgerechtigkeit“ verschiebt sich dennoch im Bereich elementarer Bedarfssicherung sukzessive der Schwerpunkt von Sozialversicherungsleistungen (etwa Arbeitslosengeld) hin zu bloßen Fürsorgemaßnahmen (wie z. B. „Hartz IV“) nach dem Bedürfnisprinzip. Dieser Trend führt freilich zur zunehmenden Degradierung von Anspruchsberechtigten zu Almosenempfänger*innen. Ja damit wird der Umbau des „‘Sozialversicherungsstaates für alle‘ zu einem Fürsorgestaat“[i], ja zum „Suppenküchenstaat“[ii] vorangetrieben.
Armut und Menschenwürde
Kann nun Armut als Menschenrechtsverletzung verstanden werden? Vor allem, wie verhalten sich etwa Armut und das grundlegende Rechtsprinzip der Menschenwürde?
Der Grundsatz der Menschenwürde fordert die gleiche Anerkennung der Freiheit jedes Menschen, seine Achtung als Vernunftsubjekt und damit als „Zweck an sich selbst“[iii]. Dies schließt insbesondere die Degradierung zum „Objekt“ und daher alle Formen überwiegender Instrumentalisierung eines Menschen aus. Als unbedingtes Prinzip ist die Menschenwürde nicht etwa durch Leistungskriterien zu relativieren. Sie steht auch allen Versuchen einer Kategorisierung in „würdige“ und „unwürdige“ Arme entgegen.
In der Bedrohung der Menschenwürde durch Armut kommt vor allem die spezifisch leiblich-materielle Seite menschlicher Freiheit zur Sprache. Fehlt es an ausreichenden ökonomischen Mitteln, wird dadurch der Verwirklichungsraum der Freiheit konkret eingeschränkt. Geht es dabei um die mangelnde Sicherung elementarster Grundbedürfnisse, führt dies auch einen Qualitätssprung in der Einschränkung menschlicher Selbstbestimmung herbei. Denn Armut schafft ein Maß an einseitigen und dominierenden Abhängigkeiten, die den Status des Menschen als „Zweck an sich selbst“ in der Tat in Frage stellen. Dies geschieht, indem sie die gesamte Existenz einer fortwährenden umfassenden Instrumentalisierung durch ökonomische Zwänge unterwerfen. Auch ist diese Instrumentalisierung real unausweichlich, da es eben um die Infragestellung elementarer Lebensbedingungen geht. Sie degradiert so den Menschen zum bloßen Spielball und Objekt nackter Existenzsorgen einerseits und fremder „Mildtätigkeit“ andererseits.[iv]
Insbesondere materielle und kulturelle Ausgrenzungssituationen führen weiters zur Marginalisierung am Arbeitsmarkt und als Folge davon zum Ausschluss von wesentlichen Praktiken der gesellschaftlichen Partizipation und Integration. Darin manifestiert sich daher auch ein konkretes Defizit an sozialer Akzeptanz, das einen Widerspruch zum Anspruch gegenseitiger und gleicher Achtung darstellt, wie er aus dem Begriff der Menschenwürde hervorgeht.
Eva Maria Maier ist Professorin am Institut für Rechtsphilosophie der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören politische Philosophie, angewandte Rechtsethik (v.a. Menschenrechtsethik, philosophische Armutsforschung sowie Umwelt- und Tierethik), Demokratietheorie und Strafrechtsphilosophie.
[i] C. Butterwegge, Rechtfertigung, Maßnahmen und Folgen einer neoliberalen (Sozial-)Politik, in: C. Butterwegge/B. Lösch/R. Ptak (Hrsg.), Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 20173, 180.
[ii] Butterwegge, 2017, 178.
[iii] Kant, GMS, A 429.
[iv] Vgl. E. M. Maier, Recht und Armut, in: G. Schweiger/C. Sedmak (Hrsg.), Handbuch Philosophie und Armut, Berlin 2021, 368–369.