Bausteine einer Ethik der Krise angesichts des COVID-19-Ausnahmezustandes
Von Helmut P. Gaisbauer (Salzburg)
Außergewöhnliche Zeiten verlangen nach außergewöhnlichen Antworten. Derzeit durchleben wir eine globale humanitäre Krise, die uns alle gleichzeitig bedrängt und bedroht. Wir kennen ihren Beginn und bisherigen Verlauf; wir wissen aber noch nicht, wann wir als nationalstaatliche Gemeinschaft, wann als gesamte Menschheit diese Krise meistern werden. Und noch ist ebenso wenig absehbar, welche psychischen, ökonomischen und sozialen Folgen diese Krise zeitigen wird. Der Ausnahmezustand wird noch andauern; er wird sein Gesicht ändern. Und wir werden ihm eine neue Ethik des Ausnahmezustandes abringen müssen. Dies nicht zuletzt deswegen, weil die COVID-19-Krise zwar die Klimakrise aus der Wahrnehmung gedrängt hat, diese aber weiterhin fortschreitet und Antworten auf ethisch zunehmend schwieriger werdende Fragen verlangt. Auch dafür können wir aus der gegenwärtigen Pandemie lernen.
Was macht also eine gute Ethik des Ausnahmezustands aus und welche Art von ethischem Denken sollte uns leiten, wenn wir für die COVID-19-Pandemie eine neue Krisenethik entwickeln? Der britische Philosoph und Humanitätsforscher Hugo Slim vom Oxford Institute for Ethics, Law and Armed Conflict legte erst kürzlich überzeugende Erwägungen zu dieser Frage vor, die hier bedacht und ergänzt werden sollen.
Eine Ethik des Ausnahmezustandes muss Handhabe bieten, schwierige Entscheidungen zu verantworten. In Zeiten der Krise müssen unterschiedliche Rechte und Pflichten in Einklang gebracht werden. Ebenso fordern sie überdurchschnittlichen Einsatz mancher Gruppen und beträchtliche Opferbereitschaft von vielen. Erfreulicherweise zeigt sich, so Slim, dass wir Menschen dazu neigen, in medizinischen und offensichtlich auch gesellschaftlichen Notfällen ethischer zu handeln als gewöhnlich. Diese Erfahrung der Humanität dürfen wir auch derzeit machen, sowohl was individuelles Verhalten betrifft, als auch als Gemeinschaft. Wir mögen einen Anflug von Panik kennen (beim ersten Einkauf in der Krise) und auch Angst um unsere Angehörigen haben, aber tief im Inneren wissen wir auch, dass jetzt Zeit für besonnenes und korrektes – eben ethisches – Verhalten ist. Und eine Zeit, um Tugenden hervorzukehren, die ein wenig unter dem Staub des Alltags abgelegen sein mögen, sittlich wertvolle Eigenschaften wie Freundlichkeit, Menschlichkeit, Courage, Selbstlosigkeit und Engagement für andere und das Gemeinwohl.
Slim hebt vier Bereiche hervor, auf die wir uns für eine neue Ethik der Krise im Besonderen konzentrieren müssen. Sie sollen hier besprochen, ergänzt und um eine fünfte Perspektive bereichert werden.
Erstens zeigt sich, dass es in Notfällen nicht nur um Menschenrechte geht, sondern auch um menschliche Pflichten. So verlangt die gegenwärtige Krise von uns, einige unserer Rechte – auf Freizügigkeit, Familienleben und wirtschaftliche Ansprüche – aufzugeben, um andere zu schützen.
In Notfällen kollidieren individuelle Rechte schmerzhaft, und der bisher ethisch schwierigste Aspekt der COVID-19-Pandemie besteht darin, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Recht auf Leben und sozioökonomischen Rechten zu finden. Viele Menschen leiden unter den Maßnahmen, die notwendig sind, um verletzlichere Andere zu schützen. Wir stehen gemeinsam in der Pflicht, diese Maßnahmen als Preis für gerettete Leben zu akzeptieren, aber wir müssen auch zu einem ethischen Urteil darüber kommen, wieviel Schaden wir dabei auf uns nehmen sollen. Dazu müssen Wege gefunden werden, um die schlimmsten Auswirkungen der Einschränkungen zu mildern. Dabei tut jedenfalls auch ein Blick auf die am meisten verwundbaren Menschen not, wie sich im dritten Punkt noch näher herausstellen wird.
Dies erfordert gute Führung, was der zweite wesentliche Baustein einer Ethik der Krise ist. Das Richtige zur richtigen Zeit zu tun ist alles andere als einfach. Sich rund um die Uhr in den Dienst der Gemeinschaft stellen und schwerwiegende Entscheidungen über Leben, Tod, Gesundheitssysteme und wirtschaftliche Verluste zu treffen, ist keine Kleinigkeit. Dafür gebührt den verantwortlichen politischen Führungskräften und ihren Beraterstäben unser ungeteilter Respekt. Max Weber hat am Ende einer tragischen Kriegszeit 1919 in seiner berühmten Rede „Politik als Beruf“ angesichts der schwierigen Aufgaben als Kerneigenschaften guter Führung Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß hervorgehoben. Dazu würden wir aus heutiger Perspektive Integrität ergänzen. Denn Ausnahmezustände verlangen nach ethisch sicheren Führungskräften, die gut kommunizieren, eine klare moralische Vorstellung davon haben, was am besten ist, und bereit sind, ihre Politik bei Bedarf auch schnell zu ändern. Dies bedeutet auf Erfahrungen ebenso zu hören wie auf statistische Expertise und klar, ehrlich und faktenbasiert sowie regelmäßig zu kommunizieren. Gute Führung baut in Krisenzeiten auf Vertrauen. Eine möglichst präzise Bestandsaufnahme der Situation und die klare Kommunikation der möglichen Folgen sind ebenso vertrauensbildend wie die regelmäßigen Hinweise auf den Ernst der Lage, dies aber ohne Verwendung von Begriffen aus dem Repertoire der Kriegsberichterstattung. Gute Krisenmanager an der Spitze unserer Regierungen zeigen, dass sie das Heft des Handelns in der Hand halten und zurecht unser Vertrauen verdienen. Auch weil ihnen die gegenwärtige Krise persönlich alles abverlangt und mit einem hohen Stresslevel verbunden ist, verdienen sie Unterstützung und ein gewisses Verständnis für den einen oder anderen „handwerkliche Fehler“.
Im Sinne gute Führung muss auch die Frage mit in den Blick genommen werden, wie der Übergang in geordnete Verfahren der Politikgestaltung gelingt: Wie lässt sich Krisenkommunikation im Sinne einer verbindenden Rede der gemeinsamen Kraftanstrengung und dafür notwendiger individueller Opfer in einen offenen Diskurs der politischen Verantwortung transformieren, der die Auseinandersetzung mit der demokratischen Opposition und einer kritischen Medienöffentlichkeit in redlicher Weise führt? Die Verantwortung für das Gelingen dieses Übergangs hin zu einer qualitätsvollen und verantwortlichen politischen Debatte liegt dabei in der Hand aller politischen RepräsentantInnen, eines starken und unabhängigen öffentlichen Rundfunks und eines engagierten und präzisen Journalismus. Die Herausforderung kann angesichts der sich abzeichnenden sozioökonomischen Verwerfungen geradezu tektonischen Ausmaßes gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dies gilt auch in inhaltlicher Hinsicht, mit der ethisch gebotenen Verpflichtung, die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft vorrangig zu schützen und dafür Sorge zu tragen, dass ihr Leid bevorzugt adressiert wird. Ein mögliches Instrument dafür stellt eine Art Sozialverträglichkeitsprüfung für alle politischen Hilfsmaßnahmen zur Linderung der Auswirkungen der Krise dar.
Vieles wird bereits im politischen Krisenmodus grundgelegt. Politischer Missbrauch des Ausnahmezustandes wie jener der ungarischen Regierung, die sich aus Opportunitätsgründen auf unbegrenzte Zeit (!) jeglicher parlamentarischer Kontrolle entzieht oder der polnischen Regierung, die mitten in den Ausnahmezustand hinein aus wahlpolitischem Opportunismus am Fahrplan für die Präsidentenwahlen festhalten will, erinnern an autoritäre Staatsstreiche. Sie entbehren jeglicher demokratischer Legitimität und müssen als Staatsversagen gebrandmarkt werden. Der politisch-ethische Schaden, den sie für die post-pandemische Zeit ebenso anrichten, wie für die gebotenen humanitären Tugenden in Krisenzeiten, ist enorm. Für eine Krisenethik ist daraus zu lernen, dass das Diktum von Carl Schmitt, dass derjenige souverän (Souverän) sei, der im Ausnahmezustand herrscht, aus humanitärer und demokratischer Sicht in zwei Hinsichten zu ergänzen ist. Erstens herrscht nicht der im Ausnahmezustand, der souverän ist, sondern eine gewählte Regierung, die in einer außergewöhnlichen Situation politische Führung mit den genannten hohen ethischen Anforderungen neu definieren und ein Stück weit auch experimentell lernen muss. Zweitens, dass – in ethischem Sinne – nicht der politisch souverän ist, wer im Ausnahmezustand herrscht, sondern wer ihn unter Wiederaufnahme eines inklusiven und redlichen politischen Diskurses und der Ermächtigung von Kontrolle beendet.
Drittens verlangt eine Krise bestimmten gesellschaftlichen Gruppen höhere Kosten ab als anderen. Dies gilt im Besonderen auch für Notfälle und Krisen, womit die ethische Frage nach Verteilungsgerechtigkeit angesprochen ist.
Das Personal im Gesundheitswesen und in den Rettungsdiensten ist auf Dauer der Krise massiven physischen und emotionalen Belastungen ausgesetzt. Wir verlangen ihnen als Gesellschaft Leistungen ab, die ans Unmenschliche grenzen. Ältere Menschen müssen wochen- und monatelang zuhause bleiben, ohne ihre nahen Angehörigen um sich haben zu können. Die psychischen Belastungen, die damit verbunden sind, sind enorm. Pflegende Angehörige sind sekundäre Opfer dieser Situation. Wir müssen alles dafür tun, um allen Menschen, die unter diesen Zwangsmaßnahmen so leiden, dass sie in eine existenzielle Ausnahmesituation kommen, dieses Leid erträglich zu machen und helfend zu unterstützen. Marginalisierte, inhaftierte und obdachlose Menschen haben weniger Bewältigungsmöglichkeiten und werden von den sozialen Folgen der Krise härter getroffen als andere. Ihre Verwundbarkeit wird weiter steigen. Sie sind damit auch gesundheitlich in höherem Maß gefährdet. In Ländern mit weniger gut ausgestatteten und organisierten Gesundheitssystemen werden mehr Menschen sterben als in den Ländern mit hohen Gesundheitsstandards. Dies gilt auch für die derzeit eher aus dem Fokus geratenen Flüchtlingslager innerhalb wie außerhalb der europäischen Grenzen. Das alles ist ungerecht, und Überlegungen zu einer Ethik des Ausnahmezustandes müssen darauf abzielen, ihr Leiden zu lindern.
Schließlich ist jeder von uns dazu aufgerufen, couragiert, geduldig und hilfsbereit zu sein und das Gemeinwohl als Handlungsperspektive im Blick zu haben. In einer globalen Pandemie, so Slim, sind wir alle Ersthelfer. Wir stehen alle gleichsam mitten in der Pandemie. Unser aller ganz persönlicher Einsatz ist gefordert. Es gibt soziale Pflichten und kleine Zeichen des Miteinanders, die wir tun können und setzen sollten, um die Situation zu verbessern. Wir sollten unser Verhalten dort couragiert ändern, wo das gefordert ist, manches vernünftige Opfer akzeptieren und dabei mit einer aufrechten und positiven Haltung der Zuversicht die Menschen rund um uns anzustecken versuchen. Solche persönlichen Tugenden sind keine Kleinigkeit, wenn wir Angst um uns selbst und unsere Angehörigen haben müssen, und wenn uns droht, durch Tod oder wirtschaftliche Existenzsorgen aus der Bahn geworfen zu werden.
Diese vier Punkte, die aus meiner Sicht das Beste einer Tradition humanitärer Ethik verkörpert, können um Überlegungen zu einer Ethik der tragischen Erfahrung, die Verwundbarkeit in einer stärkeren Gewichtung zur Geltung bringt, ergänzt werden.
Ausnahmezustände und Krisen ziehen unweigerlich tragische Erfahrungen für eine große Zahl von Personen nach sich. Sie sind Häufungsmomente individueller Tragödien, die sich in der Mehrzahl auf zusammenhängende Ursachen beziehen. Häufig sind diese Ursachen die Namensgeber der Krise. Das Tragische provoziert einen Blick auf das Leben als Ganzes und wirft fundamentale Fragen auf. In Krisenzeiten diffundieren diese existentiell-persönlichen Fragen in die Gemeinschaft. Fremde können auf Distanz daran anteilnehmen. Dabei sind es vor allem vier Erfahrungsgehalte des Tragischen, die Clemens Sedmak in einer Arbeit über epistemische Resilienz anführt, die unsere humanitären Intuitionen auf den Plan rufen und unser kollektives Sensorium für die Leiden unserer Mitmenschen sensibilisieren: im Erleben des Tragischen haben wir es mit einem Sinn für Ernsthaftigkeit und Gewichtigkeit zu tun, der von der Irreversibilität des Geschehenen herrührt. Die Krise als Tragödie erlebt, führt uns die Grenzen aller Machbarkeit vor Augen. Tragisches Erleben ist immer auch mit menschlichem Leiden, mit einer tiefen Erfahrung von Einschränkung, Verlust und Schmerzen verbunden. Drittens bedeutet ein solches Erleben die Erfahrung einer Durchbrechung, sie hat mit etwas Außergewöhnlichem zu tun, das unser Leben schmerzhaft in ein „Davor“ und ein „Danach“ zerreißt. Und schließlich ist die tragische Krisenerfahrung mit Frustration verbunden, mit einem Sinn für unnötigen Verlust; als Erfahrung, die hart an die Grenzen des Verstehbaren zwingt. All diese Erfahrungsdimensionen des Tragischen – Unumkehrbarkeit, Leiden, Disruption wie Frustration – prägen auch unsere kollektive Krisenerfahrung. Sie machen uns empfänglich für die tragischen Leiden unserer Mitmenschen, für die Opfer, die wir manchen abverlangen. Die Erfahrungsdimensionen des Tragischen sind damit auch jene Anker, an denen wir unsere Solidarität und unseren Blick auf das Gemeinwohl aufrichten. Sie halten unsere humanitäre Sensibilität wach für die Schwächsten der Gesellschaft und für verletzliche Gruppen, die in Krisenzeiten unserer Hilfe besonders bedürfen. Hier kann eine Ethik des Ausnahmezustands direkt an philosophische Gerechtigkeitsüberlegungen anschließen, etwa bei John Rawls‘ Maximin-Prinzip, nach dem gerechte Institutionen so einzurichten wären, dass die am schlechtesten gestellten Bürger relativ am meisten davon profitieren. So interpretiert, überlappt dieses Prinzip mit dem nachhaltigen Entwicklungsziel der Vereinten Nationen, demzufolge „niemand zurückgelassen werden darf“. Dies sind wertvolle Gehalte einer Ethik der Krise, die uns auch in Nachkrisenzeiten leiten sollten.
Außerdem nähren die tragischen Erfahrungen der Krise unseren Sinn für die notwendige Widerstandskraft, derer wir uns versichern müssen, um unseren Tugenden nachleben zu können. Das Tragische provoziert Widerstand, eine Ethik der Krise beruht auch auf einem humanitären Geist, der den Erfahrungen von Frustration, Leid, Disruption wie Unumkehrbarkeit soziale und individuelle Schutzressourcen entgegensetzt. Auch Einsichten über Faktoren der Resilienz von Gemeinschaften sind von Relevanz für eine Ethik des Ausnahmezustands, wie die breiten und vielfältigen, oft privaten spontanen Initiativen zur Nachbarschaftshilfe derzeit belegen.
Eine solche Ethik des Ausnahmezustandes ist unmittelbar im täglichen Vollzug gefordert und gleichsam in statu nascendi. Sie ist ein emergentes Phänomen, das wir gleichzeitig auch gedanklich erfassen und reflektieren, auf den Punkt bringen können, um eine ethische Handhabe für die gegenwärtige und für zukünftige Krisen zu entwickeln. Wir brauchen eine gemeinsame und möglichst konsensuale und breit akzeptierte Einschätzung von den außergewöhnlichen Anforderungen dieses Ausnahmezustandes. Um das zu erreichen, müssen wir eine breite gesellschaftliche Debatte unter der Beteiligung möglichst vieler Stakeholder führen.
Hugo Slim verweist darauf, dass in den Ländern außerhalb des globalen „Speckgürtels“, die seit langem und immer wieder von Kriegen, Naturkatastrophen und anderen schweren Krisen heimgesucht werden, ein breites ethisches Erfahrungswissen vorliegt, das in dieser Debatte von entscheidender Bedeutung sein kann. Die gegenwärtige Pandemie eröffnet somit einen Horizont für einen ethischen und humanitären Wissenstransfer der ungekannten und selten geübten Art: von Süd nach Nord.
Eine andere Version dieses Textes ist zuerst in der Zeitschrift Die Furche erschienen.
Helmut P. Gaisbauer arbeitet am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg und ist Präsident des internationalen forschungszentrum für soziale und ethische fragen in Salzburg.