Corona-Triage, Risikogruppen und Altersdiskriminierung
Von Tobias Kasmann (Leipzig)
Die Coronakrise verunsichert uns alle. Eine sehr beunruhigende Ratlosigkeit ergibt sich aus der Frage, was wir tun sollen, wenn es bei uns zu einer ähnlichen Überlastung des Gesundheitssystems kommt wie in Norditalien. Dann werden auch wir entscheiden müssen, wer behandelt wird oder nicht mehr behandelt werden soll. Die Frage, die im Raum steht, ist, ob es eine akzeptable Weise gibt, über Leben und Tod zu entscheiden. Christiane Woopen, die Vorsitzende des Europäischen Ethikrats, ist nicht die Einzige, die erwägt, das aus der Katastrophenmedizin bekannte Konzept der Triage auf die durch eine galoppierende Corona-Epidemie erzeugte Knappheit zu übertragen. Die Idee dabei scheint zu sein, dass wir mit der Triage bereits eine allgemein akzeptierte Praxis für den Umgang mit existenzieller Knappheit in Ausnahmesituationen haben. Dieses Verfahren müssten wir jetzt nur intensivmedizinisch anpassen, um so eine konsensfähige Richtlinie für die Rationierung in der Corona-Ausnahmesituation zur Verfügung zu haben.
Ich möchte zeigen, dass es ausgeschlossen ist, auf das Problem der Corona-Überlastung mit dem Konzept der Triage zu antworten. Triage ist auf eine Art und Weise gerechtfertigt, die mit den Besonderheiten dieser Virusinfektion unvereinbar ist. Ich möchte weiter dafür argumentieren, dass es dennoch akzeptable Möglichkeiten gibt, den Zugang zur Intensivmedizin zu steuern. In der zu befürchtenden Ausnahmesituation scheint mir Altersdiskriminierung rechtfertigbar zu sein, ohne auf fragwürdige utilitaristische Prämissen zurückzugreifen. Weil jedoch auch in den schlimmsten Notsituationen die Leben Einzelner nicht miteinander verrechnet werden dürfen, ist es ausgeschlossen, dass wir ressourcenintensive Patienten altersunabhängig im Interesse der Gesamtpopulation von überlebensnotwendigen Behandlungen ausschließen. Es darf auch in einem kollabierenden Gesundheitssystem keine Diskriminierung von Behinderten und Grunderkrankten geben!
1. Unter Triage verstehe ich eine medizinische Praxis aus der Kriegs- und Katastrophenmedizin. Ihr Zweck ist es unter Bedingungen besonderer personaler und zeitlicher Ressourcenknappheit die Anzahl der Überlebenden zu maximieren. Dies geschieht dadurch, dass Patienten zunächst nach Schwere der Verletzung in Behandlungsgruppen aufgeteilt und anschließend nach Dringlichkeit behandelt werden. Triage ist jedoch brisant, gilt manchen sogar als „die ethisch bitterste Begleiterscheinung ärztlichen Handelns,“ (Vgl. Schmidt 1996, 420) weil sie verlangt, dass eine Patientengruppe nicht behandelt wird, die von der Indikation her aber unbedingt behandelt werden müsste. Dies geschieht allein deswegen, damit möglichst viele der anderen Verletzten gerettet werden können. Man opfert also gewissermaßen ganz bewusst in Katastrophenlagen bestimmte Patienten um die Anzahl der Überlebenden zu maximieren; man schließt von Anfang an solche Patienten aus, die man zwar durchaus hätte retten können, deren Behandlung aber so aufwendig wäre, dass man andere, die man mit vergleichsweise wenig Aufwand stabilisieren könnte, verlieren würde. Ich halte das Konzept der Triage in Katastrophenlagen für grundsätzlich gerechtfertigt. In solchen Situationen kann es richtig sein, ein Verfahren zu verfolgen, dass die Anzahl der Überlebenden auf diese Weise maximiert.
Die schrecklichen Nachrichten aus Italien führen dazu, dass man dieser Tage immer öfter von Triage hört und liest. Das ist einigermaßen verblüffend, scheint die katastrophenmedizinische Praxis der Triage doch in Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg keine Anwendung gefunden zu haben.[i] Keineswegs überraschend ist es jedoch, dass in Bezug auf die Frage der Rechtfertigung dieser extremen Maßnahme große Verwirrung besteht. Weyma Lübbe hat diese Verwirrung in einem Beitrag, der auch auf dieser Seite veröffentlicht wurde, in der für sie typischen Klar- und Nüchternheit herausgearbeitet. Nicht deswegen, weil es an sich besser wäre, so viele wie möglich zu retten, sei es in Katastrophenlagen richtig, besonders aufwendig zu behandelnde Verletzte als „hoffnungslose Fälle“ auszusortieren. Dies könne nicht der Grund sein, Hilfsbedürftige, die eine realistische Chance auf Rettung hätten, faktisch zum Tode zu verurteilen. Das medizinische Ethos ist auch sonst nicht utilitaristisch fundiert, warum sollte es das im Katastrophenfall auf einmal sein? Nein, wenn die harte Triage-Entscheidung überhaupt gegenüber den Zurückgestellten gerechtfertigt werden könne, dann nur durch einen hypothetischen ex ante-Konsens, der die Autonomie aller Betroffenen respektiert. Lübbe erklärt in ihrem Beitrag die effizienzorientierte Praxis der Triage allein aus dem Grund für rechtfertigbar, „dass vor dem Eintritt einer Katastrophe, d.h. solange keiner weiß, in welcher Gruppe er landet, uns allen ein Interesse an der Maximierung der Anzahl der Überlebenden unterstellt werden kann.“ (Lübbe, Corona-Triage. Vgl. auch Lübbes Monographie Nonaggregationismus) Man könne uns dieses Interesse jedoch nicht unterstellen, weil wir der Meinung wären, dass es an sich besser sei, dass es also irgendwie wertvoller wäre, wenn die Anzahl der Überlebenden maximiert würde. Es geht nicht um die Befriedigung eines solchen Wertinteresses. Es muss um die Befriedigung des individuellen Interesses gehen, eine maximale Chance auf Überleben des Unglücks zu bekommen. Für jede einzelne Person wäre es vor der Katastrophe (Flugzeugabsturz, ICE-Crash, Gasexplosion…) rational, sich für die Triage-Praxis auszusprechen. Und der Grund dafür ist, dass man eben nicht weiß, in welcher Behandlungsgruppe man landen wird, d.h. man kann im Vorfeld nicht wissen, wie schwer und kompliziert die eigenen Verletzungen im Fall des Falles sein werden.
Dies gilt allerdings nur dann, wenn das Resultat der Katastrophe weitgehend unabhängig von individuellen gesundheitsrelevanten Eigenschaften der potentiell Betroffenen ist. Um ein Beispiel zu nennen: Für die Frage, wie schwer ich durch einen Flugzeugabsturz verletzt werden kann, spielt es höchstwahrscheinlich keine Rolle, ob ich Raucher oder Diabetiker bin. Wenn ich hingegen eine merkwürdige medizinische Vorbelastung hätte, von der ich wüsste, dass ich bei einem Flugzeugcrash ziemlich sicher so verletzt würde, dass ich in die Kategorie der hoffnungslosen Fälle sortiert würde, könnte man mir ganz gewiss keine hypothetische Zustimmung zur Triage in dieser Situation unterstellen. (Wir werden in Abschnitt 3 sehen, dass diese Einschränkung der Anwendbarkeit der Triage für die Übertragbarkeit dieses Konzepts auf die Corona-Problematik entscheidend ist.)
Halten wir also fest: Eine vernünftige Rechtfertigung der Triage ist nur durch einen plausibel rekonstruierbaren ex ante-Konsens möglich. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Ist ein solcher ex-ante-Konsens nicht plausibel konstruierbar, darf man nicht triagieren. Dann wird, wie im medizinischen Normalbetrieb üblich, nach dem Prinzip der Dringlichkeit vorgegangen. Eine Patientin wird dann behandelt, weil die Ressourcen vorhanden sind und es medizinisch sinnvoll ist, sie zu behandeln; d.h., weil es eine realistische Chance für sie auf Genesung oder jedenfalls auf eine Verbesserung ihres Zustandes gibt. Und sie wird so lange so behandelt, wie es für sie sinnvoll ist – whatever it takes. In Situationen extremer Knappheit, wenn die Intensivstationen also schon überbelegt wären, würde dies zur Folge haben, dass man nichts für neu ankommende Patienten tun könnte. Dann würde jedenfalls nicht geschaut, wie aufwendig die Behandlung einer neu ankommenden Patientin im Vergleich zu schon in Behandlung befindlichen Patienten sein würde, dann gilt das u.U. in Bezug auf die Maximierung der Anzahl der Überlebenden sehr ineffiziente Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ Dass man eine Patientin nicht aufnehmen kann, weil man schon überbelegt ist, versteht sich normalerweise von selbst. Eine laufende und nach wie vor erfolgversprechende Behandlung zu Gunsten anderer abzubrechen, schiene hingegen in besonderer Weise erklärungsbedürftig zu sein, wenn nicht sogar ganz und gar unerhört.
2. Was bedeuten diese Überlegungen zur Rechtfertigung der Triage nun für das Vorgehen in Bezug auf die sich anbahnende Corona-Katastrophe? Wenn diese Pandemie tatsächlich zur Überlastung des nun im Eiltempo ausgebauten bundesdeutschen Gesundheitssystems führen sollte, werden schließlich Menschen sterben, denen man hätte helfen können, wenn man mehr Ressourcen in der Intensivmedizin hätte. Wie sollen wir damit umgehen? Sollen wir versuchen, die Anzahl der Opfer so klein wie möglich zu halten, also wie man nun sagt, zu „triagieren“? Oder sollen wir das Schicksal seinen Lauf nehmen lassen und also nur denen helfen, die das Glück hatten, gerade einen freien Platz bekommen zu haben, als sie ihn brauchten?[ii] Ich meine, wir sollten sagen: Sowohl als auch! Ich werde in Abschnitt 4 dafür argumentieren, dass wir die Anzahl der Überlebenden dadurch maximieren dürfen, dass wir u.U. alte Menschen, die sehr aufwendig zu behandeln sind, zurückstellen und somit wahrscheinlich sterben lassen – und das ist furchtbar und deswegen sollten wir wirklich alles Vernünftige tun, damit es gar nicht erst zu dieser Situation kommt! Ich möchte dort aber auch dafür argumentieren, dass wir Menschen, die bestimmte Vorbelastungen haben, also nicht wegen ihres hohen Alters zur #Risikogruppe gehören, nach dem Kriterium der Dringlichkeit versorgen sollten; wir sollten diese so lange behandeln wie es von ihnen gewünscht und für sie medizinisch sinnvoll ist – egal, wie ineffizient das im Einzelfall in Bezug auf die Patientenpopulation als Ganzes sein möge. Ich möchte zuvor in Abschnitt 3 geltend machen, dass es nicht nur unsinnig, sondern auch irreführend ist, von Triage oder vom Triagieren in Bezug auf unseren Umgang mit dem Coronavirus zu sprechen.
3. Zunächst zu diesem Punkt. Wenn Lübbe Recht hat und die Rechtfertigung der Triage nur durch einen rekonstruierbaren ex ante-Konsens möglich ist, dann ist sofort klar, dass Triage bei einem Virus wie Covid-19 nicht angewandt werden kann. Es fehlt einfach die Situation der relevanten Gleichheit vor der Infektion. Ein 85-jähriger Diabetiker kann sich an drei Fingern abzählen, dass er nicht behandelt würde, wenn es so eine Triage-Regel gäbe. Es ist völlig unverständlich, wie es in seinem Überlebensinteresse sein könnte, einer Verfahrensregel zuzustimmen, die die Anzahl der Überlebenden dadurch maximiert, dass aufwendig zu Behandelnde sterben gelassen werden. Gleiches gilt für Menschen, die, obwohl noch jung, aufgrund von Grunderkrankungen wie Immunschwäche, Herzfehlern, Krebs etc. zur Risikogruppe gehören. Allein der Umstand, dass es Risikogruppen gibt, macht eine Rechtfertigung der Triage in Bezug auf Corona unmöglich; weil es Risikogruppen gibt, gibt es keinen Zustand der relevanten Gleichheit vor der Katastrophe. Bei einem Flugzeugabsturz hingegen gibt es wahrscheinlich keine Risikogruppen dieser Art,[iii] nur deswegen ist ein hypothetischer ex ante-Konsens postulierbar; nur deswegen ist es gestattet die Zustimmung der Betroffenen zur Triage-Regel vorauszusetzen.
Wir sollten den Ausdruck „Corona-Triage“ also schnellst möglich wieder aus unserem Wortschatz verbannen. In Bezug auf Corona von Triage zu sprechen suggeriert nämlich, dass es eine wenigstens in medizinischen Lehrbüchern etablierte Praxis gäbe, die man nun im Interesse aller in dieser besonderen Katastrophensituation anwenden könnte. Das ist einfach falsch. Triage funktioniert so nicht, und gäbe es eine Praxis, die so einen Umgang mit Menschen rechtfertigen würde, sollte man sich ganz klar gegen sie als unmenschlich aussprechen.
4. Ich habe aber gesagt, dass ich es in der sich ankündigenden Situation durchaus für vertretbar halten würde, eine Form von Altersdiskriminierung einzuführen. Ich tue mich damit sehr schwer, doch glaube ich, dass Folgendes vermittelbar sein dürfte: In der drohenden Überforderungslage kann es nicht der Zweck unseres Gesundheitssystems sein, jedem ein so langes Leben wie irgend möglich zu gewährleisten. Wir sollten uns stattdessen darauf konzentrieren, möglichst jedem ein Leben einer gewissen, als normal empfundenen Länge zu ermöglichen. Wir sollten eher für gleiche Chancen für alle auf ein langes Leben sorgen, als die Chancen auf das längstmögliche Leben zu maximieren. Ich glaube, eine Fairnessüberlegung dieser Art (Vgl. Norman Daniels) könnte eine Rechtfertigung für Altersdiskriminierung in Bezug auf Intensivbehandlung in den nächsten Wochen und Monaten sein. Tatsächlich glaube ich, dass man so gegenüber dem eben genannten 85-Jährigen rechtfertigen könnte, warum man ihn nicht oder nicht mehr behandelt und sterben lässt.
Gleichzeitig meine
ich – und das wieder aus einer Fairnessüberlegung heraus – dass daraus eben
nicht folgt, dass jetzt alle teuren oder langwierig und aufwendig zu
behandelnden Patienten zurückgestellt werden sollten. Die Bundeskanzlerin hat
in ihrer Ansprache
am Mittwoch an die ethisch-normative Grundlage unseres Gemeinwesens
erinnert. Es gehe uns nicht um „Zahlen in einer Statistik,“ nein, „… wir sind eine Gemeinschaft, in der jedes Leben
und jeder Mensch zählt.“ Unser Ziel ist es nicht, die Anzahl der Überlebenden
oder die Anzahl der geretteten Lebensjahre zu maximieren, nein, es geht um das
Leben von jeder einzelnen Person. Das ist unser höchstes Ideal und es ist
sicher richtig, dass wir beschämend oft an seiner Erfüllung scheitern. Aber
gerade deswegen müssen wir auch in Situationen existenzieller Überlastung
versuchen gerade denjenigen Menschen, die nicht aufgrund ihres hohen Alters,
sondern wegen Grunderkrankungen oder Behinderungen zur Risikogruppe gehören, so
gut es irgendwie geht, zu helfen. Wie könnten wir es einer solchen Person
gegenüber rechtfertigen, sie bewusst sterben zu lassen, obwohl sie noch kein
langes und der Möglichkeit nach erfülltes Leben hatte? Wir sollten ihr
dieselben Chancen geben, wie sie die meisten anderen auch ohne kostspielige
Maßnahmen schon haben. Die bloße Tatsache, dass wahrscheinlich mehr Menschen
aufgrund der Überlastung unseres Gesundheitssystems durch das Virus sterben
werden, wenn wir ressourcenintensive Patienten behandeln, ist an sich kein
Grund sie nicht zu behandeln. So vorzugehen wäre den Betroffenen gegenüber
nicht zu rechtfertigen.
[i] Soweit ich weiß, musste auch bei den schlimmsten zivilen Katastrophen, z.B. Rammstein und Eschede, nicht zu diesem Mittel gegriffen werden. Tatsächlich weiß ich von keinem zivilen Katastrophenfall weltweit, bei dem Menschen von der Behandlung ausgeschlossen wurden, weil ihnen zu helfen zu aufwendig gewesen wäre.
[ii] Letzteres scheint im Grunde unserem Vorgehen bei der Verteilung der auch immer zu knappen lebenswichtigen Organe wie Herz, Leber und Lunge zu entsprechen. Ich sage „im Grunde“ da die Allokation von Organen natürlich etwas komplizierter und für jede Organart unterschiedlich geregelt ist. Unstrittig dürfte jedoch sein, dass die gegenwärtigen Regelungen ganz sicher nicht das Ziel verfolgen, Lebensjahre, QALYs oder die Organfunktionsdauer zu maximieren.
[iii] Natürlich gibt es Menschen mit Grunderkrankungen, Bluter z.B., für die die erwartbaren Verletzungen solcher Unfälle viel dramatischer sein dürften als für gesunde. Eine umfassende Verteidigung der Triage müsste erklären, wie mit diesem Problem umzugehen ist. Der hier nur wichtige Punkt ist, dass man auch trotz bester Gesundheit damit rechnen muss, bei einem Flugzeugabsturz zu sterben oder sehr ernsthaften Behandlungsbedarf zu haben. Nach allem was wir bis jetzt über Covid-19 wissen, scheinen die Konsequenzen einer Infektion jedoch ganz wesentlich von individuellen Vorbelastungen abzuhängen.
Daniels, Norman. Just health care. Cambridge University Press, 1985.
Lübbe, Weyma. Nonaggregationismus: Grundlagen der Allokationsethik. mentis, 2015.
Schmidt, Volker H. „Veralltäglichung der Triage.“ Zeitschrift für Soziologie 25.6 (1996): 419-437.
Tobias Kasmann ist Lehrkraft für besondere Aufgaben mit Schwerpunkt für praktische Philosophie und Philosophiedidaktik am Institut für Philosophie der Universität Leipzig.