Die andere Pest
Von Thomas Pölzler (Graz)
Albert Camus erfreut sich neuer Beliebtheit. Auch abseits der Pandemie ist eine Auseinandersetzung mit dem französischen Schriftsteller und Philosophen lohnend.
Zu Beginn unterschätzen sowohl die Bewohner/innen als auch die Stadtregierung Orans den Ernst der Lage. Man klammert sich an den gewohnten Gang der Dinge. „Nein, nein, das ist unmöglich“, heißt es selbst von Seiten der Ärzte. Dann sterben nach den Ratten auch die ersten Menschen – und die Stimmung kippt. Die Stadt wird abgeriegelt. Vor den Supermärkten bilden sich Schlangen. Während auf die Friedhöfe immer mehr Leichen gekarrt werden, nagen an jenen, die die Krankheit noch verschont hat, Angst, Einsamkeit und Langeweile.
Die Parallelen zwischen Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ (erschienen 1947) und der Situation im Frühjahr dieses Jahres sind teilweise frappierend. Dementsprechend feierte das Buch auch ein eindrucksvolles Comeback auf den Bestseller-Listen vieler Länder. Doch mit „Die Pest“ beschreibt Camus nicht nur treffend die Logik und das Lebensgefühl eines Lockdown. Ja, selbst die gängige Interpretation als Versinnbildlichung des Kampfes der Franzosen/ösinnen gegen die nationalsozialistische Besatzung greift zu kurz. Mindestens ebenso sehr sollte man den Roman seiner zeitlosen existentiellen Bedeutung wegen lesen.
Apologet des Absurden
Von jungen Jahren an kreiste Camus‘ Denken wesentlich um den Begriff des Absurden. Diesen illustrierte er unter anderem anhand des griechischen Mythos des Sisyphos. Sisyphos wurde von den Göttern dazu verurteilt, bis in alle Ewigkeit einen Felsen einen Berg hinaufzuwälzen. Vom Gipfel rollte der Fels dann aufgrund seines eigenen Gewichts wieder hinunter – und das Spiel begann von vorne.
In einem gewissen Sinn, so Camus, sind wir alle zu so einem Leben voller vergeblicher Mühen verurteilt. Mensch sein heißt, nach Sinn zu streben; nach dem „Warum?“ zu fragen. Die Welt jedoch begegne dieser Frage nur mit „vernunftlosem Schweigen“ oder sogar „Feindseligkeit“. Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem menschlichen Streben nach Sinn und einer sinnlosen Welt ist es, was Camus als „das Absurde“ bezeichnet.
Wie sollen wir auf diese düstere Diagnose reagieren? Die naheliegendste Antwort, so scheint es, ist auch die radikalste: der Selbstmord. Wenn wir Sinn nie erlangen können, was auch immer wir tun, wieso sollten wir uns dann weiter darum bemühen? Welchen Grund könnten wir haben, überhaupt noch leben zu wollen? Doch Camus betrachtete eine solche Reaktion als unredlich und feige. Auch Religionen, Ideologien und der Flucht in alltägliche Zerstreuungen konnte er nichts abgewinnen. All das würde das Problem des Absurden nur auflösen anstatt es zu lösen. Man liefe vor ihm davon.
Stattdessen forderte Camus, unserem absurden Schicksal mit einer Haltung der „Revolte“ gegenüberzutreten. Wir sollten gegen dieses Schicksal innerlich aufbegehren und es als einen Skandal oder eine Ungerechtigkeit betrachten. Es gelte, unseren Felsen auf purem Trotz unvermindert immer wieder den Berg hinaufzuwälzen (d.h. nach Sinn zu streben), im vollen Bewusstsein, dass unser Ziel nie erreicht werden kann.
Die Pest als Parabel
Auch der Roman „Die Pest“ kann als eine Erkundung dieser Ideen des Absurden und der Revolte verstanden werden. Camus beschreibt Oran als einen ganz und gar gewöhnlichen Ort. Alles, was seine Bewohner/innen wollen, ist, ungestört den gewohnten Geschäftstätigkeiten und Vergnügungen nachzugehen. Umso härter trifft sie die Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit der Seuche. Dieser Augenblick ist entscheidend. Er symbolisiert das Erwachen des Bewusstseins: Auf einmal wird den Menschen klar, dass ihre Existenz absurd und sinnlos ist.
Durch die Augen seiner Charaktere lotet Camus unterschiedliche Antworten auf diese Erkenntnis aus. Man begegnet Menschen, die sich in der Krise selbst am nächsten stehen (weniger allerdings, als man erwartet hätte). Der jesuitische Pater Paneloux interpretiert die Pest als eine Strafe Gottes und macht sich für die Rettung durch das Gebet stark. Ihm schleudert der Atheist Camus das seitenlang ausgewälzte Leiden und Sterben eines unschuldigen Kindes entgegen. Und dann ist da noch die Hauptfigur des Romans, der Arzt Dr. Rieux.
Rieux verhält sich so, wie wir uns Camus‘ Meinung nach dem Absurden gegenüber idealerweise verhalten. Er ist der erste, der den Mut aufbringt, das Wort „Pest“ auszusprechen. Später kämpft er ohne falsche Hoffnungen und ohne Rücksicht auf Verluste gegen die Seuche an. Selbst, wo es aussichtslos scheint, versucht er (ganz im Sinne von Sisyphos), die Epidemie einzudämmen und das Leiden der Kranken zu lindern – nicht aus einem Glauben an Gott oder an moralische Prinzipien heraus, sondern aus einem Gefühl der Solidarität. „Ich empöre mich, also sind wir“, wie Camus dies andernorts ausdrückt: Das Absurde sollte uns in der Revolte zu einer Gemeinschaft zusammenschweißen.
Camus im Zeitalter von Corona
Diese Überlegungen mögen abstrakt und übertrieben heroisch wirken. Doch ich denke, sie besitzen noch immer Aktualität, auch über die Pandemie hinaus (die uns ebenfalls wesentlich die Verletzlichkeit und gesellschaftliche Abhängigkeit des Individuums lehrt). Heute vielleicht mehr denn je hadern Menschen mit Gefühlen der Sinnlosigkeit. Doch oft sind wir uns der zum Teil tieferen existentiellen Wurzeln dieser Gefühle nicht bewusst. Es herrscht jene Reaktion vor, die Camus das „tödliche Ausweichen“ nannte. Überspitzt formuliert: Wer hat, im Bann von Instagram und Netflix, noch Muße, sich über den Sinn des Lebens Gedanken zu machen?
Camus hat sich den großen Fragen des Menschseins bedingungslos wie wenige andere gestellt. Auch wenn man seinen Antworten nicht zustimmt – allein deshalb lohnt es sich, sein Werk wiederzuentdecken.
Thomas Pölzler ist Post-Doc Universitätsassistent am Arbeitsbereich Praktische Philosophie des Instituts für Philosophie der Karl-Franzens-Universität Graz. Seine Forschung hat vorwiegend Fragen der Metaethik, Moralpsychologie und Klimaethik zum Inhalt. Darüber hinaus hat er sich in mehreren Fachartikeln auch mit der Philosophie Albert Camus‘ beschäftigt, so etwa in „Wie schlüssig ist Albert Camus‘ frühe ‚Logik des Absurden‘?“.