Die bedrohliche Effizienz einer Lehnstuhlökonomik. Über die Existenzvergessenheit herrschender Wirtschaftstheorien und das gesellschaftspolitische Potential der Pandemie

Von Manuel Schulz (Jena)


Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Aufsatz, der in einem Schwerpunkt zur COVID-19 Pandemie in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift für Praktische Philosophie (ZfPP) erschienen ist. Der Aufsatz kann auf der Website der ZfPP kostenlos heruntergeladen werden.


Die sich im Frühjahr des Jahres 2020 verbreitende Einsicht, dass es sogenannte ‚systemrelevante‘ Berufsgruppen gibt, die eine existenzielle Aufgabe in unserer Gesellschaft übernehmen, schien ebenso logisch wie überraschend. Logisch, da es bei nur kurzem Nachdenken ganz offensichtlich ist, dass wir abhängig von einem funktionierenden Gesundheitswesen und gefüllten Supermarktregalen sind. Überraschend aber auch, weil sich diese Einsicht derart schnell, sozusagen im Affekt bahn brach, dass sie sich kaum als das Resultat rationaler Erwägungen und vernünftiger Einsicht erklären lässt. Was ist geschehen?

Zunächst ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die drohende Versorgungskrise im Gesundheitswesen keine Naturkatastrophe, sondern Folge gesellschaftspolitischer Entscheidungen der vergangenen Dekaden ist. So sind die knapp bemessenen Pflegeschlüssel und der Wunsch nach möglichst erschöpfender Auslastung der Krankenhauskapazitäten nicht zuletzt das Resultat eines unersättlichen Wunsches nach Effizienz- und Profitsteigerung. Kapazitäten für Krisensituationen vorzuhalten, kostet Geld, und zwar Geld, dass kurzfristig betrachtet anderweitig effizienter eingesetzt werden könnte. Effizienz und Vorsorgeprinzip stehen sich gegenseitig im Weg. Unterwirft man die gesellschaftlichen Sektoren der Daseinsvorsorge dennoch einseitig einer ökonomischen Effizienzsteigerung, so lässt die Erfahrung des Jahres 2020 keinen Zweifel daran, dass dies offenkundig existenziell gefährlich werden kann.

Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die aktuelle Bedrohungslage nicht nur, wie es zunächst scheinen mag, eine medizinische, sondern auch eine polit-ökonomische Dimension aufweist. Die zu Tage tretende Gefahr besteht nicht zuletzt in einem fehlgeleiteten Verständnis von Gesellschaft als einem Wachstumsgenerator, der durch Marktförmigkeit und Effizienzsteigerung am Laufen gehalten werden müsse. Was sich nun im Frühjahr 2020 bahn brach war ein bislang zumeist unterschwellig gebliebenes Unbehagen; ein Unbehagen an einer Wirtschaftsweise, welche sich letztlich ignorant gegenüber dem Leben und Überleben von Menschen zeigt. Diese so verstandene Existenzvergessenheit unseres kapitalistischen Wirtschaftsprinzips machte sich nun durch die Unausweichlichkeit des Ansteckungsrisikos mit SARS-CoV-2 und die drohende Versorgungskrise drastisch bemerkbar.

Wir scheinen die Corona-Krise hauptsächlich deshalb als so erschütternd und eindringlich erfahren zu haben, weil wir es in einer der reichsten Regionen der Welt schlicht und ergreifend nicht gewohnt sind, dass wir von den ganz unmittelbaren, oft existenzbedrohenden Folgen allumfassender Effizienz- und Profitsteigerung selbst betroffen sind. Klimawandel, sklavenähnliche Kinderarbeit auf Kakao-Plantagen oder gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen in der Elektronik-Industrie – alles schlimm, aber weit weg, so scheint es zumindest. Ganz anders verhält es sich jedoch im Angesicht der Pandemie. Auf einmal ist nichts weit weg, im Gegenteil, das Erschreckende an der Pandemie ist ja gerade, dass hier etwas in unser Alltagsleben einbricht und uns dadurch unfreiwillig mit den Konsequenzen unseres Wirtschaftens bekannt macht.

Die verheerenden Folgen des zu Grunde liegenden eindimensionalen und reduktionistischen gesellschaftlichen Selbstverständnisses sind uns also in der Pandemie sozusagen unwillkürlich auf den eigenen Leib gerückt. Indem das Virus jede und jeden von uns in eine Situation lebensbedrohlicher Abhängigkeit versetzen kann, sind wir mit der existenziellen Ernsthaftigkeit eines politisch-ökonomischen Projektes bekannt gemacht worden. Werden wir in einer gesundheitlichen Notsituation, egal ob wegen SARS-CoV2 oder anderen Ursachen von einem Krankenhaus wegen Überlastung abgewiesen, das in den vergangenen Jahren viele Pflegekräfte und Behandlungskapazitäten zugunsten ökonomischer Effizienzsteigerung eingespart hat, dann wird eine spezifische Weise des Wirtschaftens lebensbedrohlich.

Diese Bedrohlichkeit ist dabei eine, die, anders als beispielsweise im Falle des Klimawandels, ganz konkret am eigenen Leib erfahren wird. Die viel gepriesene Systemrelevanz hat sich als etwas offenbart, dass keineswegs abstrakt, sondern ganz im Gegenteil konkret ist; sie ist unhintergehbar mit der Jemeinigkeit des eigenen Daseins (Martin Heidegger) verknüpft. Die entscheidende Frage ist dabei, wie es überhaupt zu der einigermaßen grotesken Idee gekommen ist, dass für Krankenhäuser, Beatmungsgeräte und Pflegekräfte dieselben Beurteilungskriterien anzulegen seien, wie für – sagen wir eine Autofabrik, Scheibenwischer und Montagekräfte?

Der Grund dafür liegt in einer extremen Abstraktionsleistung, welche auf die vorherrschende ökonomische Nutzen- und Werttheorie zurückgeführt werden kann. Letztere entstand im 19. Jahrhundert und hatte sich zum Ziel gesetzt, den Wert von Gütern nicht mehr z.B. aus der in sie investierten Arbeitszeit oder aus ihrer konkreten Nützlichkeit abzuleiten. Stattdessen begann man in der sogenannten Neoklassik, den Wert eines Gutes ausschließlich anhand der relativen Austauschbarkeit mit anderen Gütern zu bestimmen. Das bedeutet, dass in diesen bis heute vorherrschenden Modellierungen jede praktische Nützlichkeit, die wie uns die Corona-Krise gezeigt hat, bei manchen Gütern und Dienstleistungen existenziell entscheidend sein kann, in den Hintergrund gedrängt wird.

An die Stelle des praktischen Nutzens trat in den ökonomischen Modellen die sogenannte Rate der Substituierbarkeit. Hinter diesem technischen Begriff verbirgt sich die einigermaßen irritierende Annahme, dass der Wert irgendeiner Sache, z.B. eines Vollkornbrotes nur durch seine relative Austauschbarkeit, eben seine Substituierbarkeit, mit anderen Gütern gemessen werden kann. Wenn die Menschen beispielsweise bereit sind, dieses Jahr kein neues Smartphone zu kaufen und stattdessen mehr Geld für Vollkornbrote aufzuwenden, dann ist der Wert von Vollkornbroten eben in Relation zum Smartphone gestiegen. Ein Brot, ein Smartphone oder auch ein Beatmungsgerät, so die verwirrend existenzvergessene Perspektive, seien in qualitativer Hinsicht an und für sich wertlos. Dass Güter wie Brote oder Beatmungsgeräte sich jedoch in vielerlei Hinsicht qualitativ von der Bedeutung irgendwelcher Unterhaltungselektronik unterscheiden dürften, gerät aus dem Fokus.

Der große Vorteil dieser Nutzendefinition besteht natürlich darin, dass man auf diese Weise in ökonomischen Kalkulationen jedes nur erdenkliche Gut vergleichen kann; egal ob Stand-up-Paddling-Board oder ein Medikament, ob ein Bluetooth-Kopfhörer oder ein Beatmungsgerät. Die so erlangte Gleichsetzung von konkreten Dingen hat dabei jedoch einen Preis: die Auslöschung ihrer Qualität, also ihrer konkreten Nützlichkeit für einen Jemand. Dieser Jemand ist dabei jedoch immer ein konkret existierender Mensch, für den keineswegs jedes Bedürfnis nach einem Gut relativ ist. So dürfte die Inanspruchnahme einer intensivmedizinischen Dienstleistung schwerlich durch alternative „Konsummöglichkeiten“ ersetzbar sein; auch nicht bei einem sehr günstigen relativen Austauschverhältnis. Denn was nützen mir 1000 Bluetooth-Kopfhörer oder 200 SUP-Boards, wenn meine Existenzverstetigung nicht gewährleistet ist?

In dieser Einebnung des Qualitativen kommt eine Art Existenzvergessenheit unseres Wirtschaftens zum Ausdruck, die uns im Angesicht der Pandemie schmerzlich bewusst wird: Wenn es um die Gewährleistung des Überlebens geht, dann ist gar nichts mehr relativ. Im Gegenteil, Leben und Überleben ist unhintergehbar konkret und in ganz eigensinniger Weise absolut. Während uns die neoklassische Nutzentheorie erklärt, dass es nur relative Knappheiten gibt, sagt uns spätestens die subjektive Selbstbetroffenheit, dass manche Güter einen kaum quantifizierbaren, absoluten Wert in sich tragen. Zu behaupten, dass alles relativ und ersetzbar wäre, geht vollkommen an der sozialen Realität vorbei und muss als Ausdruck eines entfremdeten menschlichen Selbstverhältnisses interpretiert werden. Entfremdet meint hier, dass eine existenzvergessene Lehnstuhlökonomik verdrängt zu haben scheint, dass es sich bei den Wirtschaftssubjekten immer um konkrete, lebendige und in wechselseitige Bedürftigkeit verstrickte Entitäten handelt.

So betrachtet hat uns die Corona-Krise aus einem entfremdeten Traum immerwährender Effizienz- und Profitsteigerung gerissen und äußerst unsanft auf den Boden der existenziellen Tatsachen zurückgeholt. Denn in der Selbstbetroffenheit am eigenen Leib scheinen die meisten von uns unwillkürlich eingesehen zu haben, dass es Güter und Versorgungsinfrastrukturen gibt, die sich durch eine (über)lebenswichtige, nicht relativierbare Qualität auszeichnen. Indem sie am eigenen Leib erfahren wird, ist diese Einsicht in die Fragilität des menschlichen Daseins zwar unweigerlich subjektiv, aber keineswegs individuell. Diese gleichsam im Affekt gewonnene kollektive Gewissheit des Jahres 2020 gilt es gesellschaftspolitisch zu nutzen, um eine vernünftige Weise der sozialen Reproduktion zu erschaffen, die nur an zweiter Stelle ökonomischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen darf.

Natürlich ist es vollkommen klar, dass auch Krankenhäuser oder Pflegeheime nicht verschwenderisch haushalten sollten. Jedoch muss dem Streben nach ökonomischer Effizienz (und dem so generierten Profit) immer das Primärziel der Existenzsicherung übergeordnet sein, um zu verhindern, dass sich ein sinnvolles Organisationsprinzip nicht fortwährend in verheerender Weise in sein Gegenteil verkehrt. Als eine Gesellschaft, die sich selbst als eine aufgeklärte und humanistische versteht, dürfen wir es nicht weiter zulassen, dass das Streben nach Effizienz oder gar ökonomischem Profit lebensbedrohliche Züge annimmt. Dieser Einsicht folgend gilt es für die nächste Zukunft ein Verständnis „existenzieller Güter“ zu entwickeln, deren überlebenswichtige Eigensinnigkeit sie dazu berechtigt, aus ökonomischen Profitinteressen herausgehalten zu werden.

Personenbeschreibung:

Manuel Schulz studierte Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Marburg und promoviert (Stand 01/2021) am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gesellschaftstheorie, Zeitsoziologie, Wirtschaftstheorie und Leibphänomenologie. Zuletzt veröffentlicht: