Die Ethik der Quarantäne

Von Oliver Krüger (Hamburg)

Die Quarantäne scheint in Zeiten von COVID-19 eine selbsterklärende Maßnahme geworden zu sein. Nicht nur einzelne Personen, sondern die Personengruppen ganzer Regionen und Länder werden unter Quarantäne gestellt. Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit und Dringlichkeit der Quarantänemaßnahmen wird gerne deren ethische Reflexion außer Acht gelassen. Dabei lohnt es sich aus verschiedenen Gründen, sich mit der der Ethik der Quarantäne zu befassen.

Um die Pandemie von COVID-19 eindämmen zu können, ist die Quarantäne ein wichtiges Mittel. Eine Quarantäne ist eine besondere Form der Isolation. Diese repressive Maßnahme „konstituier[t] überwiegend Verhaltenspflichten“ (Mers, 2019, S. 15) der infizierten oder möglichweise infizierten Person(en). Die Quarantänemaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 dienen dem Zweck, eine weitere Ausbreitung des Virus‘ zu verhindern. Es geht also darum, andere Menschen vor einer Infektion zu schützen. Genau in diesem Punkt liegt ein entscheidendes Rechtfertigungselement von Quarantänemaßnahmen. Sie stehen im Widerspruch zur Freiheit des Einzelnen. Der Staat nimmt bei der Verordnung einer Quarantäne eine Werteabwägung vor: Die Rechte auf körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung werden gegenüber den Grundrechten der (potentiell) Infizierten vorrangig behandelt (Mers, 2019, S. 16). Auch wenn im Rahmen der Krisensituation, die mit dem Coronavirus einhergeht, diese Abwägung einleuchtend erscheint, ist sie ethischer und rechtstheoretisch nicht unumstritten.

Prima facie könnte man eine Quarantänemaßnahme als paternalistischen Akt des Staates ansehen. Doch diese Einschätzung ist falsch. Bei paternalistischen Eingriffen geht es um Freiheitseinschränkungen zugunsten des Wohls einer Person. Bei der Quarantäne geht es dagegen nicht um das Wohl des Betroffenen, sondern um den Schutz der Bevölkerung. Da es sich bei COVID-19 um einen Virus handelt, dessen Epidemiologie und Pathogenität einen pandemischen Verlauf aufweist, sollte die weitere Übertragung zu anderen unterbunden werden. Dem Staat geht es nicht primär um das Wohlergehen des einzelnen Infizierten, sondern um die Auswirkungen, die die Infizierung mit sich bringt. Dabei macht der Staat ein Schutzrecht gegenüber seinen Bürgern geltend, das sich aus dem Schadensprinzip herleitet.[1] An dieser Stelle der Rechtfertigung von Quarantänemaßnahmen lassen sich nicht vollends unstrittige Punkte identifizieren.

Erstens ist nicht eindeutig erkennbar, welche Maßnahmen der Gefahrenabwehr zu welchem Zeitpunkt richtig sind. Bei Infektionskrankheiten gibt es in der Regel eine medizinische Einschätzung, auf deren Grundlage die jeweilige Quarantänemaßnahme zur Gefahrenabwehr evaluiert wird. Diese besondere Stellung von humanmedizinischen Erkenntnissen lässt sich unschwer an den täglichen Briefings des RKIs erkennen. An dieser Stelle soll diese Expertise nicht hinterfragt oder infrage gestellt werden. Es geht lediglich darum, die Sonderstellung zu konstatieren. Gerade vor dem Hintergrund, dass dieses Wissen die Grundlage für die Legitimierung von fundamentalen Grundrechtseinschränkungen darstellt, ist mit ihm eine besondere Verantwortung verbunden.

Zweitens ist der Schutz der Bevölkerung schlussendlich eine sehr vage Bestimmung, die unterschiedlich auslegbar ist. Die Quarantäne einer/s einzelnen Patient*in ist eine Maßnahme, die man problemlos auf den Schutz Dritter anwenden lässt. Es ist nicht erwünscht, dass Dritte eine schwere Infektionskrankheit bekommen, die ihr Leben gefährdet. Gerade bei dem Coronavirus ist diese Argumentation für einige in der Bevölkerung nicht nachvollziehbar. Die unmittelbare Gefährdung durch COVID-19 ist für viele nur schwer greifbar, weil das Virus nur vermittelt in Erscheinung tritt. Wir müssen unser Sozialverhalten im Hinblick auf eine Gefahr anpassen, die unsichtbar ist. Jene Gefahr tritt nur in Erscheinung, wenn wir von Erkrankten oder Sterbenden erfahren. Inwiefern vor diesem Hintergrund Quarantänemaßnahmen sinnvoll und nachvollziehbar sind, bleibt für einen Großteil der Bevölkerung eine abstrakte Frage. Sobald die Quarantäne also eine größere Bevölkerungsgruppe betrifft, ist für einige der unmittelbare Bevölkerungsschutz nicht mehr nachvollziehbar. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sich einige Menschen nicht an Ausgangssperren und Quarantänemaßnahmen halten.

Drittens kann sich die Argumentation über den Schutz Dritter nicht vollends von utilitaristischen Argumentationsmustern befreien. Allein die Ausweitung dieses Schutzes von der Individual- auf die Kollektivebene, von dem Einzelnen auf die Bevölkerung intendiert die Idee, dass eine größtmögliche Anzahl an Menschen gerettet werden sollte. Der Zweck der politischen Maßnahmen wird utilitaristisch begründet. Die Abwägungsentscheidung zugunsten des Bevölkerungsschutzes und gegen die Rechte des Einzelnen hat also im Kern einen utilitaristischen Rechtfertigungscharakter. Diese Rechtfertigung können einige unter Umständen nicht nachvollziehen – auch wenn ihre Argumentation im Krisenmodus der Coronavirus-Prävention gezwungenermaßen unsozial erscheint. Es gibt darüber hinaus einen rechtstheoretischen Einwand gegen die utilitaristische Argumentation. Sie kennt keine Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. Mers, 2019, 48-54). Dieses Problem ist aus den klassischen Trolley-Beispielen gängiger Ethikeinführungen bekannt. In utilitaristischen Lösungsansätzen von Trolley-Dilemmata spielen die Grundrechte des Einzelnen keine Rolle. Genauso verhält es sich im Bevölkerungsschutz: Der Utilitarismus sieht ihn als eine Güterabwägung zugunsten des Glücks der größten Zahl an Menschen. Vor diesem Hintergrund kommt Grundrechten immer eine nachgelagerte Rolle zu. Doch der liberale Rechtsstaat braucht qua seines Anspruchs eine hinreichende Argumentation, die die vorhandenen Rechte des Einzelnen berücksichtigt und unter Umständen auch schützt. Der Utilitarismus muss insofern beschränkt werden, als der Bevölkerungsschutz in ein adäquates Verhältnis zu den Grundrechten des Einzelnen gestellt werden muss.

Alle drei Einwände oder Vorbehalte gegen den Bevölkerungsschutz laufen letztlich auf eine entscheidende Frage hinaus: Sind die Maßnahmen des Infektionsschutzes verhältnismäßig? Diese Frage sollte auch bei der Bewertung der Quarantänemaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 eine entscheidende Rolle spielen. Die Rechte des Einzelnen sollten über den Bevölkerungsschutz nicht bedingungslos ausgehebelt werden. Es sollte jeder und jedem bewusst sein, dass Quarantänemaßnahmen mit Grundrechtseinschränkungen einhergehen und von daher eine ultima ratio sind und bleiben sollten. Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass Grundrechtseinschränkungen vor dem Hintergrund von Pandemien möglich und teilweise sogar auch notwendig sind. Trotz einiger epidemiologischer Ungewissheiten im Hinblick auf COVID-19 ist der pandemische Verlauf eine gesicherte Grundlage. Von daher sind Quarantänemaßnahmen zur Vorbeugung einer Ausbreitung von Coronaviren durchaus legitim.

Die Ethik in Zeiten von COVID-19 ist eine Ethik des Notfalls. Hier gelten bestimmte Ausnahmebedingungen, die die Rechte Einzelner außer Kraft setzen können (vgl. Sass 2009). Es ist aber zu betonen, dass die damit einhergehenden Maßnahmen nur und ausschließlich für den Notfall gelten dürfen. Das gilt auch für Quarantänemaßnahmen. Aus ethischer Sicht sind solche Maßnahmen zwar legitim, aber in zwei Hinsichten nicht selbsterklärend. Erstens sind Quarantänemaßnahmen nicht frei von Rechtfertigung. Politiker*innen und andere Entscheidungsträger*innen müssen sich immer bewusst machen, dass sie die zu ergreifenden Quarantänemaßnahmen zu jeder Zeit rechtfertigen müssen. Zweitens müssen die Quarantänemaßnahmen absolute Ausnahmen bleiben. Alle Grundrechtseinschränkungen müssen nach der Corona-Krise bedingungslos zurückgenommen werden. Danach muss die gelaufene und zukünftige Pandemieprävention sowie die damit einhergehenden Quarantänemaßnahmen einer ethischen und rechtstheoretischen Reflexion ausgesetzt werden. Diese Erkenntnis sollte einer der vielen Lernfaktoren aus der derzeitigen Situation sein.


[1] Das Schadenprinzip (harm principle) charakterisiert John S. Mill wie folgt: „Dies Prinzip lautet: dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten“ (Mill, 1859, S. 18f.).


Oliver Krüger arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem Schwerpunkt Lehre für Sozialwissenschaften und Ethik an der Medical School Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Jüngst ist seine Dissertation unter dem Titel Das Gute im Sozialen. Eine perfektionistische Grundlegung des Sozialstaats(Campus, 2019) erschienen.


Literatur

Mers, Jutta (2019): Infektionsschutz im liberalen Rechtsstaat, Baden-Baden: Nomos.

Mill, John S. (1859): Über die Freiheit, Stuttgart: Reclam 2010.

Sass, Hans-Martin (2009): Ethische Risiken und Prioritäten bei Pandemien, Zentrum für medizinische Ethik, eingesehen am 21.03.2020 unter https://www.ruhr-uni-bochum.de/malakow/mam/zme/materialien/mm_181.pdf