Impfskeptizismus: Anthroposoph:innen in der Verantwortung

Von Matthias Kramm (Wageningen)


Wenn ich nun das Werk Rudolf Steiners analysiere, so durch eine wissenschaftsphilosophische Linse. Es geht mir nicht darum, das Werk oder die Person Rudolf Steiners in irgendeiner Weise zu verunglimpfen. Ich habe durchaus Sympathien für einige Aspekte seines Werks, insbesondere in den Bereichen der Ästhetik und der Pädagogik. Der anthroposophisch inspirierte Joseph Beuys zählt zu meinen Lieblingskünstlern und der holistische Ansatz der Waldorfpädagogik ist – wenn auch etwas aus der Zeit gefallen – eine spannende Alternative zum verkopften humanistischen Bildungsideal oder zu dessen neoliberal ausgehöhltem Nachfolgeparadigma.

Dennoch: Rudolf Steiner hat den Anspruch erhoben, Geisteswissenschaft zu betreiben, und bezieht sich dabei auf zwei wissenschaftliche Grundsätze: (1) Fallibilismus und (2) Reproduzierbarkeit. So gesteht Steiner zu, dass „auch der geistigen Anschauung keine Unfehlbarkeit innewohnt“ und Irrtum möglich bleibt (Steiner, SKA 8, S. 48). Ebenso beschreibt er, dass geisteswissenschaftliche Einsichten „von jedem denkenden Mensch nachgeprüft werden“ können (Steiner, GA 73a, S. 469). Aber diese Berufung auf Fallibilismus und Reproduzierbarkeit bleibt fragwürdig und kann Anthroposoph:innen meines Erachtens nach als Vorwand dienen, sich nicht kritisch mit Steiners Werk auseinandersetzen zu müssen.

Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft

Steiners Begriff der Geisteswissenschaft unterscheidet sich nämlich in mehrfacher Hinsicht von dem Begriff der Geisteswissenschaft, wie ihn Wilhelm Dilthey begründet. Laut Dilthey (1910) unterscheiden sich Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft dadurch, dass sich erstere dem Verstehen und zweitere dem Erklären widmet. Die grundlegende Methode der Geisteswissenschaft ist dabei die Hermeneutik, mithilfe derer die Erzeugnisse des menschlichen Geistes, wie beispielsweise Kunst und Literatur, interpretiert werden. In einer Zirkelbewegung  wird dabei das Einzelne in einem Vorgriff auf das Ganze erschlossen. Das Ganze wiederum ist nur im Hinblick auf das verstandene Einzelne begreifbar. Hermeneutik ist daher ein dynamisches Geschehen, das sich zwischen dem Einzelnem und dem Ganzen hin und her bewegt und niemals ganz abgeschlossen sein kann.

Naturwissenschaft hingegen bezieht sich auf die Natur und versucht, diese zu erklären. Diltheys Ausführungen sind hier leider noch einem Positivismus verhaftet, weshalb ein Blick auf das Werk des Wissenschaftsphilosophen Imre Lakatos (1977) hilfreich ist. Wissenschaftliche Theorien sind Lakatos zufolge Forschungsprogramme, die aus einem Kern von Grundüberzeugungen und einem Gürtel von Arbeitshypothesen bestehen. Wissenschaftliche Theorien werden demzufolge modifiziert, wenn sie Voraussagen machen, die nicht eintreffen. Dabei werden zunächst Arbeitshypothesen gebildet. Und nur wenn diese weiterhin zu fehlerhaften Voraussagen führen, wird der Kern umgebaut.

Das Problem an Steiners Begriff der Geisteswissenschaft ist nun, dass er nicht auf das Verstehen beschränkt bleibt, sondern sich auch im Erklären versucht. Damit unterscheidet er sich grundsätzlich vom Geisteswissenschaftsbegriff Diltheys und dem seiner Nachfolger Gadamer und Ricœur. Auch sein Bezug auf Fallibilismus und Reproduzierbarkeit lassen eher an ein naturwissenschaftliches Modell denken. Steiner nimmt an, dass es ihm mit seiner geisteswissenschaftlichen Methode möglich ist, Einsichten über das Wesen der geistigen Welt zu erhalten, sodass er diese – in einem gewissen Maße – erklären kann. Dabei beschreibt er die Geisteswissenschaft als „wahre Fortsetzerin der naturwissenschaftlichen Forschung“, die allerdings Erkenntnisfähigkeiten benötigt, die Forschende erst durch geistig-seelische Übungen ausbilden müssen (Steiner, GA 35, S. 159).

Während Geisteswissenschaft im Verständnis von Dilthey, Gadamer und Ricœur stets dynamisch bleibt und Interpretationen hinterfragt werden können, beansprucht Steiner Erkenntnis über das Wesen der Welt. Dabei bleibt sein Bezug auf Fallibilismus und Reproduzierbarkeit aber unzureichend. Für die Reproduzierbarkeit seiner Einsichten lassen sich keine intersubjektiven Kriterien nennen. Wenn jemand Steiners Anweisungen und Meditationen folgt und zu abweichenden Einsichten gelangt, anhand welcher Kriterien lässt sich dann klären, ob diese Person oder Steiner im Recht ist? Noch problematischer wird seine Aussage dadurch, dass zur Erlangung dieser Einsichten spezielle Erkenntnisfähigkeiten erforderlich sind. Auch hier fehlt es an intersubjektiven Kriterien, um zu bestimmen, ob eine Person diese Erkenntnisfähigkeiten ausgebildet hat oder nicht. Möglich wäre allenfalls ein Zirkelschluss, dass jemand, der Einsichten hat, die denen Steiners gleichen, auch die zugrunde liegenden Erkenntnisfähigkeiten entwickelt hat. Da Steiners Fallibilismus auf dieser Reproduzierbarkeit basiert, kann er ebenfalls nicht herangezogen werden. Da es keine intersubjektiven Kriterien dafür gibt, Steiner einen Irrtum nachzuweisen, bleibt nur er selbst als Kritiker seiner selbst. Das aber ist für einen Fallibilismus zu wenig (vgl. Hansson, 1991).

Im 18. Jahrhundert hat Immanuel Kant die Visionen seines Zeitgenossen Emanuel Swedenborg als Träume eines Geistersehers kritisiert (Kant, 1766). Eine solche verbale Aufrüstung ist im Falle Steiner unangebracht, da Steiner sich zumindest um eine Nachvollziehbarkeit seiner Entdeckungen bemüht hat, indem er seine Einsichten durch meditative Methoden anreicherte, mittels derer diese nachvollzogen werden können. Dennoch ist ihm das nur sehr bedingt gelungen, weshalb Anthroposoph:innen ein kritischer Blick auf seine Ansichten erlaubt sein sollte. Andernfalls droht seine Geisteswissenschaft in einen Autoritätsanspruch zu zerfallen.

Anthroposophie und Impfskeptizismus

Im Weltbild Steiners werden Krankheiten nicht allein auf „materialistischer“ Basis erfasst, sondern auch auf geistlicher Basis. So unterscheidet Steiner zwischen Astralleib, Ätherleib, physischem Leib und Ich. Dabei werden Parallelen zu psychosomatischen Einsichten erkennbar. Entsprechend erscheint Anthroposoph:innen eine Impfung als einseitige, „materialistisch“ orientierte Lösung, die einen wesentlichen Teil der Realität – den geistigen – ignoriert. Steiner selbst hat allerdings vor einem Anti-Impf-Fanatismus gewarnt und lässt Impfen zu, wenn ein spiritueller Schutz gegen Krankheiten schwer erreichbar ist (Steiner, GA 314, S. 288). Auch wenn Steiner Impfung nicht explizit empfiehlt, sondern nur unter bestimmten Umständen zulässt, so hätte sein Argument durchaus Folgen für den gegenwärtigen Impfskeptizismus unter anthroposophisch geschulten Bürger:innen – zumindest insoweit, als dass Impfskeptiker davon absehen sollten, andere von ihrer Haltung zu überzeugen. Steiner ist kritisch gegenüber jedwedem Fanatismus, der einen unmittelbaren Gesinnungswandel fordert und spirituelles Wachstum überspringt. Entsprechend lehnen anthroposophische Ärzt:innen Impfungen nicht generell ab, sondern argumentieren dafür, die individuelle Impfentscheidung zu respektieren.

Problematisch an diesem Argument ist in der gegenwärtigen Pandemie-Situation allerdings, dass eine individuelle Impfentscheidung direkte Konsequenzen für das Allgemeinwohl hat. Wer sich nicht impfen lässt, hat eine statistisch höhere Wahrscheinlichkeit für einen schweren Krankheitsverlauf und damit auch eine höhere Wahrscheinlichkeit eines Krankenhausaufenthaltes. Ungeimpfte können Krankenbetten belegen, die für andere Operationen fehlen. Da Steiners Anthroposophie vor allem die Freiheit des Einzelnen betont, fehlt in seinem Werk eine explizite Diskussion derartiger Fragen des Gemeinwohls. Solche Verbindungen könnten aber durch Anthroposoph:innen gezogen werden, indem sie Steiners Äußerungen zur Impfung auf seine Idee einer Dreigliederung des sozialen Organismus anwenden. Steiner selbst neigte zu dem Optimismus, dass das spirituell entwickelte Individuum automatisch im Sinne des Gemeinwohls handeln würde. Aber wie sieht es mit Impfen in einer Welt aus, in der dieses Endstadium spiritueller Entwicklung – sowohl im individuellen, als auch im sozialen Sinne – noch in weiter Ferne liegt?

Entsprechend wäre ein kritischer Umgang mit dem Gesamtwerk Steiners und seiner Auffassung von Krankheit angebracht, um Steiners Anspruch, Geisteswissenschaft zu betreiben, nachzukommen. Da Steiners Einsichten nicht reproduzierbar oder fallibel sind, stehen Anthroposoph:innen in der Verantwortung, intersubjektive Kriterien zu entwickeln, welche seine Einsichten einer Überprüfung zugänglich machen. So könnten Brücken zur Schulmedizin geschlagen werden, um Steiners Aussagen zu prüfen oder zumindest zu kontextualisieren. Zum Beispiel haben Shang et al. homöapathische Methoden durch Placebo-Studien mit Kontrollgruppen untersucht (Shang et al., 2005). Ebenso wäre eine kritische Auseinandersetzung mit der Biographie Rudolf Steiners wünschenswert (vgl. Zander 2011) und eine kritische Edition der Steiner Gesamtausgabe, zu der David Marc-Hoffmann und Christian Clement bereits erste wichtige Veröffentlichungen beigesteuert haben. Insofern das nicht geschieht, bleibt Anthroposophie die Geheimwissenschaft einiger weniger, die ihrem Meister lauschen. Eine solche Schüler-Meister-Beziehung wäre aber nicht im Sinne Steiners, der seine Methode bewusst als Geisteswissenschaft anlegen wollte und eben nicht als autoritäre Geheimwissenschaft.


Anerkennung:

Vielen Dank an Ansgar Martins für die Durchsicht einer früheren Version dieses Artikels und für wertvolle Kommentare und Hinweise. Bleibende Fehler und Ungenauigkeiten sind selbstverständlich meine eigenen.


Referenzen:

Dilthey, Wilhelm, 1910, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, In: ders.: Gesammelte Schriften, Band 7, herausgegeben von Bernhard Groethuysen, Stuttgart 1965, S. 246–251.

Hansson, Sven Ove, 1991, Is Anthroposophy Science?, Conceptus XXV, 64, pp. 37–49.

Kant, Immanuel, 1766, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, In: ders.: Vorkritische Schriften, Band 2, herausgegeben von Artur Buchenau, Berlin: Bruno Cassirer 1912 (= Immanuel Kants Werke II), S. 329–390 und 481–484.

Lakatos, Imre, 1977, The Methodology of Scientific Research Programmes: Philosophical Papers,  Volume 1, Cambridge: Cambridge University Press.

Shang, Aijing, Huwiler-Müntener, Karin, Nartey, Linda, Jüni, Peter, Dörig, Stephan, Sterne, Jonathan, Pewsner, Daniel, Egger, Matthias, 2005, Are the clinical Effects of Homoeopathy Placebo Effects? Comparative Study of Placebo-controlled Trials of Homoeopathy and Allopathy, Lancet 366(9487), pp. 726–732.

Steiner, Rudolf, 2016, Schriften – Kritische Ausgabe, Band 2, herausgegeben von Christian Clement, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog.

Steiner, Rudolf, 1961–2025, Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Rudolf Steiner Verlag.

Zander, Helmut, 2011, Rudolf Steiner: Die Biografie, München, Berlin: Piper.


Matthias Kramm ist politischer Philosoph und arbeitet derzeit als Postdoktorand im GEOS-Projekt an der Universität Wageningen. Dort befasst er sich mit den Weltbildern indigener Völker und den politischen Herausforderungen indigener Selbstbestimmung. Seine weiteren Forschungsschwerpunkte umfassen Fragen der Entwicklungsethik, der Verteilungsgerechtigkeit und der Natur als Rechtssubjekt.