Kleinkinder und Corona
von Monika Platz (München)
Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Aufsatz, der in einem Schwerpunkt zur COVID-19 Pandemie in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift für Praktische Philosophie (ZfPP) erschienen ist. Der Aufsatz kann auf der Website der ZfPP kostenlos heruntergeladen werden.
Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder sollen nur im äußersten Notfall geschlossen werden – das schien lange Konsens in der Pandemiebekämpfung in Deutschland zu sein. Zu negativ waren die Erfahrungen aus dem ersten Lockdown. Dieser Konsens aber hat sich als fragil erwiesen. Er bröckelte seit Beginn der zweiten Welle im Herbst und wurde mit der neuerlichen Schließung der Betreuungseinrichtungen im Dezember 2020 begraben. Umso dringlicher ist es, aus kinderethischer Perspektive aufzuzeigen, warum es für das Wohlergehen der Kleinkinder so wichtig ist, Betreuungsstrukturen in den Einrichtungen aufrecht zu erhalten und den Kindern damit ein großes Stück Normalität zu ermöglichen.
Kleinkinder müssen durch die Einschränkungen bei der außerhäuslichen Betreuung gewichtige Wohlergehensverluste hinnehmen, da der abrupte Wegfall der Kita-Betreuung durch Eltern und Familie nicht oder nur teilweise kompensiert werden kann. Diese Wohlergehensverluste sind ethisch problematisch. Bei extremen Wohlergehensverlusten ist diese Annahme offensichtlich gut begründet: Denken wir an Fälle, in denen die Einrichtung den Kindern einen Schutzraum vor häuslicher Gewalt bietet, oder an Fälle, in denen die materielle Not in der Familie so groß ist, dass das warme Kita-Mittagessen zu Hause nicht angemessen ersetzt werden kann. In diesen Fällen liegt offensichtlich eine Gefährdung des Kindeswohls vor. Hier ist die Schließung von Betreuungseinrichtungen in ethischer Hinsicht nicht nur begründungsbedürftig, sondern hoch problematisch.
Wenn wir hingegen auf immaterielle Wohlergehensinteressen von Kleinkindern schauen, ist diese Bewertung weniger eindeutig. Ist es in ethischer Hinsicht ein relevanter und problematischer Verlust, wenn Kinder über Wochen hinweg ihre Erzieher_innen nicht sehen, wenn sie nicht mit Gleichaltrigen spielen können und wenn ihr Betreuungssetting weniger pädagogisch wertvoll ist? Ich gehe davon aus, dass auch diese immateriellen Wohlergehensverluste großes Gewicht haben und dass es ethisch problematisch ist, wenn die Kinder diese immateriellen Güter nur noch teilweise oder gar nicht mehr realisieren können.
Um diese ethische Relevanz der Schließung von Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder zu verstehen, muss man zwei Dinge zusammen betrachten: zum einen die Situation in den Kitas und zum anderen die Arbeitssituation der Eltern. Die beiden Faktoren hängen unmittelbar miteinander zusammen, denn Kleinkinder brauchen eine Ersatzbetreuung durch die Eltern, wenn die Kita schließt.
Nachdem viele Eltern während der Pandemie weiterhin arbeiten müssen, können sie den Wegfall der Kinderbetreuung nur teilweise auffangen. Sie haben nur begrenzt Zeit, mit den Kindern zu singen, zu basteln, zu spielen, draußen zu toben und so weiter. Empirische Studien, wie z.B. die vom deutschen Jugendinstitut im Frühsommer durchgeführte Studie mit dem Titel Kindsein in Zeiten von Corona, zeigen, dass die Eltern sich zwar sehr um ihre Kinder bemühen, aber nicht eben nebenbei eine Kita ersetzen können. Die Kinder verbringen signifikant mehr Zeit allein, sie fühlen sich häufiger einsam und die Auseinandersetzungen in den Familien nehmen zu. Gerade kleine Kinder vermissen ihre Erzieher_innen und die Gleichaltrigen aus der Kita-Gruppe. Das ersatzlose Verschwinden dieser Peer-Group können die Eltern nicht kompensieren.
Dazu kommt, dass in vielen Familien durch die Corona-Situation die allgemeine Belastung steigt. Gerade in kleinen Stadtwohnungen ohne Garten geht man sich schnell auf die Nerven. Dazu kommen materielle Sorgen aufgrund von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit. All diese Faktoren wirken sich mittelbar und unmittelbar auf das Wohlergehen der Kleinkinder aus. Zum Beispiel gibt es für die Kinder keinen Schutzraum, in dem sie nicht mit den Sorgen und Ängsten der Erwachsenenwelt konfrontiert sind. Einen solchen Raum bietet normalerweise die Kita. Dort können Kinder einfach Kinder sein und müssen sich nicht um Dinge der „Erwachsenenwelt“ kümmern. In Phasen des Lockdown, in denen die Familien 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche aufeinander sitzen, bekommen Kinder die Sorgen, Belastungen und Ängste der Eltern ungefiltert mit. Dadurch sind die Kleinkinder Stress ausgesetzt, der sie überfordert und mit dem sie nicht umgehen können.
Insgesamt zeigt sich aus kinderethischer Sicht ein eindeutiges Bild: Der ersatzlose Wegfall der außerhäuslichen Betreuung führt zu signifikanten Wohlergehensverlusten und mitunter zu Gefährdungen des Kindeswohls. Die Frage danach, ob und in welcher Form Kitas geöffnet bleiben können, ist daher ethisch dringlich.
Wie kann diese Erkenntnis in politischen Entscheidungsprozessen und bei der konkreten Ausgestaltung von Maßnahmen besser berücksichtigt werden? Dies kann nur gelingen, wenn die Perspektive der Kleinkinder konsequent mitgedacht wird. Idealerweise werden dabei Interessen von Kindern als genauso gewichtig bewertet wie die Interessen anderer, erwachsener Mitglieder der Gesellschaft. Dahinter steht die in der Kinderethik weit verbreitete Annahme, dass Kindern der gleiche moralische Respekt wie allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft gebührt. Kinder als in moralischer Hinsicht Gleiche zu sehen, bedeutet, ihre Interessen als Kinder ernst zu nehmen.
Dies gilt umso mehr in Anbetracht der Tatsache, dass Kleinkinder gegenüber politischen Entscheidungen und Verwaltungsmaßnahmen besonders verletzlich sind. Kleinkinder können nicht aktiv am politischen Entscheidungsprozess teilnehmen. Sie können sich auch nicht auf dem Rechtsweg oder durch Proteste gegen Maßnahmen wehren. Die spezifische Vulnerabilität von Kleinkindern verlangt es, Einschränkungen die Kleinkinder betreffen, besonders sorgfältig abzuwägen und zu begründen.
Meine Analyse zeigt, dass zentrale Punkte, hinsichtlich derer Situation der Kleinkinder verbessert werden kann, vor allem auf zwei Handlungsfelder der Pandemiebekämpfung entfallen. Diese Bereiche sind zum einen die außerhäusliche Betreuung und zum anderen die Arbeitssituation der Eltern.
Dem Wohlergehen der Kleinkinder ist am meisten gedient, wenn in den Kitas annähernder Regelbetrieb herrscht. Leider ist es Politik und Verwaltung nur bedingt gelungen, über die vergleichsweisen ruhigen Sommermonate robuste und differenzierte Öffnungskonzepte zu erarbeiten. Mit dem Herbst und dem Einsetzen der zweiten Welle, änderten sich für Kitas beinahe im Wochentakt die Regeln, was eine reibungslose und kontinuierliche Betreuung erschwerte und letztlich eine erneute flächendeckende Schließung nicht verhindern konnte.
In diesem Fall war und ist es besonders wichtig, im zweiten zentralen Handlungsfeld, nämlich bei der Situation berufstätiger Eltern, Entlastung zu schaffen. Eltern sollten in einer Weise unterstütz werden, die es ihnen erlaubt, ihre Kinder zu Hause adäquat zu betreuen. Für Eltern im Angestelltenverhältnis könnte dies zum Beispiel eine spezifische Form der Freistellung bei Lohnfortzahlung sein. In vielen Fällen sind Kinderkrankentage, Urlaubstage, Überstunden und nicht zuletzt der gute Wille der Arbeitgeber_innen nach Monaten der Betreuungseinschränkungen aufgezehrt. Hier braucht es im Interesse der Kleinkinder dringend rechtlich abgesicherte Entlastungsmöglichkeiten für die Eltern. Darüber hinaus könnte es für Eltern eine besondere Form des Kündigungsschutzes geben, damit nicht die notgedrungene häusliche Betreuung der Kleinkinder zum Arbeitsplatzverlust führt. Ebenso sollte das Konzept des Corona-Elterngeldes weiterverfolgt und verbessert werden, um beispielsweise selbständig arbeitende Eltern zu entlasten.
Weiterhin ist es wichtig, dass Hilfs- und Unterstützungsangebote für Familien auch dann fortbestehen, wenn drastische Einschränkungen des öffentlichen Lebens nötig sind. Solche Unterstützungsangebote sind essenziell für Familien, die nicht aus eigener Kraft das Wohlergehen der Kleinkinder sicherstellen können. Kleinkinder, die in dysfunktionalen familiären Strukturen leben, sollten nicht durch die Corona-Maßnahmen zusätzlichen Gefährdungen ihres Wohlergehens ausgesetzt sein.
Abschließend bleibt zu sagen, dass in der großen ethischen Herausforderung der Pandemiebekämpfung die Wohlergehensinteressen der Kleinkinder nur ein Aspekt unter vielen sind. Allerdings stellen Kleinkinder eine der vulnerabelsten Gruppen der Gesellschaft dar. Ihre Interessen laufen häufig Gefahr, nicht ausreichend berücksichtigt zu werden. In diesem Sinne versteht sich dieser Beitrag auch als ein Appell dafür, Kleinkinder in der Pandemie-Bekämpfung nicht aus dem Blick zu verlieren und dafür zu sorgen, dass es hinsichtlich der Verwirklichung der gerechtfertigten Interessen der Kinder nicht bei bloßen Lippenbekenntnissen bleibt.
Monika Platz promoviert an der Ludwig-Maximilians-Universität am Lehrstuhl für Praktische Philosophie zu der Frage, was eine aus ethischer Sicht gute Beziehung zwischen Lehrer_in und Schüler_in auszeichnet. Sie ist Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes und ihre philosophischen Schwerpunkte liegen neben der Bildungsphilosophie in der Kinderethik und der Allgemeinen Ethik.