Medizinethik und COVID 19
Von Sabine Salloch (Greifswald)
Die gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen der COVID 19-Pandemie beeinflussen unser Leben in erheblicher, bisher oft ungekannter Weise. Individuelle Perspektiven und Einschätzungen zu Risiken, Pandemie-bezogenem Verhalten und staatlichen Maßnahme variieren erheblich und werden, meinem Eindruck nach, sowohl durch die beruflich-fachliche Perspektive als auch durch die persönliche Lebenssituation der Person geprägt, die jeweils als Sprecher*in auftritt. In der Überzeugung, dass Lebenserfahrung bei der moralischen Bewertung einen unhintergehbaren Stellenwert besitzt und dass zugleich die Erklärung von Interessenkonflikten ein zentrales ethisches Gebot darstellt, versteht sich auch dieser Beitrag als beides: als Gedankensammlung einer Medizinethikerin zum jetzigen Zeitpunkt des Pandemiegeschehens und als Ausdruck der Perspektive einer Mutter zweier (noch nicht schulpflichtiger) Kinder mit Wohnort Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern).
Die medizinethische Fachcommunity hat national wie international mit beeindruckender Schnelle auf die COVID 19-Pandemie und ihre (schon offensichtlichen oder antizipierten) ethischen Implikationen reagiert. In kürzester Zeit und in hervorragender Zusammenarbeit mit medizinischen Fachgesellschaften und anderen wissenschaftlichen Disziplinen wurden Stellungnahmen und Handreichungen veröffentlicht, Materialien zusammengestellt und Formen des Austauschs zu klinisch-ethischen und forschungsethischen Herausforderungen im Kontext von COVID 19 gefunden. Die Triage von Patient*innen angesichts nicht ausreichender, insbesondere intensivmedizinischer Behandlungsmöglichkeiten steht im Mittelpunkt vieler dieser Arbeiten. Ein Blick in die Zukunft erscheint zum jetzigen Zeitpunkt gewagt, aber angesichts der Infektionszahlen Mitte April 2020 besteht vorsichtige Hoffnung, dass es in Deutschland eine intensivmedizinische Triage absehbar nicht in hohem Umfang geben muss. Weltweit bleibt das Thema unbestritten von größter Wichtigkeit, jedoch stellt sich die Realität der Versorgung in anderen Staaten zum Teil grundlegend anders dar, so dass deutsche Stellungnahmen nicht ohne Weiteres übertragbar sind.
Demgegenüber werden andere Themen, die ebenfalls von hoher (medizin-)ethischer Bedeutung sind, bisher meiner Wahrnehmung nach seltener ausführlich aufgegriffen. Ich erlaube mir daher im Folgenden die Freiheit einer unsystematischen Zusammenstellung von Aspekten, die sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion stärker in den Vordergrund gerückt werden sollten.
1) Verluste an Gesundheit durch COVID 19-bezogene Maßnahmen („Kollateralschäden“)
Zur Schaffung von Kapazitäten für die Behandlung von COVID 19-Patient*innen werden die Leistungen in den Krankenhäusern und in der ambulanten Versorgung an vielen Stellen auf ein Minimum reduziert. Zugleich herrscht, insbesondere in Regionen mit geringer Fallzahl, „Leerstand“ in den Kliniken. Es erscheint mir dringend geboten, die gesundheitlichen Folgen für „Nicht-Corona-Patient*innen“, die durch eine erschwerte und verzögerte Versorgung entstehen, in den Entscheidungen über die Strukturierung des Gesundheitswesens unter Pandemiebedingungen stärker zu berücksichtigen. Zudem häufen sich Berichte aus der Krankenversorgung, die darauf hinweisen, dass Patient*innen mit akut behandlungsbedürftigen Zuständen (Apoplex, Myokardinfarkt) aus Angst vor einer Infektion zögern, einen Rettungsdienst zu rufen oder die Klinik aufzusuchen. Auch hier muss entgegengewirkt werden.
2) Soziale Determinanten von Gesundheit
Nicht allein Qualität und Kapazität der Krankenversorgung sind ausschlaggebend für die menschliche Gesundheit. Jahrzehntelange Forschung zeigt, dass soziale Bedingungen und Lebensumstände (u.a. Stress, Bildung, Arbeit, Einkommen, Wohnsituation, Ernährung, Suchtmittelkonsum) einen entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität von Menschen haben. Die genannten und andere Faktoren aber werden durch die im Rahmen der COVID 19-Pandemie ergriffenen Maßnahmen (u.a. Kontaktverbot, Schließung von Schulen und Kitas, Home Office) an vielen Stellen zum Negativen verändert. Es ist aus meiner Sicht essentiell, zum jetzigen Zeitpunkt aufzupassen, dass die Mitigation der Pandemie nicht als Folge zu einem höheren Verlust an (gesamtgesellschaftlicher) Gesundheit führt als demgegenüber ein (gesundheitsbezogener) Gewinn erreicht werden kann. Ein Vorteil der Einbeziehung der sozialen Determinanten von Gesundheit in die Betrachtung liegt zudem darin, dass wir dann nicht länger das „höchste Gut“ Gesundheit gegen andere gesellschaftliche Güter (wirtschaftliche Prosperität; Bildung; Infrastruktur) argumentativ ausspielen müssen.
3) Gruppenbezogene Gerechtigkeit: das Beispiel Kinder
Kleine Kinder halten sich naturgemäß nicht an die Abstandsregeln, die eine physische Annäherung auf weniger als zwei Meter untersagen und für die Eindämmung der Verbreitung von COVID 19 entscheidend sind. (Ältere Kinder und Jugendliche übrigens meiner Erfahrung nach auch nicht.) Zugleich ist bekannt, dass Kinder von COVID 19 erfreulicherweise nur selten betroffen sind und bei Infektion in der Regel sehr leichte Erkrankungsverläufe zeigen. (Vereinzelt gibt es schwere Verläufe und Todesfälle, insbesondere bei schwer vorerkrankten Kindern.)
Kinder gehören zu den sozialen Gruppen, die von den bisher staatlicherseits ergriffenen Maßnahmen am stärksten betroffen sind (u.a. Einschränkung der Bildungsmöglichkeiten, Verlust fast aller sozialer Kontakte mit Gleichaltrigen, Verlust von erwachsenen Bezugspersonen, Eingesperrtsein, Betreuung durch stark belastete Eltern, Zunahme häuslicher Gewalt). Die Mitte April 2020 vorgesehen Lockerungen der „Corona-Maßnahmen“ sehen eine nur schrittweise Wiederaufnahme des Schulunterrichts in der Zukunft und eine fortgesetzte Schließung der Kitas vor. Die „Kleinen“ dürfen nur dann in eine Notfallbetreuung, wenn die Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiten. Ein Eigenwert wird den Kindern im Rahmen dieser Argumentation nicht zuerkannt. Im Klartext: Kinder (insbesondere kleine Kinder) haben keine Lobby in der „Corona-Krise“ und müssen aktuell den Kopf hinhalten für gesundheitliche Belange, die sie selbst nur marginal betreffen.
4) Die globale Perspektive
Nur ein paar Schlaglichter: Der Ausbruch von COVID 19 in Bürgerkriegsländern (u.a. Jemen) und Flüchtlingslagern droht und damit verheerende Folgen. Donald Trump hat angekündigt, die Zahlungen der USA an die Weltgesundheitsorganisation inmitten der Corona-Pandemie einzustellen (15.04.2020). Epidemien der vergangenen Jahrzehnte (u.a. Ebola 2014-2016) haben deutlich werden lassen, dass die Vernachlässigung „regulärer“ Maßnahmen in Medizin und Prävention (u.a. Masernimpfungen) Gefahr läuft, einen schlimmeren Schaden anzurichten als das Virus selbst. Erst langsam richtet sich die europäische Aufmerksamkeit auf die sozialen (und damit auch gesundheitlichen!) Folgen der Pandemie in Entwicklungs- und Schwellenländern: Aufgrund von staatlichen Restriktionen können Slumbewohner*innen keiner Arbeit mehr nachgehen und drohen zu verhungern, europäische Modeketten stornieren Aufträge in den Textilketten Asiens und Tagelöhnerinnen verlieren ihr Einkommen, Diktatoren bedrohen die Nichtbeachtung der Ausgangssperre mit Folter und Erschießung. Dies sind nur Skizzen der Probleme, die bei einer Verengung der Sichtweise auf COVID 19 aus dem Sichtfeld geraten, wenn wir die Pandemie als ein rein medizinisches Phänomen auffassen oder aber Handlungsstrategien auf den europäischen Raum begrenzen.
Fazit
Bei keinem anderen Thema ist mir als Medizinethikerin bisher stärker bewusst geworden, welche Bedeutung die Position, auf der ich als Sprecherin stehe (biographisch, örtlich, zeitlich), für meine Bewertung der ethisch relevanten Zusammenhänge hat. Ich möchte dazu einladen, die Betroffenheit durch COVID 19 als Ressource für die eigene ethische Entwicklung zu nutzen. Lasst uns lernen! Lasst uns lernen über unsere Bewertungsmaßstäbe und subjektiven Perspektiven, um zugleich den philosophisch gebotenen Blick ins Weite zu öffnen. Es reicht nicht, sich auf das vordergründig medizinische Problem COVID 19 zu beschränken, sondern die Pandemie fordert uns zu einer umfassenden Betrachtungsweise von globalen gesellschaftlichen Zusammenhängen und Fragen der Gerechtigkeit auf.
Sabine Salloch ist promovierte Medizinerin und Philosophin und leitet als Juniorprofessorin das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Greifswald. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich ethischer Fragen am Lebensende, der bioethischen Methodologie und der Professionalität im Gesundheitswesen. Ihre philosophische Dissertation beschäftigt sich mit praktischer Urteilskraft: Prinzip, Erfahrung, Reflexion: Urteilskraft in der Angewandten Ethik, Paderborn: mentis 2016.