Philosophie in der Quarantäne. Über Krisen (in) der Philosophie
Von Georg Spoo (Freiburg)
Zu Beginn der Corona-Krise gab es aus den Reihen der Philosophie vielfältige Wortmeldungen zu allen möglichen Aspekten der Krise. Nicht selten wurden dabei aber nur Allgemeinplätze oder alte Positionen reproduziert, neue Einsichten und Aktualität wurden häufig bloß rhetorisch suggeriert.
Bei vielen Wortmeldungen hatte man deshalb den Eindruck, dass sie der Unsicherheitsbewältigung und Selbstvergewisserung von Intellektuellen dienten. Anstatt Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, verschwiegene Voraussetzungen freizulegen und Kritik zu üben, nahm die Philosophie häufig neue Gewissheiten hin, bestätigte die kursierenden Meinungen, und half bei der kollektiven Beruhigungsarbeit. Wenn man davon ausgeht, dass es für die Philosophie wesentlich ist, vordergründige Gewissheiten in Frage zu stellen, und sie im Äther der Ungewissheit heimisch ist, dann erscheint die philosophische Reaktion auf die Corona-Krise geradezu als unphilosophisch.
Allerdings kann man diese Diagnose auch umdrehen: Wenn Krisen gesellschaftliche Normalzustände auf den Kopf stellen, dann stellt das auch die Philosophie auf den Kopf. Wenn Meinungen, Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten nicht mehr durch die Philosophie, sondern durch die in die Krise geratene Wirklichkeit selbst erschüttert werden, wozu sollten dann noch die Erschütterungen der Wirklichkeit philosophisch wiederholt werden, wenn sie doch ohnehin für alle offenkundig sind? Man könnte meinen, wenn Krise und Ausnahme die neue Normalität sind, bestehen philosophische Ent-Normalisierung und Ent-Selbstverständlichung darin, einen Gegenpol zu Krise und Ausnahme zu bilden. Wenn die Philosophie wenig neue Erkenntnisse zur Krise anbieten konnte, lag das vielleicht einfach daran, dass sich an der Krise nichts zeigt, zu dem es nicht schon philosophische Antworten gegeben hätte. Demnach wäre es nicht unphilosophisch, alte Einsichten zu widerholen, sondern das Bedürfnis, etwas Neues sagen zu müssen. Auch davon gab es im öffentlichen Diskurs einige Beispiele. Es kann offenbar in die Irre führen, eine Krise automatisch als Ausnahme- und Novitätsphänomen zu begreifen. So schreibt auch Walter Benjamin in seinen Thesen über den Begriff der Geschichte, „daß der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist.“
Anstatt die lebensweltliche vorphilosophische Krisendiagnose also einfach atmosphärisch zu übernehmen, ist es Aufgabe der Philosophie, genuin philosophische Fragen und Positionen zur Krise zu schärfen. Offensichtlich muss sich die Philosophie hierzu auch Klarheit darüber verschaffen, was es für die Philosophie und ihr Selbstverständnis eigentlich bedeutet, unter Bedingungen gesellschaftlicher Krisen betrieben zu werden (neben der Corona-Krise sind natürlich vor allem noch die Klimakrise sowie die gesamtgesellschaftliche Krise aufgrund wachsender wirtschaftlicher und politischer Ungleichheit zu nennen). Diese Frage wiederum führt zu der grundsätzlichen Frage, in welchem Verhältnis die Philosophie zur Krise überhaupt steht. Schon ein kurzer Blick in die Philosophiegeschichte zeigt, dass die Krise der Philosophie nicht äußerlich ist, sondern ihr wesentlich zugehört, d.h. innerhalb der Philosophie selbst eine philosophische Rolle spielt: Die Krise ist nicht nur ein möglicher Gegenstand der Philosophie, sondern Modus und Vollzugsform philosophischen Denkens.
Ein besonders eindrückliches exemplarisches Zeugnis dieser innerphilosophischen Krisen im Vollzug des Philosophierens sind die Philosophien von Fichte, Schelling und Hegel. Ihre insgesamt knapp 40 philosophischen Wirkjahre im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gehören wohl zu den produktivsten, intensivsten und fruchtbarsten der ganzen bisherigen Philosophiegeschichte. Zugleich sind diese Jahre eine philosophisch hyperaktive Dauerkrise: Gerade die Werke von Fichte und Schelling haben oftmals den Charakter eines work in progress: Trotz ihres starken Systemanspruchs sind sie voll von inneren Spannungen, Brüchen, Aporien, Neuansätzen und Verwerfungen, ja manchmal wirken sie geradezu experimentell, flüchtig und fragil, sie überschlagen sich und spitzen sich zu Krisen zu, die das Werk bisweilen sprengen und es dann nur als Fragment hinterlassen. Während sich Hegel in der Anfangsphase der klassischen deutschen Philosophie noch im Hintergrund hält, erhebt er die permanente Krise im Philosophieren, von der Fichtes und Schellings Systemdenken ständig heimgesucht wird, dann mit der Dialektik zum bewusst gewählten methodischen Prinzip der Philosophie.
Die Krise und die Philosophie sind offenbar eng verschwistert: Schon das Höhengleichnis Platons drückt nicht nur den Weg philosophischer Erkenntnis der Wahrheit, sondern auch eine schmerzhafte Krisenerfahrung aus. René Descartes, mit dem die moderne Philosophie anhebt, inszeniert in seinen Meditationes die Krise als Anfang des Philosophierens auf geradezu paradoxe Weise: „Deshalb habe ich heute die Gelegenheit ergriffen und den Geist von allen Alltagspflichten freigemacht, habe alle Termine abgesagt, ziehe mich einsam zurück, und werde mich endlich ernsthaft und frei diesem allgemeinen Umsturz meiner Meinungen widmen.“ Beim Lesen dieser Zeilen könnte man fast meinen, die Quarantäne sei die Idealsituation modernen Philosophierens: Die Philosophie schirmt sich von den Krisen der Welt ab, um den geistigen Innenraum einer umso radikaleren Krise zu unterwerfen. Diese Quarantäne zieht eine für das Philosophieren fundamentale Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Philosophie und dem, was nicht Philosophie ist. Auch bei Platon gibt es diese Grenze, wobei sie bei ihm noch fließender ist und es gerade der Innenraum der Höhle ist, der den vor- oder nichtphilosophischen Standpunkt markiert, im Unterschied zum philosophischen Außen.
Ein ‚Philosophieren in der Quarantäne‘, das isolierte Denken in kontemplativer und teilnahmsloser Trennung von der Welt, sieht sich freilich spätestens mit Marx’ elfter Feuerbachthese scharfer Kritik ausgesetzt und in eine Krise versetzt: Die Interpretation der Welt ohne ihre Veränderung, so Marx, ist leere Scholastik. Diese Kritik ist allerdings nicht als einseitige Parteinahme für die Praxis gegenüber der Theorie zu verstehen. Die Pointe von Marx’ Kritik lautet, dass eine Philosophie, die nicht immer auch auf eine Veränderung der Wirklichkeit abzielt, diese Wirklichkeit auch nicht angemessen verstehen kann. Allerdings wird mit dieser radikal gemeinten marxistischen Philosophiekritik die fundamentale Unterscheidung zwischen Philosophie und dem Nicht-Philosophischen eigentlich kaum in Frage gestellt. Schlaglichtartig und symptomatisch wird das an dem klassischen Aufsatz von Max Horkheimer über „Traditionelle und kritische Theorie“ sichtbar, der diese Philosophiekritik aufgreift: Einerseits kritisiert er die ‚traditionelle‘ kontemplative Philosophie, restauriert zugleich aber den seinerseits traditionellen Unterschied zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie programmatisch als meta-philosophische Differenz eben zwischen traditioneller und kritischer Theorie. Auch die marxistische und ‚kritische‘ Theorie zieht gewissermaßen ‚traditionell‘ eine Grenze zwischen dem philosophisch aufklärenden und dem un-philosophisch aufzuklärenden Bewusstsein: Während sich die ‚traditionellen‘ Philosophien von dem ‚empirischen Bewusstsein‘, dem ‚naiven Standpunkt‘, dem ‚gemeinen Verstand‘ oder der ‚natürlichen Erfahrung‘ als dem nicht-philosophischen Außen der Philosophie abgrenzen, taucht das Nicht-Philosophische in den ‚kritischen‘ Philosophien des Marxismus und der Kritischen Theorie als das ‚falsche Bewusstsein‘, als ‚Verblendung‘ oder ‚Ideologie‘ wieder auf. Der Unterschied zwischen den ‚traditionellen‘ und den ‚kritischen‘ Philosophien liegt, idealtypisch formuliert, darin, dass die ersteren den un-philosophischen Standpunkt des gesunden Menschenverstandes (wie beispielsweise die Überzeugung, dass es eine Außenwelt gibt) gegen Skeptizismus absichern und folglich erstmals zweifelsfrei begründen und stabilisieren wollen; die ‚kritischen‘ Philosophien hingegen zielen auf eine Kritik der Meinungen, Selbsttäuschungen und Ideologien im alltäglichen sowie im wissenschaftlichen Denken, die Weltbilder destabilisieren soll. Beide teilen aber die fundamentale Unterscheidung zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie.
Bei allen Unterschieden zwischen den verschiedenen Spielarten der Philosophie, ist die Unterscheidung zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie für die Philosophie offenbar konstitutiv. Zwar lässt sich diese Unterscheidung philosophisch reflektieren, in Frage stellen und sogar kritisieren, sie wird dafür aber implizit immer auch bestätigt, eben weil sie – wie wäre es der Philosophie auch anders möglich – philosophisch reflektiert wird. Dadurch können sich blinde Flecken in die philosophische Selbstreflexion und Selbstkritik der Philosophie einschleichen. Wenn der philosophischen Selbstreflexion und Selbstkritik aber die eigene meta-philosophische Voraussetzung (nämlich die Unterscheidung zwischen der Philosophie von dem Nicht-Philosophischen) entzogen bleibt, ist die Philosophie mit ihrem Anspruch radikaler Selbstbefragung und Selbstbegründung dann nicht in einer ausweglosen Situation? Schließlich wären der Philosophie dann ihre eigenen Voraussetzungen nicht transparent und sie würde auf grundsätzliche Erkenntnisgrenzen stoßen. Die Philosophie gerät in Bedrängnis, wenn sie mit derselben Blindheit gegenüber den eigenen Voraussetzungen und Implikationen geschlagen ist, die sie sonst nur dem nicht-philosophischen Standpunkt zurechnet und dadurch ihre Unverzichtbarkeit erklärt. Muss man also resigniert hinnehmen, dass die Philosophie hinsichtlich ihrer Voraussetzungen selbst un-philosophisch ist? Ja und nein. Denn paradoxerweise kann gerade diese Resignation zugleich aus der Resignation herausführen. Diese Resignation stürzt die Philosophie nämlich in eine Krise, die weitaus radikaler ist, als es eine innerphilosophische Selbstkritik je sein könnte, weil sie die Philosophie selbst und damit auch ihre meta-philosophischen Voraussetzungen in Frage stellt. Die Radikalisierung des innerphilosophischen Zweifels zur geradezu nach-philosophischen Verzweiflung muss man nicht nur, wie Kierkegaard, existenzialistisch, sondern man kann sie auch philosophisch – und damit zugleich nicht-philosophisch – verstehen.
Auch und insbesondere mit Blick auf die gesellschaftlichen Krisen lohnt es sich, an der innerphilosophische Krisenaffinität der Philosophie anzusetzen: Wenn die Kritik der Philosophie nicht mehr weiterführt, könnte womöglich eine Krise der Philosophie neue Ausblicke eröffnen. Hierfür müsste die mit der Philosophie verschwisterte innerphilosophische Krise verschärft und, vor allem, entgrenzt werden, damit sie die Unterscheidung zwischen Innen und Außen der Philosophie durcheinanderbringt. Die Philosophie steht hier an einem Grenz- und Kipppunkt: Die Erweiterung der philosophischen (Selbst-)Erkenntnis führt in eine Krise der Philosophie und mit ihr in eine Krise der Grenze zwischen Philosophie und dem Nicht-Philosophischen.
Das hat auch Konsequenzen für das Verständnis der Krisen der Gegenwart: Warum die übliche Frage, was man in Krisen von der Philosophie lernen kann, nicht umdrehen, um danach zu fragen, was die Philosophie von Krisenerfahrungen lernen kann? Wenn sich die Philosophie den Schock der vorphilosophischen Krisenerfahrungen durch die Glieder fahren lässt, ohne ihn sofort philosophisch zu verarbeiten und dadurch auch zu entschärfen, könnte das die metaphilosophische Unterscheidung von Philosophie und Nicht-Philosophie sehr viel radikaler in Frage stellen, als die methodisch abgesicherte Selbstreflexion der Philosophie. Ein Denken, dass die paradigmatische Unterscheidung von Philosophie und Nicht-Philosophie unterläuft, könnte angesichts der vielfältigen Krisen der Gegenwart zu unerwarteten Einsichten gelangen. Die Philosophie der Krise müsste als Krise der Philosophie beginnen.
Georg Spoo ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Klassische deutsche Philosophie und ihre Rezeption an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der klassischen deutschen Philosophie sowie dem Marxismus und der kritischen Theorie.