Demokratie ohne Geländer: Zum 50. Todestag von Hans Kelsen
von Marie-Luisa Frick (Universität Innsbruck)
Vor fünfzig Jahren in den Vereinigten Staaten gestorben, gilt der 1881 in Prag (Österreich-Ungarn) geborene Hans Kelsen als herausragend(st)er Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Rechtsphilosophie, Öffentliches Recht und Verfassungstheorie, Demokratietheorie, Völkerrechtstheorie – in all diesen Bereichen hat Kelsen tiefe Spuren gezogen, die nicht nur für die Republik Österreich von besonderer Bedeutung sind, deren Bundesverfassung von ihm maßgeblich geprägt ist, sondern bis heute in globalen Debatten und Forschungsarbeiten nachwirken. Sein Werk spiegelt die politischen Konflikte und Umbrüche des letzten Jahrhunderts und offenbart einen umfassend gebildeten Denker, der mit imposantem Scharfsinn und auch mit für manche irritierender Konsequenz an seinen Idealen festhält und dies mit einer streng-nüchternen, nach allen Seiten hin vertretenen ideologiekritischen Haltung.
Aus einer jüdischen Familie stammend, war der bald einflussreiche und demokratisch gesinnte Rechtsgelehrte für die völkisch Bewegten, Austrofaschisten und Nationalsozialisten ein natürlicher Feind. Seine Professur für Völkerrecht in Köln verlor Kelsen mit Machtergreifung der Nazis, in Prag wurde er von antisemitischen Studenten weggemobbt, 1940 flüchtete Kelsen in die Vereinigten Staaten und landete über den Umweg Harvard schließlich in Berkeley. Kelsen, der aus wissenschaftsethischen Gründen keiner Partei beigetreten ist und am ehesten der Sozialdemokratie nahestand, war aber auch kein Freund des Marxismus, im Gegenteil. Kommunismus und Faschismus – beide gelten ihm als totalitäre Ideologien, die mit unwissenschaftlichem Blendwerk an unheilvolle Sehnsüchte der Menschen nach dem ‚großen Ganzen’, dem ‚einzig wahren’ Weg durch die Geschichte und der kollektiven Erlösung anschließen. Ihnen setzt Kelsen seine Demokratietheorie entgegen, die in den vergangenen Jahren wieder verstärkt Aufmerksamkeit erfährt.[1] Kelsens positivistischer, nonkognitivistischer und pluralistischer Zugang enthält eine Vielzahl von Anstöß(igkeit)en, die im Grunde darauf hinauslaufen, Demokratie ohne Geländer zu denken, um den bekannten Ausdruck Hannah Arendts zu entlehnen. Demokratinnen und Demokraten, so könnte man Kelsens Demokratietheorie auf den Punkt bringen, sollten sich möglichst aller Illusionen und Schwärmereien enthalten, wenn sie die Grundlagen demokratischer Ordnungen in werthafter und konzeptioneller Hinsicht bedenken. Demokratie ist für Kelsen zwar die – gemessen am Ideal der Freiheit – überlegene Herrschaftsform, doch ist sie keineswegs frei von Fallstricken, Aporien, ja Abgründen.
Bis heute provoziert allen voran Kelsens Sichtweise auf die Selbstabschaffungsproblematik der Demokratie. Für Anhänger des nach dem Zweiten Weltkrieg reüssierenden Konzepts der „wehrhaften Demokratie“ (defensive/militant democracy) ist es ein fataler Irrtum, dass Kelsen es ausdrücklich zur Implikation des demokratischen Prinzips erklärt, selbst anti-demokratische Bewegungen nicht zu unterdrücken, wie er 1932 in „Verteidigung der Demokratie“ mit Blick auf rechte wie linke Demokratie-Gegner konkret in der Weimarer Republik ausführt. „Eine Volksherrschaft“, so Kelsen, „kann nicht gegen das Volk bestehen bleiben.“[2] Es scheine das „tragisch[e] Schicksal“ der Demokratie zu sein, „daß sie auch ihren ärgsten Feind an ihrer eigenen Brust nähren muß.“[3] Der Demokratie als Idee treu bleiben, wie er sich ausdrückt, bedeute zuallererst, sie nicht dadurch zu verraten, dass man sie verzerrt oder entstellt um sie (nur scheinbar) zu retten. Demokratie mit Kelsen ohne Geländer zu denken, bedeutet auch, sich nicht hinweg zu täuschen über die unvermeidlichen Fiktionen, die vor allem in der repräsentativen Demokratie immer schon angelegt sind. Ohne die Möglichkeit, dass eine zahlenmäßig überschaubare Gruppe sich direkt – nach antikem Ideal im öffentlichen Raum – begegnet und selbst regiert, ist Demokratie allein als vermittelte, indirekte Demokratie realisierbar. Das aber bedeutet mit Kelsen gedacht, die Kluft offen zu halten und bewusst zu machen, die zwischen dem demokratischen „Volk“ und seinen „Vertretern“ unausweichlich besteht.
Sich dieses politische Volk schwärmerisch als (totale) Gemeinschaft bzw. Interessenseinheit und die Relation von Volk und Parlament als Identitätsverhältnis zu imaginieren,[4] verkenne „Wesen und Wert der Demokratie“, wie Kelsens demokratietheoretisches Hauptwerk betitelt ist, das 1920 in erster und 1929 in zweiter Auflage erschienen ist. In Unterscheidung zwischen Idealbegriff und Realbegriff des politischen Volkes spricht Kelsen vom Volkswillen als einem „politische[n] Grundphänome[n]“, das „an und für sich im höchsten Grade problematisch ist“.[5] In Demokratien regiere nicht das „Volk“, sondern genau gemommen „das Häuflein der politisch wirklich Tätigen“.[6] Über dieses in repräsentativen Demokratien letztlich nicht auszuhebelnde Demokratiedefizit könne man sich auch nicht mit der „Fiktion“ der Repräsentation hinwegtrösten: „Der Gedanke, daß das Parlament als der vom Volke gewählte Gesetzgebungskörper das Volk repräsentiere […], dieser Grundgedanke der politischen Ideologie der mittelbaren oder repräsentativen Demokratie ist eine Täuschung […]“.[7] Sein offenes, pluralistisches Verständnis des demos lässt Kelsen dann auch nicht den Konsens als anzustrebendes Ziel demokratischer Aushandlungen anvisieren, sondern vielmehr den (mäßigenden) Kompromiss zwischen Parteien bzw. den jeweiligen Mehrheiten und Minderheiten, wobei er dabei immer wieder die Bedeutung demokratischer Minderheitenrechte herausstreicht.
Keine Illusionen sollten sich Demokraten und Demokratinnen auch darüber machen, dass für das Recht, welches in Demokratien erzeugt wird, keine absoluten, von Menschen und ihren Wünschen und Launen unabhängige Normvorgaben vorliegen. Alles kann Recht sein, wenn es nur auf die vorgesehene Weise erzeugt wurde und in die Normenhierarchie der Rechtsordnung sich widerspruchslos einfügen lässt. Und alles kann gerecht/ungerecht sein – je nachdem, wessen Perspektive man anlegt. Gegen das (religiöse) Naturrechtsdenken setzt Kelsen eine rechtspositivistische Ernüchterung, der zufolge naturrechtliche Normen bzw. Ideale einer ‚natürlichen Gerechtigkeit‘ „in Wahrheit […] in die Natur projizierte, subjektive Werturteile sind“, welche die Vertreter der Naturrechtslehre „als objektiv gültige Normen – wie ein Zirkuszauberer aus seinem Zylinder die vorher hinein praktizierten Tauben und Kaninchen – aus der Natur wieder hervorholen“.[8]
Aufgeklärte Demokratinnen und Demokraten verstecken sich daher mit Kelsen gedacht nicht hinter vermeintlich ewiggültigen, dem menschlichen Dafürhalten entzogenen Werten, sondern muten sich die Einsicht in die Relativität jeglicher Werthaltung zu und meiden folglich den Dogmatismus: „Auch die gegenteilige Meinung muß man für möglich halten, wenn man auf die Erkenntnis eines absoluten Wertes verzichtet.“[9] Umgekehrt, sei Dogmatismus wesensverwandt mit autoritären Ordnungen: „Was könnte es gegenüber der Autorität des absolut Guten anderes geben als den dankbaren und bedingungslosen Gehorsam aller derer, denen es zum Heil gereichen soll.“[10] Damit zusammen hängt auch Kelsens Sicht auf die Funktion von Höchst- bzw. Verfassungsgerichten. Auch sie dürfen dem demokratischen Spiel der Kräfte kein Geländer errichten, das mit unterschiedlich – schärfer: willkürlich – auslegbaren Begriffen wie ‚Gerechtigkeit‘, ‚Gleichheit‘ oder ‚Freiheit‘ („Phraseologie“) den (qualifizierten) Mehrheitswillen beschneidet.[11] Unabänderliche Verfassungsgrundsätze? Für Kelsen ein Selbstwiderspruch demokratischer Politik.
Sein wissenschaftlich-positivistisches Weltbild führt Kelsen jedoch keineswegs in die Falle eines szientistischen Überoptimismus, demzufolge politische Fragen mit wissenschaftlichen Methoden (vor-)entscheiden werden können. Wiederholt betont Kelsen ganz im Sinne Max Webers die für demokratische Politik „sekundäre“ Rolle von Fachleuten. Eine Verwissenschaftlichung politischer Streitfragen erachtet Kelsen als politisch prekär und für die Unabhängigkeit der Wissenschaften als gefährlich: „Bei dem verschärften kritischen Bewußtsein unserer Zeit kann diese Methode der Politik auf die Dauer nichts nützen. Denn nur allzu leicht wird sie vom politischen Gegner durchschaut oder zu einer ebenso fragwürdigen Legitimierung seiner entgegengesetzten Ziele verwendet. Dafür kann sie der Wissenschaft aber um so empfindlicher schaden.“ [12]
In vielen seiner Ideen ist Kelsen heute ein Unzeitgemäßer. Im Lichte unterschiedlicher demokratieskeptischer oder gar demokratiefeindlicher Tendenzen und dem Ruf nach Verteidigung „unverhandelbare“ Grundwerte bzw. Grundrechte mutet seine Absage an wehrhafte Demokratie irritierend, ja ruinös an. Auch seine Kritik an der Substitution politischer Argumente durch wissenschaftliche Erkenntnisse steht quer zum Trend, politische Forderungen mit Verweis auf scheinbar eindeutige wissenschaftliche Erkenntnisse dem demokratischen Streit zu entheben. Demokratie ohne Geländer bedeutet Sturzrisiken. Und wahrscheinlich wäre es in geschichtsvergessem Sinne unklug, Kelsens Demokratietheorie im 21. Jahrhundert ohne Adaptionen als Orientierung zu verwenden. Vielleicht aber ist Kelsens aufrichtiger, nüchterner Blick seiner Zeit immer schon voraus gewesen und das Potenzial einer aufgeklärten Demokratie erst noch zu erschließen.
[1] Siehe insbes. Turner, Stephen P.: Making Democratic Theory Democratic. Democracy, Law, and Administration after Weber and Kelsen, Routledge 2023; Dreier, Horst: Ad Hans Kelsen. Rechtspositivist und Demokrat, Europäische Verlagsanstalt 2021; Magalhães, Pedro T.: Legitimacy of Modern Democracy. A Study on the Political Thought of Max Weber, Carl Schmitt and Hans Kelsen, Taylor & Francis 2021; Vinx, Lars: „Hans Kelsen and the material constitution of democracy”, Jurisprudence Vol. 12/2021, S. 466-490; Schuett, Robert: Hans Kelsen´s Political Realism, Edinburgh University Press 2021; Lagi, Sara: Democracy and its Essence. Hans Kelsen as a Political Thinker, Lexington Books 2020; Robert Chr. van Ooyen: Hans Kelsen und die offene Gesellschaft, Springer VS 2017; Lagerspetz, Eerik: „Kelsen on Democracy and Majority Decision”, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol.103/2017, S. 155-179; Özmen, Elif (Hrsg.): Hans Kelsens Politische Philosophie, Mohr Siebeck 2017.
[2] Kelsen, Hans: „Verteidigung der Demokratie“, in: Verteidigung der Demokratie, hrsg. von Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius, Mohr Siebeck 2006(1932), S. 237.
[3] Ebd.
[4] Kelsen, Hans: „Wer soll Hüter der Verfassung sein?“, in: Wer soll Hüter der Verfassung sein?, hrsg. von Robert Chr. van Ooyen, Mohr Siebeck 2019(1930/31), S. 81.
[5] Kelsen, Hans: „Vom Wesen und Wert der Demokratie“, in: Verteidigung der Demokratie, hrsg. von Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius, Mohr Siebeck 2006(1920), S. 24.
[6] Ebd. S. 27.
[7] Kelsen, Hans, „Allgemeine Staatslehre“, in: Verteidigung der Demokratie, hrsg. von Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius, Mohr Siebeck 2006 (1925), S. 69.
[8] Kelsen, Hans: Staat und Naturrecht. Aufsätze zur Ideologiekritik, hrsg. von Ernst Topitsch, Wilhelm Fink Verlag 1989(1964), S. 234.
[9] Kelsen, Hans: „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (1920), S. 31.
[10] Kelsen, Hans: „Verteidigung der Demokratie“, S. 236.
[11] Kelsen, Hans: „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“, in: Wer soll Hüter der Verfassung sein?, hrsg. von Robert Chr. van Ooyen, Mohr Siebeck 2019(1929), S. 39. Vgl. auch Kelsen, „Wer soll Hüter der Verfassung sein?“, S. 71ff.
[12] Kelsen, Hans: „Wer soll Hüter der Verfassung sein?“, S. 105.
Marie-Luisa Frick ist habilitierte Philosophin und arbeitet als Assozierte Professorin am Institut für Philosphie der Universität Innsbruck. Sie beschäftigt sich in ihrer Forschung vorallem mit Theorie und Ethik der Demokratie sowie der Philosophie der Menschenrechte.