
Philosophie und digitale Intimität? Zwischen Messenger-Verschlüsselung und -überwachung
Von Marlon Possard (Wien und Berlin)
In einer zunehmend vernetzten und von Künstlicher Intelligenz (KI) umgebenen Welt wird digitale Kommunikation zu einem wesentlichen Bestandteil von zwischenmenschlichen Beziehungen. Insbesondere Messenger-Dienste (wie z. B. WhatsApp, Signal, Telegram) sind Plattformen geworden, auf denen Menschen nicht nur Informationen austauschen, sondern emotionale Nähe, Vertrauen und durchaus auch intime Beziehungen pflegen. Die technische Grundlage dieser Kommunikation basiert auf einer sog. „End-to-End“-Verschlüsselung, die in erster Linie Vertraulichkeit verspricht. Es sind aber genau diese digitalen Räume, die gegenwärtig kontrovers diskutiert werden und die unmittelbar staatliche Kontroll- und Überwachungsmechanismen betreffen. Diese Entwicklung hebt darüber hinaus tiefgreifende philosophische Fragen hervor: Was bedeutet Intimität im digitalen Zeitalter? Wie ist das Verhältnis von Freiheit und Kontrolle im Kontext staatlicher Überwachung neu zu denken? Und was bedeutet es für das Individuum, wenn seine Kommunikationsakte potenziell überwacht werden? Auch wenn die Philosophie nie richtige oder gar vollständige Antworten auf solche Fragen liefern kann, so lohnt es sich doch, diese Fragestellungen auf kompakte Art und Weise philosophisch zu reflektieren.
Digitale Intimität als neue Sphäre der Privatheit: Arendt und Foucault
Digitale Intimität entsteht dort, wo sich Menschen in geschützten Kommunikationsräumen begegnen – Räume, in denen Offenheit, Verletzlichkeit und Vertrauen möglich sind. Die Philosophie hat sich traditionell mit der Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit befasst. Hannah Arendt (1906-1975) unterscheidet bekanntermaßen in Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958) zwischen dem öffentlichen Raum, in dem Menschen einerseits als Bürger:innen auftreten und dem privaten Raum, in dem sie andererseits als Individuen leben, lieben, trauern und sich zurückziehen (können). Die Intimität in digitalen Räumen – besonders in verschlüsselten Messenger-Diensten – stellt eine Erweiterung dieses privaten Raumes dar. Wird dieser Raum durch staatliche Zugriffe infrage gestellt, betrifft dies nicht nur rechtliche Normen, sondern das essenzielle Verhältnis zwischen Subjekt, Staat und Gesellschaft.
Michel Foucaults (1926-1984) Konzept des „Panoptismus“ hingegen beschreibt die Wirkung von Überwachung auf das Verhalten von Subjekten. In einem panoptischen System, so Foucault, ist die Überwachung nicht mehr zwingend sichtbar – es genügt die Möglichkeit, beobachtet zu werden, um Konformität zu erzeugen. Auch in digitalen Kommunikationsräumen zeigt sich genau dieses Prinzip: Wenn Nutzer:innen nämlich wissen oder vermuten, dass ihre privaten Gespräche bzw. Chats potenziell überwacht werden könnten, verändert sich ihre Ausdrucksweise. Die intimen Räume werden dahingehend nicht nur technologisch durchdrungen, sondern durchaus mental kolonisiert. Dies kann am Ende zu einer Form der Selbstzensur führen, die das freie Denken untergräbt – eine subtile, aber tiefgreifende Transformation des Subjekts, selbst wenn solche Überwachungsmaßnahmen (etwa in Bezug auf die Terrorabwehr) durchaus gerechtfertigt erscheinen mögen.
Kontrolle und Sicherheit: Hobbes und Locke
Ein zentrales Argument für die staatliche Überwachung digitaler Kommunikation ist die Sicherstellung von öffentlicher Ordnung und nationaler Sicherheit. Vor dem Hintergrund terroristischer Bedrohungen und organisierter Kriminalität, wie sie heute in vielerlei Hinsicht vernommen werden kann, sehen sich viele Staaten legitimiert, tief(er) in private Kommunikationssphären einzugreifen. Beispielsweise wird in Österreich der Zugriff auf verschlüsselte Kommunikationsinhalte seit einigen Jahren auf politischer und gesellschaftlicher Ebene unterschiedlich diskutiert. Dabei geht es um Einführung einer gesetzlichen Grundlage für eine wirksame „Messenger-Überwachung“ im Zuge extremistischer und terroristischer Bedrohungen.
Die philosophische Reflexion über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit lässt sich meines Erachtens am besten mit Thomas Hobbes (1588-1679) skizzieren. In Leviathan (1651) entwirft Hobbes das Bild eines Gesellschaftsvertrags, bei dem Individuen einen Großteil ihrer natürlichen Freiheiten an einen allmächtigen Staat abgeben, um Sicherheit zu erlangen. Der Staat erscheint hier als notwendiges Übel gegen das Chaos der Natur. Doch dieses Modell ist in liberalen Demokratien nur bedingt anschlussfähig: Die totale Unterordnung unter den Staat widerspricht dem modernen Verständnis von Freiheit und Menschenwürde. Im Gegensatz dazu steht John Locke (1632-1704), der in seinem Gesellschaftsvertrag nicht die absolute Autorität des Staates, sondern die Sicherung individueller Rechte in den Mittelpunkt stellt. Für Locke sind Leben, Freiheit und Eigentum unveräußerliche Güter, die durch den Staat geschützt – nicht unterdrückt – werden sollen.
Aber was können die Ausführungen Lockes im Kontext der Messenger-Überwachung in Österreich bedeuten? Digitale Kommunikation kann in diesem Sinne als Teil des „Eigentums“ verstanden werden, das unter dem Schutz individueller Freiheit steht. Staatliche Eingriffe in diese Kommunikationsräume ohne konkrete Gefahr oder richterliche Anordnung sind somit schwer mit einer lockeanischen Perspektive zu vereinbaren. In der Praxis wäre das aber insofern unproblematisch, da eben beide Aspekte im Rahmen des Gesetzesvorhabens, nämlich sowohl eine konkrete Gefahr als auch eine richterliche Anordnung, notwendig sind.
Kommunikationsfreiheit und demokratische Öffentlichkeit: Habermas
Ein weiterer wichtiger Denker im Kontext digitaler Überwachung ist Jürgen Habermas (geb. 1929). Seine Theorie des kommunikativen Handelns geht davon aus, dass Verständigung und rationale Argumentation die Basis einer demokratischen Öffentlichkeit bilden. Für Habermas ist freie Kommunikation nicht nur ein Grundrecht, sondern konstitutiv für eine funktionierende Demokratie. Wenn digitale Kommunikationsräume durch Überwachung kompromittiert werden, entsteht ein Klima des Misstrauens, das die Basis des öffentlichen Diskurses gefährden kann.
Gerade Messenger-Dienste, in denen politische Meinungsbildung häufig informell stattfindet – in Familienchats, Freundesgruppen oder Aktivist:innen-Netzwerken – sind für die Demokratie relevant. Wird diese Kommunikation systematisch überwacht, so wirkt sich dies negativ auf die Meinungsfreiheit aus. In Österreich wurde dies beispielsweise im Kontext der „Operation Luxor“ (2020) deutlich, bei der auf Grundlage des Terrorismusverdachts massenhaft digitale Daten beschlagnahmt wurden, ohne dass es später zu Anklagen kam. Die Balance zwischen Sekurität und Freiheit wird dabei zunehmend zugunsten des Staates verschoben mit dem Argument einer effektiven Gefahrenabwehr – ein gefährlicher Trend, der nicht nur juristisch, sondern jedenfalls auch philosophisch problematisiert werden muss.
Und was bleibt übrig?
Digitale Intimität ist immerhin mehr als ein technisches und ein rein auf Sicherheit ausgerichtetes Phänomen – sie ist primär ein philosophisch aufgeladener Raum, in dem sich zentrale Fragen über Freiheit, Macht und Subjektivität manifestieren. Die staatliche Überwachung von Messenger-Diensten ist daher nicht bloß ein politisches Problem, sondern eine Herausforderung an das Selbstverständnis moderner Demokratien. Philosophische Theorien von Arendt über Foucault bis Habermas bieten wertvolle Überlegungen, um diese Problematik kritisch zu analysieren. Überwachung per se besitzt nämlich das Potenzial, die Autonomie des Subjekts zu gefährden und das Vertrauen der Bürger:innen zu untergraben. Daher ist es umso wichtiger, gerade in diesem sensiblen Bereich eine Art „verantwortliche Politik des digitalen Raumes“ zu fördern. Denn die Frage nach Freiheit betrifft am Ende alle Menschen gleichermaßen und sie ist – so denke ich – aufgrund globaler und demokratiepolitisch bedenklicher Entwicklungen DIE philosophische Frage des 21. Jahrhunderts schlechthin.
Zum Autor:
Marlon Possard ist Rechtswissenschaftler, Verwaltungswissenschaftler und Philosoph. Er lehrt und forscht als Assistant Professor (PostDoc, Habilitand) am Department für Verwaltung, Wirtschaft, Sicherheit und Politik und am Research Center Administrative Sciences (RCAS) an der FH Campus Wien – University of Applied Sciences. Darüber hinaus lehrt und forscht er an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien und Berlin und leitet dort das Department für Ethik der Künstlichen Intelligenz.
E-Mail: marlon.possard@fh-campuswien.ac.at | marlon.possard@jus.sfu.ac.at
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