06 Sep

Philosophisches Außenministerium gibt Entwarnung: Lehnstühle sicher vor experimentellen Philosophen

von Paul Rehren (Bielefeld)


Als ich das erste Mal nach Braunschweig gekommen bin, war ich ziemlich positiv überrascht. Ich hatte mir eine etwas heruntergekommene Braunkohlestadt ausgemalt. Stattdessen stellte sich die Stadt als grün, wohnlich und insgesamt sehr angenehm heraus. Woher kamen meine Vorurteile? Schwer zu sagen. Doch in jedem Fall hätten sie mit einiger Wahrscheinlichkeit dafür gesorgt, dass mir, wäre meine Freundin nicht vor einiger Zeit dorthin gezogen, ein wirklich schönes Fleckchen Erde in Deutschland entgangen wäre.

Hier möchte ich vorschlagen, dass etwas ganz Ähnliches auf einen bestimmten Fleck auf der philosophischen Landkarte zutrifft: Die experimentelle Philosophie. Auch die experimentelle Philosophie hat ihren BesucherInnen und AnwohnerInnen viel zu bieten; auch in ihrem Fall werden, so denke ich, einige durch irrigen Ansichten davon abgehalten, vorbeizuschauen.

Was macht die experimentelle Philosophie aus?

Zunächst sollte geklärt werden, was in der experimentellen Philosophie eigentlich so vor sich geht. Eine vielversprechende Methode, um das herauszufinden, besteht darin, bei ihren AnwohnerInnen nachzuforschen. Und obwohl, zumindest meines Wissens nach, bisher noch keine detaillierte Definition gegeben wurde, die sich allgemeiner Anerkennung erfreut, scheint dennoch ein überwiegender Konsens hinsichtlich des Fundaments der experimentellen Philosophie zu bestehen. Justin Sytsma und Wesley Buckwalter bringen selbigen in ihrem Sammelband „A Companion to Experimental Philosophy“ folgendermaßen zum Ausdruck:

„Experimentelle Philosophie ist eine Art und Weise, Philosophie zu betreiben. Die grundlegende Idee besteht darin, empirische Methoden und Techniken zu verwenden, die typischerweise den empirischen Wissenschaften zugeordnet werden, um dabei zu helfen, philosophische Fragestellungen zu untersuchen.“[i]

Ganz ähnliche Stellungnahmen finden sich unterhalb einer Vielzahl weiterer bekannter Namen, die der experimentellen Philosophie zugeordnet werden können. Von Joshua Knobe, Shaun Nichols[ii] und Tania Lombrozo[iii], über Steven Stich[iv], Jonathan Livengood[v], James Beebe[vi] und Eduard Machery[vii] bis hin zu Eric Schwitzgebel[viii], Ron Mallon[ix], sowie den Mitgliedern der Experimental Philosophy Group Germany[x] und der Experimental Philosophy Society[xi] – alle stimmen mit Sytsma und Buckwalter überein, dass zumindest zwei grundlegende Merkmale die experimentelle Philosophie ausmachen: Sie (a) bedient sich der Methoden und Techniken der empirischen Wissenschaften um (b) bei der Untersuchung philosophischer Fragestellungen zu helfen.

Missverständnisse

Meiner Meinung nach machen (a) und (b) zusammen die experimentelle Philosophie zu einem enorm attraktiven und fruchtbaren Fleck auf der philosophischen Landkarte. Und dennoch stehen  viele PhilosophInnen ihr skeptisch gegenüber. Die meisten haben sicherlich gute Gründe hierfür (auch wenn ich sie nicht teile). Sie haben vielleicht in verschiedene philosophische Reiseführer geschaut, und beschlossen, dass es ihnen anderswo besser gefallen würde. Doch ich habe den Eindruck, dass zumindest manche unter anderem auch deswegen der experimentellen Philosophie fern bleiben, weil sie ein falsches Bild von deren Methoden und/oder Zielen, soll heißen von (a) und/oder (b), haben.

Ich beginne mit (a). Einige PhilosophInnen, die sich der experimentellen Philosophie gegenüber kritisch geäußert haben, scheinen der Ansicht zu sein, dass sie nur aus einem recht eingeschränkten Arsenal an empirischen Methoden und Techniken schöpft. So schreibt beispielsweise Antti Kauppinen, dass experimentelle PhilosophInnen auf die Verwendung von „unbeteiligten sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden, vor allem Umfragen“[xii] festgelegt seien. Gleichfalls beschreibt Elke Brendel deren Vorgehen als „die systematische Auswertung verschiedener Umfragen“[xiii]. Ähnliche Einschätzungen wie die von Kauppinen und Brendel werden, soweit ich sehen kann, auch von einigen meiner Kollegen hier in Bielefeld geteilt.

Tatsächlich unterliegt die experimentelle Philosophie jedoch schlicht keinen derartigen Einschränkungen. Zwar stimmt es, dass experimentelle PhilosophInnen in ihrer Forschung häufig mit Umfragen arbeiten. Wie in (a) festgehalten, sind sie hierauf jedoch nicht festgelegt; vielmehr steht ihnen die gesamte Bandbreite der Methodologie der empirischen Wissenschaften zur Verfügung. Experimentelle PhilosophInnen haben im Rahmen ihrer Arbeit neben Umfragen etwa bereits von historischer Quellenforschung[xiv], den Techniken der Neurowissenschaft[xv] und von Verhaltensforschung[xvi] Gebrauch gemacht. Das Arsenal an empirischen Methoden und Techniken, auf das die experimentelle Philosophie zurückgreifen kann, ist somit deutlich größer, als einige PhilosophInnen zu erkennen scheinen.

Wie steht es um (b) – den Umstand, dass das Ziel der experimentellen Philosophie darin besteht, bei der Untersuchung philosophischer Fragestellungen zu helfen? Auch in dieser Hinsicht gibt es  in der philosophischen Literatur Hinweise auf das Bestehen von Missverständnissen. So hat sich etwa David Velleman beschwert, das Feld hätte das Ziel, „[empirische Befunde] für die Philosophie als Ganze zu ersetzen“[xvii]. In dieselbe Kerbe schlagend schreibt Daniel Cohnitz, dass die „‚Experimentelle’ Philosophie [von ihren Vertretern] als angebliche Ersatzveranstaltung für die altbackene ‚Lehnstuhlphilosophie‘“[xviii] angepriesen werden würde. Ähnliche Sorgen finden sich weiterhin auch bei den schon weiter oben zitierten Kauppinen[xix] und Brendel[xx].

Wie sich weiter oben gezeigt hat, sind derartige Sorgen und Beschwerden jedoch unbegründet. Die experimentelle Philosophie sieht sich als Zusatz zu, nicht als Ersatz von klassischeren Methoden der philosophischen Theoriebildung und Problemlösung. Es ist, wie in (b) festgehalten, ihr Ziel, bei der Untersuchung philosophischer Fragestellungen zu helfen; sie gibt (mit einer Einschränkung – mehr dazu unten), anders, als von manchen offenbar befürchtet, nicht vor, den einzigen hierfür zulässigen Weg dazustellen.

Na und?

Ich habe vorgeschlagen, dass zumindest einige PhilosophInnen der experimentellen Philosophie auch deswegen skeptisch gegenüber stehen, weil sie ihre Methoden und/oder ihre Ziele missverstehen. Doch, so könnte von ihren AnwohnerInnen und BesucherInnen eingewandt werden, was kümmert uns das? Sollen die Leute doch denken, was sie wollen – wir wissen schließlich, was wir an unserem Feld haben.

Obwohl ich diese trotzige Einstellung in gewisser Weise nachvollziehen kann, gibt es einen schlagenden Grund, der dagegen spricht, sie auszuleben. Die experimentelle Philosophie ist ein noch relativ frisch besiedelter Fleck auf der philosophischen Landkarte – die ersten SiedlerInnen sind erst vor etwa 20 Jahren dort angekommen. Damit das Feld eine echte Chance auf Beständigkeit hat, müssen daher in der Zukunft eine Reihe von Dingen geschehen (und weiterhin geschehen). GeldgeberInnen müssen davon überzeugt werden, entsprechende Einrichtungen und Forschung finanziell zu unterstützen. PhilosophInnen am oberen Ende der akademischen Nahrungskette muss überzeugend dargelegt werden, warum die Arbeit der experimentellen Philosophie förderungswürdig ist. Studierende und junge WissenschaftlerInnen müssen für das Feld begeistert werden, um die Förderung und die Mittel entgegenzunehmen und zu nutzen, die so gewonnen wurden. All dies sind, so denke ich, keine einfachen Aufgaben. Entsprechend sollten FreundInnen der experimentellen Philosophie alles daran setzen, möglichst viele Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die deren Erfüllung im Weg stehen. Und Skepsis aus den Rängen der akademischen Philosophie stellt sicherlich ein solches Hindernis dar – zudem ein besonders unnötiges Hindernis, sollte es tatsächlich zumindest teilweise auf Missverständnissen beruhen.

Was nun?

Wie sollten AnwohnerInnen und BesucherInnen der experimentellen Philosophie hiermit umgehen? Keine einfache Frage. Ein erster wichtiger Schritt besteht sicherlich darin, bereits bestehende Missverständnisse wo möglich zu korrigieren. Und ich denke, dass der vielleicht fruchtbarste Ton für derartige Korrekturen nicht der Ton akademischer Veröffentlichungen, sondern der Ton der Kaffeepause (Tee ist auch erlaubt) ist. FreundInnen der experimentellen Philosophie sollten in entsprechenden Gesprächen die Ohren spitzen und nach Anzeichen von falschen Vorstellung über ihre Ziele und Methoden lauschen. Das gilt besonders dann, wenn Kritik an ihr geübt wird. Selbst wenn die Kritik in der Form von so geistreichen Kommentaren wie „Das ist überhaupt keine Philosophie!“ oder „Experimentelle Ethik begeht doch nur ständig den Sein-Sollen-Fehlschluss!“ geäußert wird, sollte versucht werden, nicht genervt oder defensiv zu reagieren. Anstatt dessen sollte ruhig und methodisch nachgehakt werden – möglicherweise beruhen solche Äußerungen letztendlich schlichtweg auf einem Missverständnis der einen oder anderen Art.

Noch wichtiger ist es jedoch, so denke ich, zu versuchen, von vornherein das Entstehen derartiger Missverständnisse zu unterbinden. Entsprechend sollten FreundInnen der experimentellen Philosophie (weiterhin) Anstrengungen unternehmen, größtmögliche Transparenz hinsichtlich ihrer Disziplin zu schaffen. Das bedeutet etwa, zu versuchen, in Artikeln und Vorträgen stets möglichst klar zu machen, was in der jeweiligen Arbeit philosophisch erreicht werden soll, welche empirischen Techniken und Methoden verwendet wurden und welche philosophischen Implikationen deren Früchte genau haben. Es bedeutet weiterhin, sich ab und zu die Zeit zu nehmen, um entsprechende Informationen auch hierüber hinaus öffentlich zu machen – dieses Interview mit Joshua Knobe ist ein gutes Beispiel hierfür.

Speziell mit Blick auf die Ziele der experimentellen Philosophie bedeutet es außerdem, sich aktiv von einigen der Dinge zu distanzieren, die in deren Anfangszeit behauptet wurden. In dieser Zeit gab es, gleichsam aus jugendlichem Leichtsinn, eine gewisse Tendenz, sich recht radikaler Sprache zu bedienen: Es wurde ein „Manifesto“ für die experimentelle Philosophie verfasst;[xxi] es wurde davon gesprochen, dass Lehnstühle, als Zeichen für klassischere Vorgehensweisen innerhalb der Philosophie, verbrannt werden müssten.[xxii] Wie ich betont habe, spiegelt das nicht das heutige Selbstverständnis der experimentellen Philosophie wieder – sie sieht sich als Zusatz zu, nicht als Ersatz von klassischerer philosophischer Forschung. (Einige ihrer AnwohnerInnen und BesucherInnen haben außerdem explizit zugegeben, Lehnstühle recht bequem zu finden.[xxiii]) Doch es ist wichtig, das wann und wo immer möglich explizit zu machen, um sicher zu stellen, dass die Jugendsünden der experimentellen Philosophie ihrem weiteren Heranwachsen so wenig wie möglich im Weg stehen. Es sind sicherlich weitere Schritte notwendig; doch ich denke, dass die hier von mir skizzierten zumindest einen sinnvollen Anfang darstellen.


Paul Rehren studiert an der Universität Bielefeld im Master Philosophie. Er beschäftigt sich insbesondere mit empirisch informierten und experimentellen Perspektiven auf ethische Fragen und Probleme. Außerdem interessiert er sich für Themen der Wissenschaftsphilosophie und der Metaethik.


Endnoten

[i]     Justin Sytsma und Wesley Buckwalter, „Introduction“, in A Companion to Experimental Philosophy, hg. von Justin Sytsma und Wesley Buckwalter (John Wiley & Sons, 2016), 1. (Alle Übersetzungen ins Deutsche stammen vom Autor.)

[ii]     vgl. Joshua Knobe und Shaun Nichols, „Experimental Philosophy“, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Metaphysics Research Lab, Stanford University, 2017), https://plato.stanford.edu/archives/win2017/entries/experimental-philosophy/.

[iii]    vgl. Tania Lombrozo, Joshua Knobe, und Shaun Nichols, „Introduction“, in Oxford Studies in Experimental Philosophy, hg. von Tania Lombrozo, Joshua Knobe, und Shaun Nichols, Bd. 1 (Oxford University Press, 2014), 1.

[iv]    vgl. Stephen Stich und Kevin P. Tobia, „Experimental Philosophy and the Philosophical Tradition“, in A Companion to Experimental Philosophy, hg. von Justin Sytsma und Wesley Buckwalter (John Wiley & Sons, 2016), 5.

[v]     vgl. Justin Sytsma und Jonathan Livengood, The theory and practice of experimental philosophy (Broadview Press, 2015), 5.

[vi]    vgl. James R. Beebe, „Introduction“, in Advances in Experimental Epistemology, hg. von James R. Beebe (Bloomsbury Academic, 2014), 1.

[vii]    vgl. Elizabeth O’Neill und Edouard Machery, „Introduction“, in Current Controversies in Experimental Philosophy, hg. von Elizabeth O’Neill und Edouard Machery (Routledge, 2014), xii–xxix.

[viii]   vgl. Eric Schwitzgebel, „What Experimental Philosophy Might Be“, The Splintered Mind (blog), 2012, http://schwitzsplinters.blogspot.com/2012/09/what-experimental-philosophy-might-be.html.

[ix]    vgl. Ron Mallon, „Experimental Philosophy“, in The Oxford Handbook of Philosophical Methodology, hg. von Herman Cappelen, Tamar Szabó Gendler, und John Hawthorne (Oxford University Press, 2016), 410.

[x]     vgl. „Initialtreffen der Experimental Philosophy Group Germany“, Ruhr-Universität Bochum Pressemitteilungen, zugegriffen 27.07.2018, http://aktuell.ruhr-uni-bochum.de/pm2015/pm00164.html.de.

[xi]    vgl. „XPS Mission Statement“, Experimental Philosophy Society (XPS), zugegriffen 27.07.2018, http://philosophycommons.typepad.com/xps/.

[xii]    Antti Kauppinen, „The Rise and Fall of Experimental Philosophy“, in Experimental Philosophy, hg. von Joshua Knobe und Shaun Nichols, Bd. 2 (2010; repr., Oxford University Press, 2014), 15.

[xiii]   Elke Brendel, „Wissen, epistemische Intuitionen und Experimentelle Philosophie“, in Die experimentelle Philosophie in der Diskussion, hg. von Thomas Grundmann, Joachim Horvath, und Jens Kipper (Suhrkamp, 2014), 192.

[xiv]   vgl. bspw. Shaun Nichols, „On The Genealogy Of Norms: A Case For The Role Of Emotion In Cultural Evolution“, Philosophy of Science 69, Nr. 2 (2002): 234–55; Shaun Nichols, „After Incompatibilism: A Naturalistic Defense of the Reactive Attitudes“, Philosophical Perspectives 21, Nr. 1 (2007): 405–428.

[xv]   vgl. bspw. Joshua D. Greene, „Beyond Point-and-Shoot Morality: Why Cognitive (Neuro)Science Matters for Ethics“, Ethics 124, Nr. 4 (2014): 695–726.

[xvi]   vgl. bspw. Eric Schwitzgebel, „Do Ethicists Steal More Books?“, Philosophical Psychology 22, Nr. 6 (2009): 711–25; Edouard Machery, „Experimental Philosophy of Science“, in A Companion to Experimental Philosophy, hg. von Justin Sytsma und Wesley Buckwalter (John Wiley & Sons, 2016), 485–86.

[xvii]  David Velleman, zitiert nach John M. Doris et al., „Experimental Philosophy Defended“, Leiter Reports:  A Philosophy Blog (blog), 2006, http://leiterreports.typepad.com/blog/2006/03/experimental_ph.html.

[xviii]  Daniel Cohnitz, „Experimentelle Sprachphilosophie“, in Die experimentelle Philosophie in der Diskussion, hg. von Thomas Grundmann, Joachim Horvath, und Jens Kipper (Suhrkamp, 2014), 235.

[xix]   vgl. Kauppinen, „The Rise and Fall of Experimental Philosophy“, 9.

[xx]   vgl. Brendel, „Wissen, epistemische Intuitionen und Experimentelle Philosophie“, 211–12.

[xxi]   Joshua Knobe und Shaun Nichols, „An Experimental Philosophy Manifesto“, in Experimental Philosophy, hg. von Joshua Knobe und Shaun Nichols, Bd. 1 (Oxford University Press, 2008), 3–16.

[xxii]  Siehe dazu etwa Joshua Knobes T-Shirt auf https://exchanges.warwick.ac.uk/public/journals/1/cover_article_144_en_US.jpg (zugegriffen 30.08.2018)

[xxiii]  siehe bspw. Sytsma und Livengood, The theory and practice of experimental philosophy, xvii.