Der Feminismus der Kritik. Zur zarten, wohlwollenden und unbedingt kollektiven Seite von kritischen Praktiken
Von Janna Hilger
Kritik ist mit Antagonismen verbunden: Ein Kritiker erhebt die Stimme, weist auf Missstände hin, verneint, lehnt ab. Sein Nein gilt dabei nicht nur den bestehenden Umständen. Direkt oder indirekt konfrontiert er auch andere. Und auch angesichts von Versuchen, ein kritisches Sprechen einzuhegen und erträglicher zu machen („konstruktive Kritik“), bleibt dieser verneinende und aversive Zug bestehen. In diesem Text möchte ich mich nicht gegen diese Kritikeigenschaft an sich aussprechen. Ich will jedoch aufzeigen, dass Kritik vielschichtiger ist. Sie ist nur möglich aufgrund von Figuren, die wir im kritischen Sprechen zunächst nicht vermuten würden: Bejahung, Angewiesenheit und Sorge.
Die unsichtbare Rückseite von Kritik
Zu Beginn meiner Argumentation möchte ich folgendes festhalten: Den Begriff der Kritik verwende ich hier als zusammenfassende Beschreibung für eine Vielzahl von kritischen Praktiken. Diese fallen faktisch sehr unterschiedlich aus. Sie können z.B. sprachlich sein oder leiblich, etwa im Fall eines bewusst schweigend vollzogenen Protests. Sie können in einem akademischen Essay bestehen oder in einer aktivistischen Tätigkeit. „Kritik“ ist demnach stets ein Begriff mit einer Binnenpluralität. Dies anzuerkennen, impliziert zugleich, dass es mir nicht darum geht, diesen Begriff definitorisch zu schließen und auf eine bestimmte, „einzig wahre“ Kritikform zu beschränken. Vielmehr möchte ich mit den oben genannten Figuren auf eine oftmals unsichtbar bleibende Rückseite von kritischen Praktiken allgemein verweisen. Diese Rückseite hat, so will ich zeigen, einen Ermöglichungscharakter. Das heißt, ohne sie gibt es keine Kritik. In neueren Philosophien wird diese Verfasstheit von Kritik auf verschiedene Weisen umschriebenen. Michel Foucault spricht von Kritik als einer Sorgetätigkeit (HS; FS:17-19); Stefano Harney und Fred Moten von einem Geschenk (TU:62) und von „the secret once called solidarity“ (TU:42); Ruth Sonderegger bringt die Formulierung von einer „Sozialität der Kritik“ (LK:359) in Anschlag. Mit diesen Begriffen wird, so werde ich argumentieren, etwas eingefangen, was ich das Feministische der Kritik nenne.
Von Lanzen und Lehrern
Was genau ist unter dieser Sozialität der Kritik zu verstehen? Und warum ist diese Sozialität nötig für Kritik überhaupt? Um dies zu erläutern, ziehe ich Foucaults Vorlesungen zur europäischen Antike heran, die dieser in den letzten zwei Jahren vor seinem Tod im Jahr 1984 am Collège de France hielt. Hier befasst sich Foucault mit einem Figurenpaar: Dem Staatsmann in der attischen Demokratie und dem Philosophen-Lehrer, der diesen unterrichtet. Der Staatsmann wird von Foucault indirekt als eine Art historischer Vorläufer des modernen Kritikers gelesen. Er begibt sich in antagonistische Rededuelle vor der Volksversammlung, bei denen es laut Foucault darum gehe, den Gegner zurückzuweisen und die nicht überzeugte, eventuell feindselige Menge für sich zu gewinnen. Foucault beschreibt diese Showdowns auch als rivalisierendes Kräftemessen und „Lanzensteche[n]“ (RSA:204). Dabei macht der Staatsmann von einer Fähigkeit Gebrauch, die laut Foucault auch die heutige Kritikerin benötigt, nämlich die Fähigkeit zum Mut. Kritikerin und antiker Politiker müssen hervortreten und in einem riskanten Artikulationsakt ihre Wahrheit äußern – und dabei auch und gerade gegen andere sprechen. An diesem kurzen Abriss wird bereits deutlich, dass Foucaults Interesse an der Vergangenheit nicht rein archivarisch ist, sondern auf den heutigen Stand der Kritik abzielt. Die Vorlesungen werden angetrieben durch Fragen wie: Wie kam es zu den kritischen Praktiken, wie wir sie heute in der Gegenwart kennen? Welche Wechselspiele mit historisch veränderlichen Herrschaftskonstellationen waren nötig, um sie hervorzubringen? Wie genau sind diese gegenwärtigen Praktiken beschaffen? Darin implizit ist eine weitreichende Prämisse. Kritik hat eine (von Foucault unberechtigterweise eurozentristisch erzählte) Geschichte. Das heißt, die kritischen Praktiken kommen aus historischen Formationen, ohne die sie so – also in den uns bekannten Formen – nicht existieren würden.
Gerade mit Blick auf den Gegenwartsbezug von Foucaults Überlegungen ist es bedeutsam, dass noch eine zweite Figur ins Spiel kommt. Der Philosophielehrer (der in den Vorlesungen insbesondere durch Sokrates verkörpert wird) ist in Foucaults Konzeption eine Art Nullpunkt der Kritik. Er befähigt zu den genannten Fähigkeiten, indem er ein Wissen um konkrete (Sprech-)Praktiken an seine Schüler weitergibt. So fordert er sie zu einer regelmäßigen Rechenschaftsablegung über die eigene Lebensführung auf, die schlussendlich zu einer eigenständigen, ethischen Selbstbefragung des Schülers führen soll. Diese ist wiederum nötig für den beschriebenen Redewettkampf. Denn hier stellen sich Fragen wie: Sprechen oder nicht sprechen? Was ist das Risiko und bin ich bereit, es zu tragen, um meine Wahrheit zu äußern? Was würde es mich kosten, das, was ich für wahr halte, nicht zu äußern? Die Rolle des Lehrers ist dabei eine unterstützende und in diesem Sinne wohlwollende. Allerdings verweist Foucault darauf, dass auch in dieser Beziehung, ähnlich wie im Antagonismus der Staatsmänner, etwas Riskantes, „Unangenehmes“ bestehen bleibt. Dies gilt, weil sich der Schüler dem Lehrer überantwortet und ihm die Erlaubnis erteilt, ihm die schonungslose Wahrheit über sich selbst zu sagen. So kann der Lehrer dem Schüler etwa mitteilen, dass er zu der beschriebenen ethischen Selbstprüfung noch nicht in der Lage ist und ihm die Gründe dafür nennen.
An dem Lehrer-Schüler-Beispiel erhellt sich auch die hier übernommene Formulierung von einer Sozialität. Diese Lehrbeziehung ist in Philosophieschulen eingebettet, das heißt in weiter gefasste, kollektive Gefüge. Diese Schulen haben sich, so Foucault, der „gegenseitigen Seelenprüfung“ (MW:120) verschrieben. Mit anderen Worten, es existieren Beziehungen des wechselseitigen Lehrens, Überprüfens und Befähigens. Von diesen ist der Lehrer selbst nicht ausgenommen. Laut Foucaults Interpretation benötigt auch er zweitweise eine externe Korrektur, die seine eigenen ethischen Fähigkeiten (erneut) schärft (MW:202–203). Genau dies ermöglicht es ihm, seine Schüler zu unterrichten und in ihrem ethischen Werdensprozess zu führen.
Das Anderswo der Kritik
Ich referiere Foucaults Ausführungen nicht deswegen, weil ich die sexuell ausbeuterischen antiken Lehrer-Schüler-Beziehungen in ihrer historischen Konkretheit als potenziell wertvoll für die Gegenwart erachte. Ähnliches gilt für die staatsmännischen Rededuelle. Zwei mit allerlei Vorrechten ausgestatte Männer, die in einem hoch exklusiven Rahmen verbal aufeinander losgehen, sind unter der hier veranschlagten feministischen Perspektive weder interessant noch informativ. Stattdessen geht es mir – wie auch Foucault selbst – um einen abstrahierbaren Kern des Historischen. Dieser gibt Auskunft über kritische Praktiken in der Gegenwart. Zunächst können wir aus Foucaults Analysen folgende Feststellung gewinnen: Das Bild eines einsamen, waghalsigen Kritiker-Helden, der sich allein gegen die Welt stellt, ist nur die halbe Wahrheit. Denn es verschleiert eine einfache Tatsache, nämlich dass das Subjekt nicht von sich aus kritisch wird. Es schöpft seine Fähigkeiten zur Kritik nicht aus seinem eigenen Sein, sondern erhält sie von anderswoher. In diesem Sinn ist das Subjekt in seinem Prozess des Kritischwerdens unbedingt auf andere angewiesen.
Dieser Andere kann dabei eine konkrete Einzelperson sein, die das Subjekt unterrichtet – etwa ein „tatsächlicher“ Lehrer wie es der antike Philosoph ist. Es kann sich dabei jedoch ebenso um eine Gruppe handeln, die als kollektive Lehrerin auftritt. Zuletzt sind auch deutlich unpersönlichere Orte denkbar, von denen das Subjekt seine kritischen Fähigkeiten erhält. Beispielsweise kann eine Unbeteiligte zufällig eine Kritikszene mitbekommen, die ihr nicht mehr aus dem Kopf geht. Oder das Subjekt kann sich durch selbst geführte oder auch nur flüchtig mitgehörte Alltagsgespräche in seinen eigenen Zweifeln gegenüber dem Status Quo bestätigt fühlen und dies in Folge auch artikulieren. Die Aktivistin und Forscherin Marta Malo de Molina schreibt in diesem Zusammenhang treffenderweise von dem fortlaufenden „unterirdischen und häufig unsichtbaren Faden des Unbehagens“ (WS:143). Ähnlich wie in den antiken Philosophieschulen dient das lehrende Gegenüber dabei dazu, einen – unter Umständen schmerzhaften – Wahrheitsmoment herbeizuführen. Dieser kann lauten: Unterdrückungsmechanismen, etwa entlang von race, Klasse und Gender, existieren; sie involvieren alle, auch mich als einzelnes Subjekt, und prägen mein individuelles Leben; in ihrem tatsächlichen Ausmaß werden sie meist unterschätzt, verschleiert oder bewusst kleingeredet. Mit dieser Erkenntnis fällt eine Selbstprüfung zusammen: Was sind meine eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, kritisch zu sprechen? Wird meine Wahrheit in dieser gegebenen Situation gehört, kann und möchte ich sie äußern?
Feministische Kritikpraktiken
In der Kritik gibt es also, so meine hier vertretene These, ein kollektives Präparationsmoment, das das spätere Auftreten der mutigen, aversiven Kritikerin erst ermöglicht. Was bedeutet diese jedoch für die kritischen Praktiken selbst? Meiner Argumentation zufolge sind sie keine Fähigkeiten, die Subjekte individuell besitzen. Vielmehr handelt es sich dabei um einen geteilten Wissensbestand, der vorgängig zum kritischen Individuum existiert und dieses erst kritisch macht. Mit diesem Wissen meine ich dabei sowohl die Inhalte als auch das Wie der Kritik, ihre Techniken. Diese können, wie bereits erwähnt, den stillen, nicht-einwilligenden Protest ebenso umfassen wie die laute Konfrontation. Das kritisierende Subjekt wiederum aktualisiert im Vollzug dieser Kritikpraktiken das kollektiv angesammelte Wissensreservoir, das es somit als Erbe übernimmt und bejaht. Oder anders formuliert: Die Kritikerin schreibt sich in eine – teilweise nur untergründig vernommene – Sozialität der Kritik ein. Dabei bewirkt die Kritikerin zugleich, dass diese mehr oder weniger lose, in sich heterogene Gemeinschaft weiter besteht – und mit ihr das Kritikwissen. Dabei geht es nicht nur um eine reine Bewahrung. Vielmehr muss das kritische Subjekt die von anderswoher erhaltenen Praktiken an die eigene Situation und Fähigkeiten anpassen und somit aktualisieren. Mit einem zusammenfassenden Begriff kann Kritik auch als eine fortlaufende, vielschichtige Sorgetätigkeit gefasst werden. Zu ihrem Fortleben benötigt Kritik Subjekte, die sich um einen modifizierenden Erhalt kümmern, das Kritikwissen weitergeben und sich dabei auch immer um andere, konkrete Subjekte in Gegenwart und Zukunft sorgen. In diesem Sorgeaspekt zeigt sich eine feminin konnotierte und – meiner Ansicht nach – feministische Eigenschaft von Kritik.
Janna Mareike Hilger ist Vertretungsprofessorin an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Sie promovierte am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über Safe Spaces und die Schnittstelle zwischen Sorge und Kritik. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen bei Foucault und der (queer)feministischen Theorie.
Literatur
de Molina, Marta Malo in: Precarias a la deriva (2014). Was ist dein Streik? Militante Streifzüge durch die Kreisläufe der Prekarität. Wien/Linz, Transversal texts.
Foucault, Michel (2012). Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84. Berlin, Suhrkamp.
Foucault, Michel (2016). Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/82). 3. Aufl. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Harney, Stefano/Moten, Fred (2013). The Undercommons. Fugitive Planning & Black Study. Wivenhoe, Minor Compositions.
Sonderegger, Ruth (2019). Vom Leben der Kritik. Kritische Praktiken – und die Notwendigkeit ihrer geopolitischen Situierung. Wien, Zaglossus.