Was ist eigentlich feministische Philosophie?
Von Hilkje C. Hänel (Potsdam)
Feministische Philosophie ist mittlerweile auch in Deutschland auf dem besten Weg, eine eigene anerkannte Forschungsrichtung in der Philosophie zu werden. Wo man sich als feministische Philosophin noch vor wenigen Jahren mit der Frage konfrontiert sah, ob Feministische Philosophie überhaupt Philosophie sei, sieht man sich heute „nur“ noch mit der Frage konfrontiert, was Feministische Philosophie eigentlich ist. Wenn man, wie ich, sich über viele Jahre dafür rechtfertigen musste, überhaupt Feministische Philosophie zu betreiben, wenn man sich also wieder und wieder mit der Annahme konfrontiert sah, dass Feministische Philosophie gar keine Philosophie ist, dann stößt allerdings auch die Frage, was Feministische Philosophie eigentlich ist, auf Unbehagen. Wir fragen ja schließlich auch nicht, was Logik eigentlich ist? Oder Sprachphilosophie? Oder Moralphilosophie? Tatsächlich gibt es aber einen großen Unterschied zwischen der Frage, ob Feministische Philosophie überhaupt Philosophie ist, und der Frage, was Feministische Philosophie eigentlich ist. Und während die erste Frage keinerlei Berechtigung hat, sollten wir – auch oder gerade als feministische Philosoph*innen – uns mit der zweiten Frage beschäftigen. Denn, wenn wir mal ehrlich sind, so ganz einfach ist eine Antwort nicht zu finden. Was also ist Feministische Philosophie? Und wie steht Feministische Philosophie in Relation zu anderer Philosophie?
Eine erste und einfache Möglichkeit, um zu einer Antwort zu gelangen, ist es, Feministische Philosophie in Analogie zu anderen Disziplinen der Philosophie zu betrachten. Also: Sprachphilosophie kümmert sich um Belange der Sprache, Moralphilosophie um moralische Fragen – und Feministische Philosophie kümmert sich eben um Feminismus. Das klingt zunächst plausibel, verschiebt aber eigentlich nur das Problem. Denn: Was ist eigentlich Feminismus?[1] So ist doch alles andere als klar, was Feminismus eigentlich genau ist. Man könnte zunächst intuitiv annehmen, beim Feminismus ginge es um die Gleichberechtigung von Frauen. Aber wer zählt in diesem Zusammenhang überhaupt als Frau? Der Feminismus der 99 Prozent, für den Anfang 2019 Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser in einem Manifest argumentiert haben, kritisiert, dass viele Errungenschaften des Feminismus eben nicht für alle Frauen sind. Zu oft werden schwarze Frauen, behinderte Frauen, Frauen der Arbeiterklasse und arme Frauen (um nur einige zu nennen) einfach vergessen. Außerdem wird Feminismus häufig nur aus westlicher Sicht betrachtet. Und, wie Serene Khader in Decolonizing Universalism zeigt, westlicher Feminismus ist nicht nur nicht global, sondern häufig auch paternalistisch, wenn es um die Belange von anderen Frauen geht. Vor allem in England gibt es derzeit eine hitzige Diskussion darüber, ob trans Frauen eigentlich Frauen sind und zum Beispiel Zugang zu Räumen haben sollten, die ansonsten nur Frauen vorbehalten sind? (Spoiler: Ja!) Wenn es beim Feminismus also um die Abschaffung der Unterdrückung aller Frauen geht, wenn Feminismus also intersektional gedacht wird, dann geht es eigentlich um viel mehr: Dann geht es auch um die Abschaffung von Sexismus, Rassismus, Ableismus, Kapitalismus, Kolonialismus und die Abschaffung des binären Geschlechtersystems – kurz: um die Abschaffung von Unterdrückung. Da würden aber, erstens, nicht alle feministischen Philosoph*innen mitgehen, und zweitens, stellt sich dann die Frage, was feministische Philosophie eigentlich von Kritischer Theorie oder von Sozialphilosophie unterscheidet.
Eine zweite Möglichkeit, zu einer Antwort zu gelangen, ist es Feministische Philosophie als Philosophie zu betrachten, die normative Annahmen aus bestimmten Standpunkten heraus entwickelt. Mit anderen Worten, wenn wir Feministische Philosophie betreiben, dann machen wir explizit, welche soziale Position wir einnehmen und inwieweit dadurch zum Beispiel unser Wissen beschränkt ist oder unsere Interessen und Fragestellungen vorgegeben sind. Das klingt plausibel. Feministische Philosophie beschäftigt sich demnach damit, inwieweit unsere soziale Position unsere philosophischen Möglichkeiten einschränkt oder erweitert. Aber, und genau das ist auch lange Streitpunkt zwischen Feministischer Philosophie und anderer Philosophie gewesen, unsere soziale Position beeinflusst unsere Philosophie so oder so – auch wenn wir dies nicht explizit machen und auch, wenn wir uns mit ganz anderen Bereichen der Philosophie beschäftigen. Die Kritik ist mittlerweile bekannt: Warum fand die Unterdrückung von Frauen oder die Unterdrückung von rassifizierten Personen keine Erwähnung in Rawls Theorie der Gerechtigkeit? Warum galten Frauen bei Rousseau als ungeeignet für rationale Gedankengänge? Warum nahm Kant an, dass dunkle Hautfarbe ein Zeichen von minderer Intelligenz ist? Elizabeth Anderson, Charles Mills und viele andere haben nicht umsonst dafür argumentiert, dass unsere soziale Position, unsere Relation zu anderen, unsere Marginalisierung oder unsere Privilegien dafür sorgen, dass unsere theoretischen Untersuchungen durch bestimmte Annahmen gekennzeichnet sind – ja, dass sogar schon die Fragestellung, mit der wir unsere Untersuchungen beginnen, durch uns als spezifische Person beeinflusst ist. Was wir wissen, wie wir es wissen und wozu wir uns äußern hat immer auch mit unseren eigenen gelebten Erfahrungen zu tun. Nicht umsonst wird gerade stark kritisiert, dass viele Talkshows zum Thema Rassismus fast ausschließlich mit weißen Männern besetzt sind und diese einen nur eingeschränkten Zugang zu Wissen über rassistische Diskriminierung haben können. Und es ist auch nicht überraschend, dass viele Männer erstaunt waren über die Ausmaße, in denen Frauen – Frauen, die sie kennen – im Zuge von #MeToo über eigene Erfahrungen sexueller Gewalt berichtet haben. Objektivität, so die Einsicht vieler feministischer Philosophinnen – aber eben auch anderer – ist kein gott-gleicher Zustand, den wir als Individuum vom Lehnstuhl aus erreichen können; für starke Objektivität, so Sandra Harding, braucht es eine diverse Gruppe an Philosoph*innen und Wissenschaftler*innen mit unterschiedlichen Erfahrungen, unterschiedlichen Interessen und unterschiedlichen Möglichkeiten, Zugang zu Wissen zu erlangen.
Nun könnte man natürlich sagen, dass Feministische Philosophie eben solche Philosophie ist, die normative Annahmen nicht nur explizit vertritt, sondern die ganz bestimmte normative Annahmen explizit vertritt. Aber dann stellt sich die Frage, welche Annahmen das sind: Annahmen über die Gleichberechtigung der Geschlechter? Humanistische Annahmen? Aber da sich diese Annahmen in irgendeiner Weise aus unserem Verständnis von Feminismus speisen, ergibt sich hieraus dann erneut die Frage, was der Feminismus eigentlich für Annahmen macht –oder eben wieder: Was ist Feminismus eigentlich genau? Außerdem ist die Feministische Philosophie sicher nicht die einzige philosophische Richtung, der explizit humanistische Annahmen zugrunde liegen, so dass sich auch hier wieder die Frage stellt, wie sich Feministische Philosophie eigentlich in Relation zu anderer Philosophie verhält.
Die erste Möglichkeit – Feministische Philosophie als Philosophie, die sich um Feminismus kümmert – und die zweite Möglichkeit – Feministische Philosophie als Philosophie, die auf bestimmten normativen Annahmen aufbaut – beleuchten die Frage zum einen von einem inhaltlichen, zum anderen von einem methodischen Standpunkt. Und wie so oft in der Philosophie sind unsere Intuitionen zwar nicht narrensicher, aber wir können trotzdem etwas aus ihnen lernen. In diesem Fall, dass Feministische Philosophie sich sowohl durch bestimmte inhaltliche als auch bestimmte methodische Überlegungen auszeichnet.
Im Hinblick auf die Methode zeichnet sich Feministische Philosophie durch die Annahme aus, dass unser Wissen situiert ist, dass unsere philosophischen Überzeugungen sich aus unseren sozialen Positionen speisen und dass wir relationale Wesen sind. Mit anderen Worten betreiben wir Philosophie von einer bestimmten sozialen Position aus und je nachdem, welche Position wir in der sozialen Struktur einnehmen, stehen wir in bestimmten Relationen zu anderen Personen. Sowohl was wir erleben, aber auch was wir wissen und wie wir es wissen, hat damit zu tun, welche Positionen wir einnehmen und welche Möglichkeiten uns diese Positionen geben.
Im Hinblick auf den Inhalt zeichnet sich Feministische Philosophie dadurch aus, dass sie sich mit Fragen beschäftigt, die eine direkte Relevanz zum sozialen Leben haben – besonders zu einem sozialen Leben, wie es von Frauen und anderen marginalisierten sozialen Gruppen erlebt wird. Es geht also nicht um die Entwicklung idealer Kriterien dafür, was Gerechtigkeit ist, sondern darum zu zeigen, wie bestimmte soziale Gruppen von Ungerechtigkeit betroffen sind. Dass sich das nicht allein auf die Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen bezieht, ergibt sich schon durch den intersektionalen Anspruch – Frau ist schließlich nicht gleich Frau; vielmehr sind die meisten sozialen Akteure von unterschiedlichen Formen der Ungerechtigkeit betroffen, durch ihr Geschlecht, ihr Alter, ihren Migrationshintergrund, ihre Hautfarbe, ihre Religion, ihren Körper und so weiter.
Es stellt sich jedoch unverändert die Frage, was Feministische Philosophie dann von anderen Richtungen der Philosophie abgrenzt. Schließlich befasst sich auch Sozialphilosophie mit sozialer Ungerechtigkeit und Kritische Theorie mit situierten Standpunkten, um nur zwei Beispiele zu nennen. Mein Vorschlag ist: Feministische Philosophie befasst sich primär mit Fragen und Problemen, die sich aus der binären Geschlechterordnung ergeben – und das führt durchaus zu ganz anderen Analysen, als wenn es sich bei Feministischer Philosophie um Philosophie handelt, bei der es primär um „Frauen“ geht. Ein Beispiel veranschaulicht dies:
Im Zuge der Maßnahmen zur Abschwächung von Ungleichheiten, die durch die Coronakrise verstärkt wurden, wurde das Wissenschaftszeitvertragsgesetz mit einer Verlängerungsmöglichkeit der Höchstbefristungsdauer versehen. Die grundsätzliche Idee ist, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf befristeten Stellen zur Weiterqualifizierung zeitlich zu entschädigen. Dass damit natürlich insbesondere die hochgradig prekären Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – nämlich jene, die auf Vetretungsstellen sitzen oder sich von einem Lehrauftrag zum nächsten hangeln – nicht weiter berücksichtigt werden, ist mittlerweile bekannt. Zusätzlich ist es aber auch so, dass die Coronakrise nicht für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf befristeten Stellen gleichermaßen strapaziös war; während einige plötzlich Lehre, Forschung und die Pflege von Kindern und Angehörigen vereinbaren mussten, hatten andere weniger Präsenzveranstaltungen und weniger Konferenzen und also mehr Zeit für die Forschung. Tatsächlich haben die renommiertesten philosophischen Zeitschriften zwischenzeitlich einen Annahmestopp an Artikeln eingeführt, weil sich die Zahl der eingesandten Artikel mehr als verdoppelt hat. Während also einige die Zeit optimal nutzen konnten, um an ihrer Karriere zu feilen, sind andere durch zusätzliche Betreuung beispielsweise von Kindern so weit in ihrer Forschung zurückgefallen, dass auch eine Veränderung der Höchstbefristungsdauer keinen signifikanten Unterschied mehr macht. Zunächst scheint dies ein Problem zu sein, was tatsächlich Frauen betrifft. Mehr Frauen sind aufgrund von Kinderbetreuung weniger flexibel und dadurch ohnehin schlechter für eine Karriere in der Wissenschaft aufgestellt, also häufiger in prekären Stellen – wie Vertretungsstellen und Lehraufträgen – beschäftigt. Und mehr Frauen haben während der Coronakrise versucht, Familie und Lehre zu vereinbaren – wobei an Forschung dann oftmals nicht mehr zu denken war. Aber eben nicht nur Frauen und nicht alle Frauen. Vielmehr sind hier insgesamt all jene betroffen, die mit der Pflege von Angehörigen und Kindern beschäftigt sind; eine feministische Analyse, die dieses Problem ausschließlich als Problem von Frauen betrachtet, verkennt, wer von dieser Ungleichheit tatsächlich betroffen ist. Andererseits hat es natürlich einen Grund, dass gerade Frauen überproportional oft betroffen sind, nicht etwa weil mehr Frauen Kinder oder Angehörige hätten, sondern weil die binäre Geschlechterordnung mit bestimmten Normen einhergeht, nach denen immer noch vor allem Frauen für die Pflege und Versorgung von Kindern und Angehörigen verantwortlich sind. Feministische Philosophie ist also Philosophie, die sich nicht auf Frauen konzentriert, sondern die die Unterdrückungsmechanismen untersucht, unter denen bestimmte soziale Gruppen aufgrund der binären Geschlechterordnung leiden.
Hilkje Charlotte Hänel ist seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin für politische Theorie an der Universität Potsdam und ab 2021 zudem Principal Investigator eines DFG-Forschungsnetzwerks zum Thema Epistemische Ungerechtigkeit und Anerkennungstheorie. Von 2018 bis 2020 war Hänel als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin tätig. Sie war zudem sechs Jahre lang Vorstandsmitglied von SWIP Deutschland und ist Teil des wissenschaftlichen Beirats „Suicidal crisis Intervention Culture oriented and Gender Adapted“ am Center für Psychiatry und Psychotherapie der Charité Berlin sowie des ethischen Beirats von Cadus e.V. Ihre Dissertation zum Begriff der Vergewaltigung ist 2018 bei transcript Publishers erschienen. Sie ist außerdem Autorin von zwei deutschen Büchern, Wer hat Angst vorm Feminismus (C.H. Beck) und Sex und Moral (Metzler, Reihe #PhilosophieOrientiert) und schreibt derzeit ein Buch über epistemische Ungerechtigkeiten und Anerkennungstheorie für Mentis sowie eine Einführung in die epistemische Ungerechtigkeitsdebatte. Hänel arbeitet an der Schnittstelle von Anerkennungstheorie, epistemischer Ungerechtigkeit und Ideologietheorie aus feministischer Sicht. Weitere Forschungsinteressen sind Philosophie der Behinderung, Migration und nicht ideale Theorie. Ihre Artikel sind unter anderem in Ergo, Journal of Social Philosophy, Hypatia, Social Epistemology und Moral Philosophy and Politics erschienen.
[1] Wer sich tiefergehend für diese Frage interessiert, dem sei mein kürzlich erschienenes Buch Wer hat Angst vorm Feminismus (C.H.Beck, 2021) empfohlen.