Ein «Experiment der reinen Vernunft»: Kants Erfindung des philosophischen Gedankenexperiments

Von Jelscha Schmid (Basel)


Gedankenexperimente haben die Philosophie insofern schon immer beschäftigt, als solche Experimente schon immer Teil dessen ausgemacht haben, was es heisst zu philosophieren. Eine explizite Debatte über das, was ein Gedankenexperiment ist, entsteht aber erst viel später, nämlich einerseits als Teilgebiet der Wissenschaftsphilosophie und andererseits als Teilgebiet der Metaphilosophie. Wie und wann aber entstand dieses Nachdenken über und nicht nur mit Gedankenexperimenten? Entgegen der gängigen Auffassung führt uns eine Antwort auf diese Frage zurück zu Immanuel Kant (1724-1804) und seinem kritischen Unterfangen, «das bisherige Verfahren der Metaphysik» zu revolutionieren (Bxxii).

Wer sich mit der Geschichte der Philosophie des Gedankenexperiments beschäftigt, beginnt meist mit dem dänischen Wissenschaftler Hans Christian Ørsted (1777-1851). Ørsted, so die geläufige Ansicht, führte erstmals den Begriff des «Gedankenexperiments» (dän. Tankeexperiment) in den wissenschaftlichen Diskurs ein. Da seine Definition und Verwendung des Begriffs aber keine grossen Auswirkungen auf die Wissenschaft seiner Zeit hatte, wird die tatsächliche Entdeckung des Gedankenexperiments schliesslich erst Ernst Mach zugeschrieben.[1] Machs Beschreibung der Methode des Gedankenexperiments hatte dieses in Analogie zum realen Experiment gesetzt und damit die metaphilosophische These des ‘Experimentalismus’ begründet. Der Kerngedanke des Experimentalismus lautet: «Nur weil Gedankenexperimente in einem ‘geistigen Labor’ standfinden, hören diese nicht auf Experimente zu sein».[2]

Nach Mach zeichnen sich Experimente gerade darüber aus, dass sie die Methode der Variation verwenden. Das bedeutet, dass Experimentator*innen ihre Hypothesen und Theorien überprüfen, indem sie deren Zielobjekte unter verschiedene Bedingungen und Umstände bringen, um dabei herauszufinden, welche dieser variierten Faktoren Einfluss haben und welche nicht. Über eine gleichzeitige Variation der Bedingungen, als auch vermittelst deren Modifikation und Spezialisierung, wird der Umfang sowie die Bestimmtheit der Theorie präzisiert. Während wir in normalen Experimenten unsere Theorien an natürlichen Gegenständen und Situationen testen, bestehen Gedankenexperimente in einer Variation von Gedankeninhalten.[3] Wissenschaftler*innen «stellen sich Umstände vor, und knüpfen an diese Vorstellung die Erwartung, Vermutung gewisser Folgen» und im Falle des Gedankenexperiments machen sie hierbei «eine Gedankenerfahrung».[4] Mit dieser Auffassung ist gemäss Standardnarrativ die Debatte über Gedankenexperimente als experimentelle Methode der Wissenschaften geboren.

Was nun aber in solchen Geschichtsschreibungen meist übersehen wird, ist der folgende Umstand: Obschon es stimmt, dass erst Mach über einen derartigen Begriff des Gedankenexperiments verfügt, weist Ørsted bereits auf diese experimentelle Methode des Gedankenexperimentierens hin. Ørsted bemerkt nämlich, dass sich in Kants Philosophie «die schönsten Beyspiele» für Gedankenexperimente finden liessen.[5] Ein genauerer Blick in Kants Schriften zeigt, dass dieser tatsächlich schon explizit über das Experimentieren mit Gedanken und zwar als Methode der Philosophie selbst nachgedacht hat. Im Vorwort zur zweiten Fassung der Kritik der reinen Vernunft vertritt er nämlich die These, dass Metaphysik genau dann Wissenschaft werden kann, wenn sie sich eine wissenschaftliche Methode zu eigen macht. Diese wissenschaftliche Methode gewinnt Philosophie nicht durch ein Nachahmen der mathematischen Methode, wie es durch die Philosophiegeschichte hindurch noch so mancher Denker*in verkündet hatte (z.B. Descartes, Spinoza, Leibniz). Im Gegenteil, die Philosophie müsse sich einer, «dem Naturforscher nachgeahmte[n] Methode» bedienen (Bxix). Das wiederum bedeutet für Kant, dass die neue Metaphysik ein Verfahren entwickeln muss, welches das experimentelle Paradigma in die Philosophie selbst hineinträgt.[6] Diese Methode besteht nach Kant darin «die Elemente der reinen Vernunft in dem zu suchen, was sich durch ein Experiment bestätigen oder widerlegen lässt» (Bxix).[7]  

Kant verlangt also von der Philosophie, dass sie sich ein experimentelles Verfahren zulegt, vermittelst welchem die Vernunft als Fähigkeit zur Erkenntnis in ihre konstitutiven Teile zerlegt werden kann. Weiter spezifiziert er, dass dieses «Experiment der reinen Vernunft […] mit dem der Chemiker, welches sie manchmal […] das synthetische Verfahren nennen, viel Ähnliches» hat (Bxxi). Was er damit meint, folgt sogleich im nächsten Satz:

Die Analysis des Metaphysikers schied die reine Erkenntnis a priori in zwei sehr ungleichartige Elemente, nämlich die der Dinge als Erscheinungen, und dann der Dinge an sich selbst. Die Dialektik verbindet beide wiederum zur Einhelligkeit mit der notwendigen Vernunftidee des Unbedingten und findet, dass diese Einhelligkeit niemals anders, als durch jene Unterscheidung herauskomme, welche also die wahre ist. (Bxxi)

Kant glaubt, dass Philosophie ihre begrifflichen Unterscheidungen nur durch ein experimentelles Verfahren als korrekt ausweisen kann. Dieses Verfahren gleicht der Weise, in welcher Chemiker*innen Stoff-Gemische in deren Elemente zerlegen (Analyse) und dann, in einem zweiten Schritt, dieses Gemisch wieder aus diesen Elementen herstellen (Re-synthese). Das Experiment der reinen Vernunft besteht grob aus zwei Teilen; während der analytische Teil dazu dient, reine Erkenntnis a priori in ihre Elemente ‘zu scheiden’, ‘verbindet’ der synthetische Teil diese zwei Elemente wieder in das ursprüngliche Kompositum. Die Korrektheit der vorherigen Analyse erweist sich erst im zweiten, synthetischen Schritt.

Wie müssen wir uns dann Kants Methode der «zukünftigen Metaphysik» vorstellen? Wie kann Metaphysik experimentell werden, obwohl sie sich doch eben gerade nicht mit materiellen Stoffen (wie die Chemie) beschäftigt, sondern vielmehr mit dem Unbedingten selbst, also mit dem, was der Erfahrung gerade nicht zugänglich ist?

Im Bewusstsein dieser Schwierigkeit sagt Kant, dass zur «Prüfung der Sätze» dieser neuen Philosophie «kein Experiment mit ihren Objekten [ge]mach[t] [werden kann] (wie in der Naturwissenschaft)», sondern dass philosophische Experimente «nur mit Begriffen und Grundsätzen, die wir a priori annehmen», hantieren (Bxix). Genauer beginnt Kants Metaphysiker sein Experiment, indem er als Hypothese eine begriffliche Unterscheidung setzt, anhand derer er schliesslich «das sehr vermischte Gewebe der menschlichen Erkenntnis» in diejenigen reinen Elemente zerlegt (B85/B117). Metaphysiker*innen haben die Aufgabe «Erkenntnisse, […] zu isolieren, und dann sorgfältig zu verhüten, dass sie nicht mit anderen, mit welchen sie im Gebrauche gewöhnlich verbunden sind, in ein Gemisch zusammenfliessen. Was [Chemiker*innen] beim Scheiden der Materien, […], tun, das liegt noch weit mehr dem Philosophen ob» (A842/B870). Sie präparieren also aus Instanzen gewöhnlicher menschlicher Erkenntnis deren reinen, oder konstitutiven Elemente heraus, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, und bestimmen damit deren spezielle Eigenschaften.

In einem zweiten Schritt werden diese konstitutiven Bestandteile auch in Relation zueinander bestimmt und dabei durch ihre Weise, sich miteinander zu verbinden, charakterisiert. Im synthetischen Teil des Experiments werden nämlich die Resultate dieser Analyse wieder zum Ausgangskompositum verbunden. Oder in Kants Worten:

Was Gegenstände betrifft, sofern sie bloss durch Vernunft und zwar notwendig gedacht, die aber […] gar nicht in der Erfahrung gegeben werden können, so werden die Versuche sie zu denken […], hernach einen herrlichen Probierstein desjenigen abgeben, was wir als die veränderte Methode der Denkungsart annehmen, […]. (Bxviii)

Der synthetische Teil des Experiments soll zeigen, dass und wie wir aus einer Kombination dieser reinen, kognitiven Elemente zur Konstitution von metaphysischer Erkenntnis gelangen können und damit auch, ob das Experiment der reinen Vernunft gelungen ist. Aus Kants Überlegungen lässt sich also folgender Schluss ziehen: Experimente sollen in die Philosophie integriert werden, als Versuch deren Wissenschaftlichkeit in Anlehnung an die wissenschaftliche Methode der experimentierenden Wissenschaften zu sichern.

Was Kant als Methode der kritischen Philosophie beschreiben hat, weist interessante Ähnlichkeiten mit dem Machschen Begriff des Gedankenexperimentierens auf und koppelt an die Begründung einer wissenschaftlichen Metaphysik, an die Bedingung einer Philosophie, die experimentiert. Im Vergleich zu Machs Gedankenexperimenten variiert das kritische Experiment nicht zwischen Gedankeninhalten, um deren Abhängigkeit von gewissen anderen Inhalten zu bestimmen. Vielmehr variiert es zwischen den kognitiven Elementen, die angenommen werden müssen, damit so etwas wie Gedankeninhalte überhaupt möglich sind. Es bestimmt dabei die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, aber auch im Besonderen von metaphysischer Erkenntnis und somit auch über die Möglichkeit einer Metaphysik, die den «sicheren Gang einer Wissenschaft» gehen kann.[8]  


[1] Vgl. Cohnitz (2006, 2008) und Kühne (2005: 95-162). Cohnitz (2008) zeigt zudem, dass die Kernbedeutung von Ørsteds Begriff des Gedankenexperiments «keine Erkenntnismethode der Naturwissenschaften, sondern vermutlich vielmehr eine bestimmte Verfahrensweise in der Mathematik» bezeichnet (408).

[2] Gooding (1993: 281). Wie ursprünglich Mach vertreten auch Gooding (1993), Sorensen (1992) und Buzzoni (2007) eine Variante der experimentalistischen These.

[3] Mach (2011: 193-210).

[4] Mach (2011: 196).

[5] Ørsted (1822: 483).

[6] Dazu inspiriert hat ihn vielleicht Humes Treatise of Human Nature (1739-40), der den vielsprechenden Untertitel «An attempt to introduce the experimental method into moral subjects» trägt.

[7] Bisher gibt es nur wenig Forschung zu Kants Methode des Philosophischen Gedankenexperiments, Kalin (1972), Fehige & Stuart (2014) und Buzzoni (2011; 2019). Letzterer ist vor Allem Urheber der «kantische Theorie» von wissenschaftlichen Gedankenexperimenten, mit welchen er letztendlich auch mit philosophische Gedankenexperimenten gleichsetzt. Dabei übersieht er die Wichtigkeit von Kants Analogie zur Chemie. Diese erklärt nämlich die bestimmte Art und Weise, in welcher Philosophie experimentell verfährt und somit methodologische Ähnlichkeit mit den Naturwissenschaften erzielt.  

[8] Im Übrigen wird diese Konzeption einer in Gedanken experimentierenden Philosophie über das kritische Projekt hinaus von den Autoren des Deutschen Idealismus, im Besonderen von Fichte und Schelling, weitergetragen. Während es Fichte in eine psychologistische Richtung treibt, versucht sich Schelling an einer naturphilosophischen Deutung des Gedankenexperiments und schlägt gar vor, Wissenschaft als Ganze unter der Leitung der Philosophie als Experiment zu verstehen. Siehe Schmid (2018, 2020a, 2020b).


Quellen

Buzzoni, M. (2007), “Zum Verhältnis zwischen Experiment und Gedankenexperiment in den Naturwissenschaften”, Journal for General Philosophy of Science, 38: 219–237.

Buzzoni, M. (2011), “Kant und das Gedankenexperimentieren”, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 59: 93–107.

Buzzoni, M. (2019), «Thought Experiments in Philosophy: A Neo-Kantian and Experimentalist Point of View”, in Topoi 38(4): 771-779.

Cohnitz, D. (2006), Gedankenexperimente in der Philosophie. Paderborn: Mentis.

Cohnitz, D. (2008), “Ørsteds Gedankenexperiment: Eine Kantianische Fundierung der Infinitesmalrechnung? Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte von ‘Gedankenexperiment’ und zur Mathematikgeschichte des frühen 19. Jarhunderts”, in Kant-Studien, (99): 407–433.

Fehige, Y. & Stuart, M. (2014), “On the origins of the Philosophy of Thought Experiments: The Forerun”, in Perspectives on Science 22(2): 179-220.

Kalin, M. (1972), “Kant’s Transcendental Arguments as Gedankenexperimente», in Kant-Studien 63 (1-4): 315-328.

Kant, I. (1900- ), Kants gesammelte Schriften. Berlin: De Gruyter.

Kühne, U. (2005), Die Methode des Gedankenexperimentierens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Mach, E. (2011), Erkenntnis und Irrtum. Ernst Mach Studienausgabe Bd. 2. Berlin: XENOMOI.

Ørsted, H. C. (1822): „Oersted über das Studium der allgemeinen Naturlehre“. In: Journal für Chemie und Physik 36(4).

Schmid, (2018). «Schelling’s Method of Darstellung: Presenting nature through experiment”, in History and Philosophy of Science Part A. 69 12-22.

Schmid, J. (2020), “Es ist so, weil ich es so mache. Fichtes Methode der Konstruktion”, in Fichte-Studien 48 (2): 389-412.

Schmid, J. (2020), The experiment of reason: Kant, Maimon and Schelling, on metaphilosophy-first. (unpublished dissertation manuscript). ETH Zürich.


Jelscha Schmid ist wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für theoretische Philosophie an der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der klassischen deutschen Philosophie mit einem Fokus auf Metaphilosophie, Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie. Zudem arbeitet und lehrt sie auch im Bereich der Philosophie des Geistes, der Phänomenologie und feministischen Philosophie. Ihr derzeitiges Forschungsprojekt beschäftigt sich mit Theorien der personalen Identität.