Hegel dekolonisieren?!
Von Filipe Campello (Recife, Brasilien)
Wenn wir uns heute – 250 Jahre nach seinem Tod – an Hegel erinnern, ist vielleicht eine der am meisten beunruhigenden Reaktionen die Frage, wie derselbe Philosoph gleichzeitig geschrieben haben kann, “das was wirklich ist, das ist vernünftig” und dass “nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht worden ist”. Worauf bezieht sich Hegel denn nun, wenn er von Rationalität spricht? Oder: welche sind diese Leidenschaften, die die Welt bewegen?
Eine erste – und die am meisten verbreitete – Art, diese Frage zu beantworten, geht davon aus, dass Hegel, wenn er von Geschichte, von der Bürgerlichen Gesellschaft oder vom Staat spricht, nicht einfach eine Art soziologischer oder empirischer Analyse anbietet, sondern bereits liefert, was er als eigentlich philosophisch ansieht: eine normative Interpretation der Wirklichkeit, in welcher er eine Rationalität erkennt, die über eine simple Abfolge unzusammenhängender Ereignisse hinausreicht. Er besteht also darauf, dort eine Logik zu entdecken, wo es zuvor lediglich Zufälle gab.
Doch es war ein Preis, den Hegel angesichts seiner Kritiker zu zahlen hatte. Einige darunter verwechselten empirische und normative Theorie und sahen Hegel als Konservativen und Kolonialisten, der mit seinen Schriften das Preußen seiner Zeit rechtfertigen wollte. Andere zweifelten – mit einiger Berechtigung – an der immer schlechter aufrecht zu erhaltenden metaphysischen Verankerung einer teleologischen Sichtweise auf die Geschichte.
Diese Kritiken richteten sich also nicht nur gegen die vermeintliche Legitimierung des Status quo, sondern auch gegen Hegels angeblich zu starken bzw. obskuren metaphysischen Begriff der Vernunft. Während gegenüber dem angeblichen Problem des Konservatismus von Hegels Philosophie die Möglichkeit eines „kritischen“ normativen Potenzials des Hegelschen Ansatzes betont wurde – wie etwa im sogenannten Linkshegelianismus – , ist Hegels Idee der Vernunft selbst immer wieder neu zu interpretieren. Hier ist die Frage nicht, was es erlaubt, die Wirklichkeit als „vernünftig“ zu beschreiben, sondern, auf einer Stufe darunter, was vernünftig nach Hegel überhaupt heißt.
Hier sehe ich eine andere Möglichkeit, Hegel zu lesen, durch die er beeindruckend aktuell bleibt. Diese Lesart hat, wie ich in meinem Buch Die Natur der Sittlichkeit aufzuzeigen versucht habe, mit den Kriterien zu tun, die uns ermöglichen, mit dem politischen Potenzial von Leidenschaften und Affekten umzugehen, das imstande ist, die Geschichte zu verändern[1].
Ich möchte diese Frage mit einem autobiografischen Bericht illustrieren. Als Kind war eine meiner liebsten Beschäftigungen das Erfinden eigener Spiele. Ich erfand die Spielregeln in allen Einzelheiten: zeichnete Spielkarten und Spielbretter, definierte die Spielfiguren und bestimmte, wie das Spiel zu gewinnen sei. Ich mochte diesen Schaffensprozess lieber als die Spiele, deren Regeln bereits festgelegt waren. Vielleicht lag darin eine gewisse Vorliebe für die Subversion.
Neue soziale Regeln zu erfinden, ist nicht ganz so einfach wie das Erfinden eines Spiels. Zahlreiche dieser Regeln existieren lange vor uns, so dass es nicht möglich ist, überhaupt mitzuspielen, wollten wir auf sie verzichten. So argumentiert Wittgenstein in seiner Privatsprachenkritik: ich verfüge bereits über ein Vokabular, das nicht mein Besitz ist; innerhalb dieses Vokabulars machte es keinen Sinn, uns auf eine ausschließlich individuelle Sprache zu beziehen.
Davon handelt, was man Strukturkritik nennt. In der Tradition, die zum Großteil auf Hegel zurückgeht, bewegt sich das Objekt der Kritik fort vom Individuum und hin zu allem, was vor diesem da war: Normen, soziale Praktiken und Gewohnheiten, die den Horizont unserer Beziehung zur Welt skizzieren, und die sogar bei der Erschaffung unserer Wünsche beteiligt sind. Diese Objekt-Bewegung gilt für unsere alltägliche Bezugnahme auf Objekte, aber auch für Aspekte, die in sozialen Praktiken wurzeln, welche Unrechtsbeziehungen wie den strukturellen Rassismus bewahren.
Ein großer Teil der jüngsten philosophischen Debatte wird jedoch vom Fokus auf Identitätsfragen sowie auf Narrative in der ersten Person bestimmt. In diesem “affektiven Wandel”, wie ich es nenne, verschieben sich die Kriterien der Kritik hin zur eigenen subjektiven Erfahrung, einer Logik folgend, die Affekte als individuellen Besitz sieht. In Brasilien, von wo aus ich schreibe, war eine weitreichende polemische Debatte um das sogenannte lugar de fala[2] zu verzeichnen. Der Sinn dahinter, der auf Arbeiten wie denjenigen von Gayatri Spivak zurückgeht, liegt in der Ahnung, dass weder unsere Art, uns auf die Welt zu beziehen, noch das Gewicht, das wir innerhalb des Diskurses haben werden, gleich verteilt sind. Wie bereits ausführlich in der de- und postkolonialen Literatur diskutiert, handelt es sich um Kritik an der angenommenen epistemischen Neutralität unserer Weltanschauungen, wobei epistemische Ungerechtigkeit ebenfalls politisch ist – wer ist drinnen, wer ist draußen, wer kann sprechen, wer wird zum Schweigen gebracht, welche Beiträge zählen im Diskurs – in der englischsparchigen Diskussion wurde dafür der Begriff standpoint epistemology geprägt.
Anstatt sich der Kritik an strukturellen Formen der Ungerechtigkeit zu widmen, hat der irrtümliche Gebrauch von Konzepten wie dem des lugar de fala dazu geführt, zu überwachen, wer sprechen darf und wer nicht, und damit wurde die Freiheit eingeschränkt und der Diskurs verhindert. Genau genommen verwirft dieses Konzept einerseits die strukturellen Dimensionen der Kritik, und andererseits die Möglichkeit der individuellen Verantwortung— das heißt, die Kapazität jedes Einzelnen, seine eigenen Positionen zu überdenken. Deswegen habe ich den Begriff Paradox verwendet, wenn ich mich auf Positionen und Haltungen beziehe, die im Gegensatz zu dem stehen, was sie beabsichtigen. Dieser verwirrende Gebrauch des Vokabulars und der Sprache läuft Gefahr, die normative Debatte auf singuläre Narrative zu reduzieren, und zu verwerfen, was wir soziale bzw. strukturelle Kritik nennen können.
Wenn wir inmitten dieser Kurzschlüsse zu Hegel zurückkehren, eröffnet uns das einen anderen Fluchtweg, der aus meiner Sicht vielversprechender ist, weil er die Kritik wieder auf das Gebiet unseres verfügbaren Vokabulars zurückführt – eine Genealogie semantischer und gleichzeitig politischer Auseinandersetzungen, eine Art Dynamik, welche die historische Konstruktion unserer sozialen Praktiken normativ versteht. Die Phänomenologie des Geistes, um bei einem seiner bekanntesten Werke zu bleiben, kann als ein Versuch gelesen werden, einen Bezug zwischen der konzeptionellen Erfahrung und der Wahrnehmung zu liefern: wir lernen, die Welt in Übereinstimmung mit dem möglichen Horizont unserer Erfahrungen wahrzunehmen. Unsere einzigartige Identität wäre demgemäß nicht vorgegeben, sondern das Ergebnis der Konstruktion einer zweiten Natur, deren Narrativ sich in der phänomenologischen Beschreibung des Subjekts einschreibt: eine „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“ – wie der ursprüngliche Titel des Werks lautet.
Ich möchte vorschlagen, dass hier eine der Hauptaufgaben liegt, die Hegel mit seiner Philosophie an uns heran trägt: Unsere Erfahrung als einzigartige Individuen zu beschreiben, ohne dabei zu versäumen, zuzugeben, dass diese Narrative auf einem bereits in den sozialen Praktiken eingeschriebenen Vokabular beruhen. Die subjektive Erfahrung und das, was Hegel Sittlichkeit nannte, sind zwei Seiten der gleichen Münze: die Ausbildung unserer Einzigartigkeit innerhalb der in unseren sozialen Einrichtungen vorgegebenen Regeln und Normen.
In diesem Sinn ist es wichtig, andere Geschichten zu erzählen, immer neue Narrative zu hören – inklusive derjenigen, die außerhalb dessen liegen, was man als eurozentrischen Kanon der Philosophie versteht, nicht nur um der Art und Weise zu begegnen, in der wir uns heute auf die Vergangenheit beziehen, sondern auch um besser zu verstehen, wie die Vergangenheit in der Gegenwart weiter agiert und wirkt. Die Philosophie muss also immer neue Berichte anhören und zu sich bringen, mit dem Risiko, arroganten Ideen von Universalität anzuhängen, die viel über ihren Provinzialismus aussagen.
Historische Narrative tragen jedoch die Kriterien nicht in sich, mittels derer ihnen moralisch begegnet werden könnte. Es reicht nicht aus, nur historische Fakten zu vergleichen, und zu versuchen, Erfolgs-Cases in der Geschichte zu entdecken. Bestimmte Ereignisse als erfolgreich oder erfolglos zu betrachten, hängt von dem ab, was normative Kriterien genannt wird. Hierin besteht der Beitrag der Hegelschen Philosophie: philosophische Argumente beziehen sich auf diesen normativen Rahmen — sie beschreiben nicht lediglich historische Fakten (oder das, was die Welt vorgeblich ist), sondern reflektieren darüber, wie sie sein sollte. Vorstellungen darüber, was das Gerechte ist, welche Staatsformen oder Modelle politischer Institutionen vorzuziehen sind, welche Handlungen moralisch vertretbar sind, etc. — all das ist nicht historisch vorgegeben, sondern verlangt ständige Auseinandersetzungen und Begründungen, die über die historische Analyse hinausreichen. Um es mit Kant zu sagen: Geschichte ohne Philosophie ist blind, Philosophie ohne Geschichte ist leer.
Die Zukunft in nicht vorgegebenen Kategorien zu denken, ist gewiss eine deutlich anspruchsvollere Aufgabe als nur auf die Vergangenheit zu schauen und sie wiederholen zu wollen. Marx war sich dessen sicherlich bewusst, als er in seiner berühmten elften These eine gewisse Ironie einbrachte, da es wenig Sinn machen würde, anzunehmen, dass wir die Welt verändern, wenn wir nicht einmal wissen, was das bedeutet oder wohin wir gehen wollen. Sonst würde er nicht schreiben, wie im 18. Brumaire, “Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. […] Sie muss die Toten ihre Toten begraben lassen”.
Um unser Vokabular zu erweitern, auf der Suche nach anderen Kategorien, anderen Formen, von der Welt zu sprechen, müssen wir unsere Leidenschaften nicht verwerfen, aber wir benötigen Kriterien, um zu unterscheiden, welche dieser politischen Affekte als “rational” betrachtet werden können. Zusammenfassend, bedeutet das, anzuerkennen, dass es kein Maß für die Vielfalt an einzigartigen Weltanschauungen geben kann – es sei denn der unüberwindbare Konflikt der Antworten im Plural: dass es Wege und Welten gibt, die es zu verändern gilt. Diese These Hegels wirkt zu einem Zeitpunkt, an dem unsere politische Vorstellungskraft sich zu erschöpfen scheint, weiterhin inspirierend. Wir können also am Kolonialismus Kritik erheben, ohne deswegen Hegels Statue in den Necker werfen zu müssen.
Filipe Campello ist Professor für Philosophie und Direktor der Zentrum für Ethik und Politischer Philosophie an der Bundesuniversität von Pernambuco (Recife). Doktor in Philosophie (Goethe-Universität Frankfurt), und ehmalige “visiting scholar” an der New School for social research (New York).
[1] Vgl. dazu Filipe Campello, Die Natur der Sittlichkeit, Bielefeld: Transcript Verlag, 2015.
[2] Etwa ein „Sprechensort“: der persönliche Ausgangspunkt bei Meinungsäußerungen.