10 Sep

Darf man biologische Kinder bekommen?

Anlässlich der Veröffentlichung des Handbuch Philosophie der Kindheit (J.B. Metzler 2019) bringt praefaktisch Texte zur Philosophie der Kindheit.


von Ezio Di Nucci (Kopenhagen)


Nein, ich habe mich nicht verschrieben. Die Frage, die ich hier gerne stellen – und ansatzweise beantworten – möchte, ist nicht, ob es moralisch erlaubt sein sollte, nicht-biologische Kinder zu bekommen (zum Beispiel durch reproduktive Technologien); meine Frage ist tatsächlich, ob man seine eigenen biologischen Kinder bekommen darf, nämlich Kinder, mit denen man sein genetisches Gut teilt.

Durch die Qualifizierung ‚biologisch‘ werden Sie schon erraten haben, dass es sich hier weder  um Fragen über Klima und Überbevölkerung handelt, noch um antinatalistische Gedankenspiele im Sinne von David Benatars (oder auch Arthur Schopenhauers) Argumenten. Die Frage ist viel mehr, ob wir weiterhin – durch unsere Gesetzgebung, Steuergelder und Gesundheitssysteme – die menschliche Präferenz für die eigenen biologischen Kinder über nicht-biologische Kinder unterstützen sollten (siehe auch hier und hier).

Reproduktive Technologien sind grundsätzlich etwas Gutes, da sie vielen diskriminierten Minderheiten, zum Beispiel Homosexuellen, erst die Möglichkeit zum Kinderkriegen bieten. Der große Erfolg reproduktiver Technologien über die letzten Jahrzehnte hinweg hat aber viel mehr damit zu tun, dass der Mensch nicht einfach nur gerne Kinder hätte: Er will sein eigen Fleisch und Blut. Mit der Existenz dieser Präferenz werden wir uns hier nicht weiter beschäftigen: wir werden sie einfach als empirische Gegebenheit hinnehmen und uns zwei philosophischen Fragen widmen:

  1. Gibt es wirklich keinen anderen –  als den biologischen oder genetischen – Unterschied zwischen Adoption und reproduktiven Technologien?
  2. Was ist überhaupt das Problem – moralisch gesehen – mit dieser Präferenz für eigene biologische Kinder?

Die erste Frage ist wichtig, da sie entscheidend sein kann, folgendes herauszufinden:

Ist die Präferenz für eigene biologische Kinder der Grund, warum sich viele für reproduktive Technologien und nicht für Adoption entscheiden?  Es ist zum Beispiel so, dass trotz erheblichen gesetzlichen und praktischen Schwierigkeiten bei einigen reproduktiven Technologien wie Leihmutterschaft, der Zugang zur Adoption für manche Gruppen (Schwulen sind eine) noch komplizierter ist. 

Das Problem für die Beantwortung der ersten Frage ist nicht nur, dass für einige diskriminierte Minderheiten reproduktive Technologien wirklich die einzige Möglichkeit sein kann. Desweiteren kann es auch mögliche moralisch legitime Gründe geben, warum man sich für reproduktive Technologien und gegen Adoption entscheidet: Bei einer Adoption zum Beispiel ist man nicht immer von Geburt an dabei. Somit muss der Grund für die technologische Lösung und gegen die Adoption kein biologischer oder genetischer sein.

Also lautet die Antwort auf Frage Nummer 1, es könnte sein, dass biologische oder genetische Verbindungen nicht der Grund sind, warum sich der Mensch für reproduktive Technologien entscheidet. Dieses Ergebnis wird wichtig sein, wenn wir jetzt unsere Aufmerksamkeit Richtung Frage 2 wenden: Existiert überhaupt irgendeine moralische Problematik in Bezug auf die menschliche Präferenz für eigene biologische Kinder?

Die erste Antwort birgt keine Überraschung: Wenn diese Präferenz dazu führt, dass ein schon geborenes Kind nicht adoptiert wird, wird das wahrscheinlich zu seinem Schaden sein. Aber da wir schon gesehen haben, dass Adoption oft keine Alternative ist – und dass in anderen Fällen die Präferenz für eigene biologische Kinder möglicherweise nicht entscheidend ist – kann diese erste Antwort hier nicht das letzte Wort sein.

Wir werden uns deswegen damit abfinden müssen, unsere Analyse weiter zu führen, als just eine Abschätzung möglicher Konsequenzen (für nicht adoptierte Kinder). Vielmehr müssen wir uns damit beschäftigen, die moralische oder ethische Qualität unserer Präferenz für die eigenen biologischen (oder genetischen) Kinder zu untersuchen.

Das ist sicher eine sehr persönliche – ich würde sogar sagen, private und intime – Präferenz: Wir sollten das auch nur deswegen ernst nehmen und respektieren. Das kann aber nicht bedeuten, dass eine solche persönliche Präferenz jenseits der ethischen oder philosophischen Evaluation und Analyse sein kann, besonders wenn – wie wir schon gesehen haben – diese Präferenz als Handlungsgrund fungiert.

Unsere Frage kann dann folgende theoretische Struktur annehmen: ist die Präferenz für eigene biologische Kinder ein legitimer Handlungsgrund, moralisch oder ethisch gesehen? Ein mögliches moralisches Problem mit dieser Präferenz besteht darin, dass wir normalerweise sehr kritisch sind, wo eine Präferenz zwischen A und B durch Biologie oder Genetik motiviert ist. Diese Einstellung hat einen unschönen Namen, der da lautet: Rassismus.

Sind wir also alle Rassisten, nur weil wir uns eigene biologische Kinder wünschen? Das wäre in der Tat eine extreme Schlussfolgerung: extreme Schlussfolgerungen können aber auch wahr sein. Und die Philosophie muss nicht Politik sein, sie benötigt keinen Kompromiss und soll ihn daher auch nicht suchen. Gegen den Vorwurf des Rassismus hilft auch nicht die Bemerkung, dass der Wille, das eigene genetische Gut weiterführen zu wollen sehr natürlich und vielleicht auch evolutionär zu erklären sei. Es mag eine Erklärung sein, ist aber keine Rechtfertigung.

Eine Verteidigungsstrategie gegen den Vorwurf des Rassismus könnte hier sein, zwischen biologischen Familienbeziehungen und nicht-biologischen Familienbeziehungen zu unterscheiden. Wenn nur biologische Familienbeziehungen echte Familienbeziehungen sein sollten – oder wenn aus irgendwelchem Grund biologische Familienbeziehungen „besser“ als nicht-biologische Familienbeziehungen sein sollten, dann hätte man vielleicht einen Grund für die Präferenz für eigene biologische Kinder.

Zwei Probleme bei dieser Strategie: Erstens hätte man vielleicht einen Grund, aber es würde sich wieder die Frage stellen, ob es ein legitimer Grund wäre, ethisch gesehen. Also hätten wir da keinen Fortschritt. Und Zweitens: Wer möchte heute noch behaupten (mit ganz wenigen Ausnahmen), dass nicht-biologische Familien keine echte Familien sind? Wir schreiben immerhin das Jahr 2019. Und empirisch spricht auch nichts dafür, dass biologische Familienbeziehungen ‚besser‘ als nicht-biologische sein sollten. Und auch wenn: mögliche (empirisch nicht vorhanden, nochmal) Vorteile bei der Erziehung, schulischen Leistung oder Jobsuche wären sicher kein Gegenargument zum Vorwurf des Rassismus.

Eine bessere Strategie könnte folgendermaßen aussehen: Sind wir wirklich bereit die Prämisse zu akzeptieren, dass biologische Unterschiede nie ein Grund zu Präferenzen sein dürfen? Ist es wirklich immer moralisch verwerflich, auf Grund der Biologie oder Genetik eine Präferenz für A über B zu haben? Wie wäre es dann zum Beispiel mit ästhetischen Präferenzen? Zur Klarstellung:  die Frage die uns hier beschäftigt ist nicht, ob Präferenzen nie erlaubt sind: das wäre in der Tat verrückt. Die Frage ist nur, ob Präferenzen auf Grund der Biologie oder Genetik erlaubt sind.

Und meine radikale Antwort lautet, dass in der Tat, wenn Biologie oder Genetik der einzige Grund für eine Präferenz zwischen zwei Menschen ist, diese Präferenz dann nicht moralisch vertretbar ist. Glücklicherweise folgt daraus nicht – wie wir oben gesehen haben – dass wir keine eigenen biologischen Kinder haben dürfen.


Ezio Di Nucci ist Professor für Bioethik an der Universität Kopenhagen.


Verlinkte Publikationen

Di Nucci E. 2016. IVF, same-sex couples and the value of biological ties. Journal of Medical Ethics 42: 784-787.

Di Nucci E. 2016. Sharing Motherhood and Patriarchal Prejudices. Journal of Medical Ethics blog http://blogs.bmj.com/medical-ethics/2016/09/10/sharing-motherhood-and-patriarchal-prejudices/   

Di Nucci E. 2016. La Fecondazione Assistita tra Eguaglianza e Patriarcato. I Castelli di Yale IV(2):67-77.

Di Nucci E. 2018. I love my children: am I racist? On the wish to be biologically related to one’s children. Journal of Medical Ethics 44: 814-816.

Di Nucci E. 2018. Biological children: an innocent wish? Journal of Medical Ethics blog https://blogs.bmj.com/medical-ethics/2018/06/11/guest-post-biological-children-an-innocent-wish/?int_source=trendmd&int_campaign=usage-042019&int_medium=cpc

Di Nucci E. 2019. Genetische Modifikation und Reproduktionstechnologien. In: Gottfried Schweiger & Johannes Drerup (eds.), Handbuch Philosophie der Kindheit. Metzler: 290-294.

Roache R. 2016. The value of being biologically related to one’s family. Journal of Medical Ethics 42:755-756.

Velleman JD. 2005. Family history. Philosophical Papers 34: 357–78.

Print Friendly, PDF & Email