18 Feb

Das Kind im Krankenhaus. Paternalismus zwischen Zwang und Kreativität

Anlässlich der Veröffentlichung des Handbuch Philosophie der Kindheit (J.B. Metzler 2019) bringt praefaktisch Texte zur Philosophie der Kindheit.


von Oliver Krüger (Hamburg)


Mündigen Erwachsenen kommen im Krankenhaus umfangreiche Aufklärungsrechte zu. Kindern hingegen werden diese Rechte nicht oder nur eingeschränkt zugeschrieben. Obwohl diese Einschränkung ihre ethische Bewandtnis hat, birgt sie die Gefahr, einen Freibrief für Zwang gegenüber Kindern auszustellen. Allein die Notwendigkeit einer medizinischen Intervention im Krankenhaus rechtfertigt keinen uneingeschränkten Paternalismus gegenüber Kindern. Notwendig ist dagegen eine besondere Kreativität der Eltern und des medizinischen Personals, die nicht rein zweckbezogen ist, sondern ein eigenes Rechtfertigungselement einer ethischen Durchführung medizinischer Interventionen darstellt.

Der Umgang mit Kindern ist notwendigerweise mit dem Paternalismus konfrontiert (Drerup 2013; Schaber 2019). Sobald sich der Wille des Kindes konträr zu seinem Wohl verhält, sind Eltern mit dem Paternalismusproblem konfrontiert, das in folgender Frage zum Ausdruck kommt: Soll ich mein Kind zu seinem Wohl zwingen? Dieses Problem betrifft vor allem Bereiche, in denen gesundheitliche Schäden die Folge sein könnten. Hierzu gehören zum Beispiel das Weglassen notwendiger Kleidung im Winter, die Verweigerung des Zähneputzens oder die existenzielle Angst vor dem Arztbesuch. Selbstverständlich können Eltern Strategien entwickeln, mit denen sie den Paternalismus und den damit verbundenen Zwang umgehen können – sei es durch positive Anreiz oder unerlässliche Überzeugungsarbeit. Doch sobald auch diese Mittel nicht mehr greifen, sind die Eltern erneut mit dem Paternalismusproblem konfrontiert. Die Frage ist in allen Altersklassen die gleiche, wenngleich die Antwort anders ausfällt: Sollte die Selbstbestimmung des Kindes so weit gehen, dass sich das Kind gegen sein Wohl entscheiden darf?

Im Krankenhaus stellt sich diese Frage nochmals dringlicher. Das liegt vor allem daran, dass man hier mit notwendigen medizinischen Maßnahmen konfrontiert ist. Im Grundsetting Krankenhaus geht es – jedenfalls nach Maßgabe des normativen Anspruchs – um die Kuration des Kindes. Angesichts einer vorliegenden Krankheit oder eines Notstands wird die Diskussion um die Notwendigkeit einer medizinischen Maßnahme auf Grundlage der medizinischen Sichtweise geführt. Über die Notwendigkeit entscheiden schlussendlich Arztinnen und Ärzte. Somit ist das Krankenhaus in einem besonderen Maße für Paternalismus prädestiniert.

Ein manifester ethischer Konflikt tritt auf, wenn der Wille des Kindes das Gegenteil der medizinischen Indikation artikuliert. Um diesen Konflikt zu entscheiden – was nicht gleichbedeutend mit lösen ist – müssen neben der ärztlichen Expertise verschiedene Faktoren berücksichtigt werden: das Alter des Kindes, der Wille der Eltern und das Kindeswohl. Erst danach kann entschieden werden, ob und inwiefern das Selbstbestimmungsrecht des Kindes im Entscheidungsprozess Berücksichtigung findet. Die meisten Staaten legen bestimmte Altersgrenzen für die elterliche Verfügung über Kinder fest und definieren gleichzeitig einen bestimmten Spielraum in der Entscheidung, ob ein Kind einwilligungsfähig ist oder nicht (Peters 2013). In Deutschland liegt dieser Spielraum zwischen 14 und 16 Jahren. Davor werden Kinder als nicht einwilligungsfähig, danach als einwilligungsfähig klassifiziert (Dettmeyer 2006). Rein formal haben also Kinder unter 14 Jahren in Deutschland kein Mitbestimmungsrecht bei Behandlungen im Krankenhaus. In den Fällen nicht vorliegender Einwilligungsfähigkeit entscheiden die Eltern über notwendige medizinische Maßnahmen. Wenn sich die Eltern gegen eine medizinisch indizierte Maßnahme entscheiden, gilt es zu prüfen, inwiefern eine Kindeswohlgefährdung durch diese Entscheidung vorliegt. Das Kindeswohl dient in diesem Zusammenhang als Orientierungsmaßstab, der sowohl für Eltern als auch für Ärztinnen und Ärzte unabhängig voneinander als Orientierungsmaßstab dient. Kommt es hier zu Konflikten, muss der Staat jene im Hinblick auf das Kindeswohl schlichten (Schickhardt 2017).

Es bleibt allerdings festzuhalten, dass die rechtliche Legitimation von Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit erstens im Widerspruch zur moralischen Bewertungsebene stehen kann. Obwohl die Eltern einem Eingriff bei einem nicht-einwilligungsfähigen Kind zugestimmt haben und das medizinische Personal somit im Recht ist, zum Beispiel einen invasiven Eingriff vorzunehmen, kann man die konkrete Umsetzung nach wie vor als moralisch bedenklich oder falsch bewerten. Zweitens bleiben auch rechtlich legitimierte Eingriffe Zwang, wenn sich die betroffene Person wehrt. Auch wenn kein Rechtsverstoß vorliegt, ändert sich die begriffliche Klassifikation des Eingriffs nicht.

Der Paternalismus wird also zu einem Problem im Krankenhaus, wenn ein Kind als nicht-einwilligungsfähig eingestuft wird und eine notwendige Behandlung ablehnt, der die Eltern und die Ärzteschaft zustimmen.[1] Das kann in Deutschland unter bestimmten Umständen sogar ein/e Jugendliche/r im Alter von 15 Jahren betreffen. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, welche potentielle Verfügungsgewalt mit der Einstufung als nicht-einwilligungsfähig einhergeht. Ärzte und Elternschaft können vor diesem Hintergrund über das Kind im Krankenhaus verfügen. Zunächst einmal soll die Maßnahme dem Wohl des Kindes gerecht werden. Dennoch gibt es gewisse Fallstricke und Folgeprobleme.

Ob der Wille zählt, hängt davon ab, ob und inwiefern die Selbstbestimmungsfähigkeit des Kindes von Ärztinnen und Ärzten anerkannt wird. Während bei Erwachsenen die Einwilligungsfähigkeit grundlegend angenommen wird, bis jemand das Gegenteil beweist, muss bei Kindern und Jugendlichen die Fähigkeit der Einwilligung positiv nachgewiesen werden (Oommen-Halbach/Fangerau 2019). Hier offenbart sich ein doppelter Verfügungsanspruch der ärztlichen Expertise: Die Ärzteschaft kann nicht nur über die Notwendigkeit einer medizinischen Maßnahme entscheiden, sondern auch über die Einwilligungsfähigkeit eines Kindes.

Generell ist also zu betonen, dass der medizinischen Indikation im paternalistischen Grundsetting des Krankenhauses eine gewisse Autorität zukommt. Was medizinisch indiziert ist, gilt zumeist als richtig, notwendig und insofern normativ erwünscht. Umso wichtiger ist es, dieses Konzept auch in Theorie und Praxis auf den Prüfstand zu stellen (Dörris/Lipp 2015). Schlussendlich lastet mit dem Konzept der medizinischen Indikation ein gewisser Rechtfertigungsdruck auf der Ärzteschaft. Letztlich bildet die ärztliche Indikation das zentrale Interesse, um den medizinischen Paternalismus zu rechtfertigen. Die Rechtfertigungspflicht muss also nachweisen, dass der Eingriff im Interesse des Patienten ist (Schaber 2009). Dabei gilt es, jeden Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden, welche medizinische Maßnahme schlussendlich notwendig ist. Das intendiert gleichzeitig, dass Ärztinnen und Ärzte prüfen sollten, ob es zu invasiven Eingriffen auch Alternativen gibt. Die Eltern eines Kindes sollten das Konzept der medizinischen Indikation ebenfalls kritisch evaluieren, indem sie aktive Nachfragen stellen und sich eventuell eine ärztliche Zweitmeinung einholen. Letztlich sollte dabei die zentrale normative Orientierungseinheit nicht aus den Augen verloren werden: das Wohl des Kindes selbst.

Im Zentrum der ärztlichen Aufklärung stehen die Eltern und deren Zustimmung. Schlussendlich entscheiden die Eltern, ob eine medizinische Maßnahme bei einem nicht-einwilligungsfähigen Kind durchgeführt werden darf oder nicht. Doch vor dem Hintergrund sollte nicht vernachlässigt werden, dass Kinder ebenfalls ein basales Rechts auf Aufklärung haben – abgestuft je nach Altersklasse. Selbstverständlich ist es sinnlos, einen Säugling aufzuklären. Kinder sollten altersgerecht mindestens über den Therapieverlauf aufgeklärt werden. Ab bestimmten Altersklassen ist auch eine Aufklärung über mögliche Risiken der Therapie denkbar (Peters 2013). Selbstverständlich müssen einwilligungsfähige Jugendliche in die Therapieentscheidung einbezogen werden (Schelling/Gaibler 2012). Auch wenn Kinder bestimmter Altersklassen rein rechtlich als nicht-einwilligungsfähig eingestuft werden, heißt das nicht, dass ihnen keine negativen Informationen zugemutet werden können. Kinder sollten im Sinne eines shared decision making in Entscheidungen einbezogen werden (Birnbacher 2012). Selbiges gilt natürlich auch in entgegengesetzter Richtung: Bestimmte Informationen eines Aufklärungsgesprächs sind vielleicht nicht unbedingt für jüngere Kinder und deren Verhältnis zum Krankenhaus förderlich. Einfache Maßnahmen, wie ein zweigliedriges Aufklärungsgespräch erstens zwischen Ärztin/Arzt und Eltern und zweitens zwischen Ärztin/Arzt und Kind ist hier eine einfache, aber wirkungsvolle Lösung.

Die hier gemachten Vorschläge sollen nicht als zweckfunktionale Sollensvorgabe fungieren, sondern eher für einen Zwischenbereich paternalistischer Eingriffe sensibilisieren. Bei paternalistischen Eingriffen im Krankenhaus ist die Willensbildung eines Patienten sehr wichtig und entscheidend. Auch wenn der Wille eines nicht-einwilligungsfähigen Kindes auf rechtlicher Ebene keine Berücksichtigung findet, spielt er für die Umsetzung einer medizinischen Maßnahme eine entscheidende Rolle. Wenn ein Kind von Anfang an spielerisch an das Setting Krankenhaus herangeführt wird, schwinden zumeist Ängste und Ablehnungshaltungen gegenüber dem Krankenhaus und den Ärztinnen und Ärzten (Möckler 2016). Auf diese Weise können Zwangshandlungen in einer konkreten Behandlung überflüssig und das Paternalismusproblem umgangen werden.

In der Kinder- und Jungendheilkunde gibt es zahlreiche Ansätze, die Kinder spielerisch und mit Empathie an eine bevorstehende medizinische Therapie oder Diagnostik heranführen. An dieser Stelle soll nur ausgewiesen werden, dass solche Ansätze nicht allein aus zweckfunktionalen Gründen durchgeführt werden sollten. Auch auf einer ethischen Rechtfertigungsebene sind solche Maßnahmen explizit erforderlich und für jeden Einzelfall neu zu evaluieren. Das Selbstbestimmungsrecht des Kindes fungiert in diesem Sinne als ein Anspruchsrecht (nach Birnbacher 2012). Es geht also nicht ausschließlich darum, die Arbeit von medizinischem Personal mit kreativen Maßnahmen im Umgang mit Kindern zu vereinfachen, sondern es ist aus ethischer Sicht geboten, solche Maßnahmen anzuwenden. Kreativität im Umgang mit Kindern ist eine wichtige Vorbeugungsmaßnahme für paternalistischen Zwang, weil letzterer dadurch häufig überflüssig wird. Am Ende bleibt daher das Plädoyer, dass sich im Krankenhaus mehr Zeit für die kreativen Umgangsformen mit Kindern und Jugendlichen genommen werden sollte. Die kreative Arbeit mit Kindern erfordert Zeit, Raum und damit gezwungenermaßen Geld. Diese Ressourcen stehen in der gesamten Medizin, aber auch in der Kinder- und Jugendheilkunde unter einem starken Rationalisierungszwang (Ethikrat 2016). Aus diesem Grund sollten wir in Zukunft auch aus ethischen Gründen dafür kämpfen, dass der kreative Umgang mit Kindern im Krankenhaus nicht dem Sparzwang der ökonomisierten Gesundheitspolitik zum Opfer fällt.


[1] Streng genommen liegt hier eine Form des weichen Paternalismus vor, der bei Eingriffen von nicht autonomen Personen zur Anwendung kommen kann (Schaber 2019). Gegen solche Klassifikationen gibt es theoretische Bestrebungen, die das Konzept des Paternalismus nur auf autonome Handlungen beziehen wollen (Beauchamp 2009; Quante 2002). Ich halte diese Bestrebungen in der hier abgehandelten Thematik nicht für zielführend, weil dem Begriff des Paternalismus einiges von seiner pejorativen Kraft genommen würde. Es ist meines Erachtens sinnvoller zu sagen, dass in den angesprochenen Fällen Paternalismus vorliegt und man diesen aus bestimmten Gründen befürwortet, anstatt die Problematik nicht als einen Freiheits- und Willenskonflikt zu werten. Letztere Alternative ist vor allem vor dem Hintergrund problematisch, dass Kinder je nach Altersstufe Ansätze von autonomen Fähigkeiten vorweisen oder sie zum Teil schon besitzen.


Oliver Krüger arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem Schwerpunkt Lehre für Sozialwissenschaften und Ethik an der Medical School Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Jüngst ist seine Dissertation unter dem Titel Das Gute im Sozialen. Eine perfektionistische Grundlegung des Sozialstaats(Campus, 2019) erschienen.


Literatur

Beauchamp, Tom (2009): The Concept of Paternalism in Biomedical Ethics, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 14, S. 77–92.

Birnbacher, Dieter (2012): Vulnerabilität und Patientenautonomie – Anmerkungen aus medizinethischer Sicht, Medizinrecht 30 (9),S. 560-565.

Dettmeyer, Reinhard (2006): Medizin & Recht. Rechtliche Sicherheit für den Arzt, 2. Aufl., Heidelberg: Springer Medizin.

Dörries, Andrea; Volker Lipp (Hrsg.) (2015): Medizinische Indikation. Ärztliche, ethische und rechtliche Perspektiven. Grundlagen und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.

Drerup, Johannes (2013): Paternalismus, Perfektionismus und die Grenzen der Freiheit, Paderborn: Schöningh.

Mockler, Franziska (2013): Reduziert das Teddybärkrankenhaus die Angst von Kindern vor dem Arzt?, Diss. Univ. Greifswald, https://epub.ub.uni-greifswald.de/frontdoor/deliver/index/docId/1888/file/diss_mockler_franziska.pdf, eingesehen am 31.01.2020.

Oommen-Halbach, Anne; Heiner Fangerau (2019): Selbstbestimmung von Kindern in der Medizin, in: Johannes Drerup; Gottfried Schweiger (Hrsg.): Handbuch Philosophie der Kindheit, Stuttgart: Metzler, S. 274-281.

Peters, Sabine (2013): Die ethische Problematik von Kindeswohl und Kindeswille in der Kinder- und Jugendmedizin , Diss. Univ. Göttingen, https://ediss.uni-goettingen.de/bitstream/handle/11858/00-1735-0000-0001-BBDB-8/Dissertation%20endg%C3%BCltig%204.pdf?sequence=1, eingesehen am 31.01.2020.

Quante, Michael (2002): Personales Leben und menschlicher Tod, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Schaber, Peter (2019): Paternalismus, in: Johannes Drerup; Gottfried Schweiger (Hrsg.): Handbuch Philosophie der Kindheit, Stuttgart: Metzler, S. 173-177.

Schelling, Philip; Tonja Gaibler (2012): Aufklärungspflicht und Einwilligungsfähigkeit: Regeln für diffizile Konstellationen, Deutsches Ärzteblatt 109 (10), S. A476-A478.

Schickhardt, Christoph (2017): Das Kindeswohl als Entscheidungskriterium in der Medizin, Ludwigshafener Ethische Rundschau 1, S. 19-24.

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