03 Okt

Ist es moralisch relevant, ein Kind zu sein?

Anlässlich der Veröffentlichung des Handbuch Philosophie der Kindheit (J.B. Metzler 2019) bringt praefaktisch Texte zur Philosophie der Kindheit.


von Johannes Giesinger (Zürich)


Im alltäglichen moralischen Diskurs wird bisweilen angemahnt, jemand solle nicht so hart angegangen werden, „weil er noch ein Kind sei“. Der gleiche Grund wird teils angegeben, um paternalistische und pädagogische Eingriffe in das Leben von Personen zu rechtfertigen. Erwachsene verbitten es sich entsprechend, „wie Kinder behandelt zu werden“. Oftmals wird auch gefordert, man solle „Kinder Kind sein lassen“.

Es ist unklar, ob sich Aussagen wie diese in den ethischen Diskurs übersetzen lassen. Die ethische Standardauffassung ist, dass die Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe für sich genommen moralisch irrelevant ist – was zählt, sind die Eigenschaften oder Fähigkeiten der Person. Das Setzen von Altersgrenzen ist demnach allenfalls aus pragmatischen Gründen gerechtfertigt, und nicht weil das Alter einen moralischen Unterschied macht.

Allerdings, wenn Kinder als Personen mit speziellen Eigenschaften gesehen werden, fungiert der Begriff des Kindes gewissermaßen als Platzhalter für ein Bündel moralisch relevanter Eigenschaften. Er kann dann in ethischen Argumentationen für Personen mit diesen Eigenschaften verwendet werden. In solchen Debatten erscheinen Kinder häufig als Wesen, die relevante Eigenschaften (v.a. Rationalität, Handlungs- und Urteilsfähigkeit, Autonomie) nicht haben. Wenn man jemandem moralische Verantwortung abspricht, „weil er noch ein Kind ist“, so geschieht dies aufgrund der Annahme, dass er die für moralische Verantwortlichkeit nötigen Fähigkeiten noch nicht in ausreichendem Masse entwickelt hat. Wenn Erwachsene nicht „wie Kinder behandelt werden wollen“, so ist dies als Zurückweisung paternalistischer Maßnahmen zu verstehen.

Dieses defizitorientierte Verständnis von Kindheit steht schon lange in der Kritik. Im Gegenzug hat sich eine romantisierende Sichtweise von Kindheit entwickelt, gemäß der Kinder besondere Fähigkeiten haben, die sie Erwachsenen teilweise überlegen machen. Kinder werden etwa als besonders neugierig, offen, kreativ und phantasievoll beschrieben und bisweilen als kleine Philosophen, Wissenschaftler und Künstler dargestellt. Diese Auffassung wirkt bis in die aktuelle philosophische Debatte um „intrinsische“ oder „spezielle“ Güter der Kindheit hinein.[i] Dabei handelt es sich um Güter, die für Kinder als Kinder wertvoll sein sollen, und die möglicherweise für Erwachsene nicht den gleichen Wert haben wie für Kinder. Das freie Spiel etwa wird als kindspezifisch beschrieben. Teils verbindet sich mit dieser Sichtweise auch die Auffassung, dass uns unsere „kindlichen“ Eigenschaften durch gesellschaftliche Zwänge (angefangen bei der Schule) ausgetrieben wurden und wir als Erwachsene wieder kindlicher werden sollten. Die romantisierende Kindheitskonzeption dient dann primär der Kritik der Lebensweise Erwachsener bzw. der Gesellschaft als ganzer.

Sowohl die defizitorientierte als auch die romantisierende Sichtweise sind als „soziale Konstruktionen“ beschrieben worden. In der Erziehungswissenschaft und der soziologischen Kindheitsforschung hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Kindheit kein natürliches und universales Phänomen ist. Bisweilen wird gesagt, Kindheit sei in der Neuzeit allererst erfunden worden. Plausibler ist wohl zu sagen, dass verschiedene Kulturen auf die biologischen Gegebenheiten der ersten Lebensphase unterschiedlich reagieren.

Die Idee von Kindheit als sozialer Konstruktion kann auf verschiedene Arten ausgedeutet werden. Ich möchte zwei Dimensionen hervorheben: Zum einen können kulturelle Einflüsse und soziale Interaktionen dazu führen, dass Personen gewisse Eigenschaften entwickeln. Sally Haslanger[ii] bezeichnet dies als „diskursive Konstruktion“: Personen werden bestimmte Eigenschaften sozial zugeschrieben. Dies verändert das Verhalten der betreffenden Personen und begünstigt entsprechende Zuschreibungen, was wiederum das entsprechende Verhalten verstärkt. Wenn Kinder z.B. als „unverantwortlich“ und „kindisch“ behandelt werden, kann dies unverantwortliches und kindisches Verhalten hervorbringen und die Entwicklung von Verantwortungsbewusstsein behindern. Werden Kinder als „verspielt“ behandelt, verstärkt dies womöglich ihre biologisch angelegte spielerische Seite.

Zum anderen kann Kindheit (wiederum mit Sally Haslanger) auch als „konstitutiv konstruiert“ charakterisiert werden. „Kind sein“ bedeutet demnach, eine Position oder einen Status in einem soziale Gefüge einzunehmen – einen Status, der im Verhältnis zu den Positionen anderer (v.a. der „Erwachsenen“ oder „Eltern“) definiert ist. „Kinder“ gibt es demnach nur im Rahmen einer sozialen Ordnung, die eine solche Position vorsieht. Ein Kind zu sein hängt in diesem Sinne nicht primär von den Eigenschaften der Person ab, sondern von ihrer sozialen Situierung.

Was bedeuten diese Annahmen zur sozialen Konstruiertheit von Kindheit für die moralische Frage? Wenn individuelle Eigenschaften teilweise sozial hervorgebracht sind, stellt sich die Frage, inwiefern sie als moralisch relevant gelten können. Personen mag es empirisch an Verantwortungsbewusstsein mangeln – aber dies könnte teils eine Folge davon sein, dass sie „als Kinder“ behandelt werden. Es könnte mit ihrer speziellen sozialen Position zusammenhängen, die ihnen weniger Verantwortung und weniger Verpflichtungen zuschreibt als Erwachsenen. In diesem besonderen Status genießen Personen gewisse Freiräume zum Spielen und Experimentieren, sind aber auch paternalistischer und pädagogischer Kontrolle ausgesetzt. Der Status prägt ihre Entwicklung und ihr Verhalten.

Aus ethischer Sicht muss man annehmen, dass dieser Status allererst gerechtfertigt werden muss – und zwar unter anderem mit Verweis auf relevante Eigenschaften (durch die sich „Kinder“ oder „Jugendliche“ von „Erwachsenen“ unterscheiden). Sind diese Eigenschaften selbst aber sozial konstruiert, stellt sich die Frage, wie die spezielle Position der Betroffenen sich legitimieren lässt. Es scheint dann, dass die Eigenschaften, auf die hierfür verwiesen wird, teils durch die Positionszuschreibung verursacht werden, die allererst gerechtfertigt werden muss.

Einige Unklarheiten können behoben werden, indem man zwischen „lokalen“ und „globalen“ Rechtfertigungen unterscheidet. Lokale Rechtfertigungen beziehen sich auf einzelne Entscheidungssituationen, z.B. im medizinischen Bereich. Hier kommt es darauf an, welche Fähigkeiten eine Personen zu diesem Zeitpunkt tatsächlich hat, d.h. ob sie in der Lage ist zu verstehen, worum es bei einer Entscheidung geht. Inwiefern die Fähigkeiten Resultat sozialer Konstruktionsprozesse sind – und demnach auch anders sein könnten – spielt hier keine Rolle.

Globale Rechtfertigungen beziehen sich auf den Status der Kindheit als ganzen. Hier geht es um die sozialen und institutionellen Arrangements, die die Position von Kindern zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Entwicklung bestimmen. Es geht um die Rolle von Eltern und Lehrpersonen sowie die Verpflichtungen und Berechtigungen der staatlichen Behörden gegenüber den Kindern. Es geht darum, wie Kinder umsorgt, erzogen und gebildet werden sollen, inwiefern ihre Freiheit eingeschränkt werden darf, und welche Bedeutung kindspezifische Tätigkeiten oder Güter in diesem Kontext haben. Die defizitorientierte Sichtweise von Kindheit wird hier insofern zum Tagen kommen, als viele der kindspezifischen Arrangements damit gerechtfertigt werden, dass Kinder gewisse relevante Dinge noch nicht können und deshalb nicht in der Lage sind, das Leben eines Erwachsenen zu führen. Es sind kindliche Defizite, die vor allem in der ersten Phase der Kindheit umfassende Fürsorge nötig machen, und die Erziehung rechtfertigen. Wohlgemerkt ist ein Säugling, der nicht rechnen kann, nicht als Säugling defizitär, sondern nur im Vergleich zu Erwachsenen. Würde man seine mangelnden mathematischen Fähigkeiten nicht irgendwie als Defizit betrachten, gäbe es wohl keine Grund für mathematische Bildung.

Die romantisierende Sichtweise steht hier ebenfalls zur Diskussion: Wie wichtig ist das freie Spiel für Kinder und wie viel Zeit soll dafür zur Verfügung stehen? Was bedeutet es genau, dass man „Kinder Kind sein lassen“ solle? Heißt es, dass sie keinerlei Verpflichtungen haben und keinem Leistungsdruck ausgesetzt sein sollen? Bedeutet es, dass sie abgeschottet von der Erwachsenenwelt „ihre Individualität entfalten“ können sollen? Wie sollen wir mit Kindern umgehen, die kein Interesse an kindspezifischen Tätigkeiten zeigen und die nicht besonders kreativ, phantasievoll und offen sind – und es auch gar nicht sein wollen? Bringen wir sie (paternalistisch) dazu, sich entsprechenden Tätigkeiten hinzugeben oder lassen wir sie tun, was sie wollen?

Es ist klar, dass die globale Rechtfertigung von Kindheit als Status nicht von den empirischen Eigenschaften der Individuen ausgehen kann. Vielmehr muss sie auf die biologischen Voraussetzungen der ersten Lebensphase – einschließlich der natürlich angelegten Entwicklungspotenziale – rekurrieren. Auf dieser Grundlage ist zu diskutieren, wie ein gutes kindliches Leben im Rahmen des gesellschaftlichen und politischen Ganzen aussehen kann.

Dabei muss in Rechnung gestellt werden, dass die Entwicklung relevanter Fähigkeiten durch die Ausgestaltung des Kindheits-Status stark beeinflusst wird, zum einen durch planmäßige pädagogische Maßnahmen und zum anderen durch die indirekten Effekte sozialer Arrangements. Diese Arrangements sollten so eingerichtet werden, dass die Entwicklung von Kindern angemessen gefördert wird. Zudem sind Verfahren festzulegen, die die Zuständigkeiten in Entscheidungssituationen klären. Dabei ist sicherzustellen, dass die Kinder gemäß ihrem Enwicklungsstand partizipieren können. Anders gesagt: Die Einrichtung des Kindheits-Status muss angemessene lokale Entscheidungsprozesse ermöglichen, in denen die individuellen empirischen Eigenschaften der Kinder berücksichtigt werden. Des weiteren ist festzulegen, wer überhaupt im entsprechenden Status ist. Dies betrifft auch die Frage, wie der Übergang ins Erwachsenenalter (bwz. den Erwachsenen-Status) auszugestalten ist und welche Rolle Altersgrenzen dabei spielen.

Also: Ist es moralisch relevant, ein Kind zu sein? Die Beantwortung dieser Frage setzt eine Vorstellung davon voraus, was ein Kind „ist“ – und dies wiederum ist alles andere als klar. Folgt man den Ausführungen in diesem Beitrag, so bezieht sich der Begriff des Kindes nicht auf eine natürlich vorgegebene Kategorie von Personen. Kindheit hat biologische Eigenheiten, ist aber in hohem Masse sozial bestimmt. Der Begriff des Kindes in Aussagen wie „… weil er noch ein Kind ist“ kann unterschiedlich verstanden werden. Er kann sich auf biologische Eigenschaften beziehen, auf sozial erworbene (oder noch nicht erworbene) Fähigkeiten oder auf den speziellen Status von Kindern.

Die biologischen Eigenheiten der Kindheit sind insofern relevant, als sie die Einrichtung spezieller Kindheits-Arrangements rechtfertigen, durch die Kinder eine besondere soziale Position erhalten. Die empirischen Eigenschaften von Kindern sind in konkreten Entscheidungssituationen von Belang. Welche Eigenschaften Kinder zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Entwicklung tatsächlich haben, hängt allerdings in hohem Masse von der Einrichtung des Kindheits-Status an. Die Frage, ob es moralisch relevant ist, ein Kind zu sein, führt deshalb zur Frage, wie Kindheit sozial ausgestaltet werden soll.

In konkreten ethischen Konfliktsituationen kann zum einen infrage gestellt werden, dass die bestehende Konzeption von Kindheit (als Status) angemessen ist. Beispielsweise könnte kritisiert werden, dass kleine Kinder zu früh dem Leistungsdruck der Schule ausgesetzt sind – oder dass Fünfzehnjährige nach wie vor mit paternalistischen Einschränkungen durch ihre Eltern leben müssen. Gerade die Regelungen zum Übergang ins Erwachsenenalter sind anfällig für Kritik. Wie z.B. kann gerechtfertigt werden, dass politisch kompetente Jugendliche kein Wahlrecht haben, politisch desinteressierte Erwachsene aber schon?

Neben der Kritik der sozialen und institutionellen Arrangements, die den Status von Kindheit und Jugend konstituieren, kann in einzelnen Situationen bezweifelt werden, dass die vorgesehenen Regeln angemessen angewandt werden – so könnte ein Kind den Anspruch erheben, in einen bestimmten Entscheidungsprozess einbezogen zu werden und dabei darauf verweisen, dass es über diejenigen Fähigkeiten verfügt, die gemäss den den geltenden Regeln dafür nötig sind. Sobald infrage gestellt wird, dass diese Regeln selbst legitim sind, betrifft dies wiederum die globalen Arrangements der Kindheit.

Johannes Giesinger, Dr. phil, geb. 1972, unterrichtet Philosophie an der Kantonsschule Sargans (Schweiz) und ist affiliierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Er befasst sich vorwiegend mit Fragen der Erziehungsphilosophie und der Ethik der Kindheit.


Johannes Giesinger, Dr. phil, geb. 1972, unterrichtet Philosophie an der Kantonsschule Sargans (Schweiz) und ist affiliierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Er befasst sich vorwiegend mit Fragen der Erziehungsphilosophie und der Ethik der Kindheit.


[i]
        Vgl. v.a. Anca Gheaus, Unfinished Adults and Defective Children. Journal of Ethics and Social Philosophy 9 (1/2015)), 1–22; sowie Alexander Bagattini, Future-oriented Paternalism and the Intrinsic Goods of Childhood, 17–33.

[ii]      Sally Haslanger, Resisting Reality. Social Construction and Social Critique, Oxford: Oxford University Press 2012.

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