15 Aug

Kinder ohne Stimme: Andrzej Wajdas Film „Korczak“

Anlässlich der Veröffentlichung des Handbuch Philosophie der Kindheit (J.B. Metzler 2019) bringt praefaktisch in den nächsten Wochen ein paar Texte zur Philosophie der Kindheit.


von Martina Winkler (Kiel)


Spätestens seit dem 19. Jahrhundert ist das Konzept der Kindheit in der westlichen Welt höchst emotional aufgeladen; Autoren und Autorinnen der Kindheitsgeschichte sprechen nicht umsonst von einem „moral project“[1] und der Sakralisierung der Kindheit[2]. Entsprechend hat diese Geschichte auch ihre Helden. Einer der größten dieser Helden dürfte Janusz Korczak sein: der polnische Erzieher und Autor, bekannt für seine pädagogischen Schriften und die Formulierung von Kinderrechten, vor allem aber für sein unermüdliches Engagement für jüdische Waisenkinder im Warschauer Ghetto. Korczak starb in den Gaskammern von Treblinka, in die er – trotz der Möglichkeit, sich selbst zu retten – „seine“ zweihundert Kinder begleitet hatte. 

Die Forschung tut sich schwer mit Janusz Korczak, und nicht selten verschwimmen Ehrfurcht und geradezu hagiografische Darstellung mit dem Anspruch auf eine wissenschaftliche Darstellung. Korczaks Tod und sein ultimatives, jede Vorstellung übersteigendes Opfer wird zum überwältigenden Fluchtpunkt vieler Darstellungen und scheint damit eine analytische oder womöglich gar kritische Herangehensweise an die Person und ihr Werk nachgerade zu verbieten. Der Film, so sollte man meinen, hat es in seiner größeren erzählerischen Freiheit leichter, und tatsächlich kam im Jahr 1990 ein ambitionierte Biografie in die Kinos: eine polnisch-deutsche Koproduktion, die sich auf ein großes Thema und große Namen verlassen konnte. Regie führte Andrzej Wajda, das Drehbuch hatte Agnieszka Holland geliefert. Der Film, lakonisch überschrieben mit einem simplen „Korczak“, gilt vielen als ein weiteres Meisterwerk des gefeierten Regisseurs. Er wurde mit dem deutschen Filmpreis ausgezeichnet und lief beim Festival in Cannes; für den Wettbewerb um den Oscar wurde er zwar ausgewählt, dann aber nicht unter die Nominationen aufgenommen.

Wajdas Korczak wurde bereits aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert, und Kritiker wie Verteidiger stritten sich darüber, ob ihm antisemitische Elemente vorzuwerfen seien und welches Geschichtsverständnis hier deutlich werde. Ich möchte hier auf einen anderen Aspekt eingehen: einen Aspekt, der oberflächlich betrachtet das wichtigste Thema des Films ausmacht, der aber bezeichnenderweise in den Diskussionen bislang vollkommen ignoriert wurde: Die Kindheit.

Janusz Korczak ist bekannt und wird verehrt aufgrund seines Einsatzes für Kinder. Ihm wird ein tiefes und wahrhaftiges Verständnis für Kinder zugeschrieben, und er gilt als ein wichtiger Vertreter nicht nur der zu seiner Zeit bereits sehr prominenten Reformpädagogik, sondern auch als Wegbereiter der erst in den Anfängen befindlichen Kinderrechtsbewegung. Dieser Darstellung folgt auch der Film Wajdas: Das wohl häufigste Wort, das er Janusz Korczak in den Mund legt, lautet „die Kinder“; Korczak ist liebevoll, wenn er seine Zöglinge tröstet; er deckt müde Knirpse zu, erzählt Geschichten und lässt sich auf die Wünsche und Bedürfnisse der Kleinen ein. Dabei wirkt er zuweilen selbst kindlich, so wenn er ausdauernd mit einem Achtjährigen über den Kauf eines Wackelzahns diskutiert oder eine aus Kindern bestehende „Eisenbahn“ durch den Schlafsaal anführt. Hier allerdings fällt eines auf: in all diesen Szenen ist es stets Korczak, der im Zentrum steht – die Kinder bleiben Kulisse.

Die zahlreichen Kinder in Wajdas Film treten überwiegend in großen Gruppen auf. Abgesehen von dem Jungen Szloma, der nach dem Tode seiner Mutter in Korczaks Kinderheim kommt und sich nur mühsam anpasst, gibt Wajda keinem der Kinder eine Persönlichkeit. Kinder weinen, lachen oder schauen mit aufgerissenen Augen ängstlich in die Kamera. Es ist offensichtlich, dass die Filmemacher sich weder mit der Schauspielerführung noch mit der Nachsynchronisation der Kinderstimmen besondere Mühe gemacht haben: Wir hören Kinder wegen aufgeschlagener Knie oder Schüsse auf der Straße bitterlich weinen, aber ihre Gesichter bleiben unbewegt. Letztlich, so wird schnell deutlich, dienen solche Szenen nur dazu, Korczaks liebevollen Umgang mit Kindern zu demonstrieren.

Wajdas Film erscheint als geeignete Illustration einer These des norwegischen Kindheitssoziologen Jens Qvortrup: Kinder waren in der Geschichte stets unsichtbar. In der Vormoderne gab es „die Kindheit“ als Kategorie nicht, und somit wurden Kindern nicht als solche betrachtet. Moderne Gesellschaften dann haben ihr Interesse an der Kindheit entdeckt und Kinder als spezifische Gruppe definiert, machen sie als Akteure jedoch unsichtbar, wenn sie sie aus dem öffentlichen Raum verbannt.[3] Für das späte 20. und 21. Jahrhundert kann diese These ergänzt werden durch die Beobachtung, dass Kinder ein ständiges und kontroverses Gesprächsthema sind, selbst an diesem Gespräch jedoch nur selten beteiligt werden. Für viele Produkte der Popkultur gilt dies in verstärktem Maße: Je mehr über Kinder gesprochen wird, je intensiver sie idealisiert werden, desto weniger Raum wird ihnen gegeben. Visuelle Medien entwickeln dabei besondere Strategien, um Kinder paradoxerweise unsichtbar zu machen: sie reduzieren sie auf bestimmte Elemente wie große Augen, ständiges Weinen oder „Kindheits-Zubehör“ wie Kinderwagen oder –betten. Als Beispiele können zahllose Fernsehserien besonders amerikanischer Produktion dienen, in denen Themen wie Kinderwunsch, Mutterschaft und Erziehungsprobleme stets und ständig diskutiert werden, die Kinder selbst aber keinerlei aktive Rolle spielen. Sie sind Requisiten, die – je nach sozialer Stellung der Eltern – in die Kinderkrippe gebracht oder einer Nanny übergeben werden, eine Folie, anhand der die Drehbuchautoren die Persönlichkeiten und Probleme der Erwachsenen entwickeln können.

Ganz ähnlich bei Wajda: Eines Abends, als eine mögliche Deportation bereits näher rückt, geht Korczak gemeinsam mit der Erzieherin Stefa durch den dunklen Schlafsaal. Die beiden sprechen über die politische Situation und das Schicksal der Kinder, diskutieren die Möglichkeit, einige der Kinder in nichtjüdischen Familien zu verstecken. Keinesfalls sollen die Kinder von der Gefahr etwas wissen (und tatsächlich verschweigt Wajdas Korczak seinen Schützlingen bis zum Schluss, was mit ihnen geschehen wird). Wir sehen zweihundert Betten, aber kein einziges Kind. Die Erwachsenen sprechen über die Kinder, sie decken ab und zu fürsorglich einen nackten Fuß zu. Der mangelnde Realismus dieser Szene – die Chance, dass eines von zweihundert Kindern aufwachen und das Gespräch mitanhören könnte, scheint doch relativ groß – wird zur wichtigen Aussage über das Kindheitsverständnis des Films: Kinder sind Objekte der Fürsorge, passive Wesen ohne jeden Anspruch auf oder Wunsch nach Wissen, und die Erwachsenen müssen sich nicht einmal Mühe geben, Geheimnisse wirklich geheim zu halten. Hier wird im wahrsten Sinne des Wortes über die Köpfe der Kinder hinweg gesprochen und entschieden.

Nun ist Wajdas Film explizit ein Film über die Person Korczak, eine Märtyrergeschichte mit stark theatralischen, zuweilen kammerspielartigen Zügen. Realismus ist kein Ziel des Films, wie nicht zuletzt die traumartige Schlussszene zeigt, in der die Kinder aus dem abgekoppelten Güterwaggon herausspringen und über eine Wiese laufen. Dennoch ist es bemerkenswert, dass ein Regisseur, der die Hagiografie eines leidenschaftlichen Erziehers dreht, Kinder als bloße Folie nutzt. Dies umso mehr, als Korczak sich engagiert einsetzte für Rechte des Kindes – und zwar nicht nur für die Rechte auf besonderen Schutz und besondere Fürsorge, wie sie in der ersten „Deklaration der Rechte des Kindes“ in Genf 1924 formuliert wurden, sondern für Rechte der Selbstbestimmung.

Die von Korczak formulierten Rechte enthalten „Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag“, das Recht also auf ein Leben im Heute und nicht nur in einer fernen Zukunft. Kind sein, nicht nur erwachsen werden – hier wird eine romantische Verklärung des Kindes umgesetzt in ein Recht, welches den modernen Druck einer „Entwicklungskindheit“ problematisiert und bekämpft. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem „Recht des Kindes, so zu sein. wie es ist“. Kinder waren für Korczak individuelle Persönlichkeiten und nicht nur generische Mitglieder einer durch Erwachsene definierten und gelenkten Gruppe. Und schließlich das dramatisch formulierte „Recht des Kindes auf seinen eigenen Tod“: Korczak spitzte hier das Recht des Kindes zu, eigene Entscheidungen zu treffen und eigene Fehler zu machen, und argumentierte, ein Kind, das ständig vor den Gefahren des Todes geschützt werde, habe letztlich keine Chance auf Leben.[4]

Wajdas Film übernimmt von Korczaks Philosophie die praktischen Dinge: so wird seine Idee für eine von Kindern produzierte Radiosendung erwähnt, und wir erhalten einen kleinen Eindruck von den im Kinderheim durchgeführten Gerichtsverhandlungen, in denen die Kinder eigenständig für Gerechtigkeit sorgten. Davon abgesehen aber erscheinen die Kinder hier austauschbar, ohne Willen, Persönlichkeit oder Stimme. Eine der sehr wenigen Szenen, in denen ein Kind einen etwas längeren Text spricht, zeigt bezeichnenderweise das Einüben eines Theaterstücks im Kinderheim. Es sind nicht seine eigenen Worte, sondern von einem Erwachsenen vorformulierte Sätze, die das Kind nun auswendig gelernt hat. Damit nicht genug: Die Erzieherin erklärt dem Kind, wie es sich fühlen muss, welche Emotionen es entwickeln solle.

Filmplakate zu Korczak zeigen den Protagonisten mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm, eingehüllt in eine Decke, mit ängstlichem Blick. Die beiden stehen vor einer Mauer oder wahlweise einer Ghettoszene, und der Betrachter erhält unwillkürlich den Eindruck, es müsse sich hier um eine Szene der Flucht oder der unmittelbar bevorstehenden Deportation handeln. Doch dem ist nicht so, denn das Plakat ist montiert. Im Film spielt die betreffende Szene noch vor Kriegsausbruch statt. Hier trägt Korczak das kleine, sich verschüchtert unter einer Decke versteckende Mädchen in einen Hörsaal. Dort stellt er es hinter einen Röntgenapparat, um seinen Studenten etwas zu demonstrieren: „So sieht ein Kinderherz aus“. Es ist bezeichnend, dass Wajda, der in seinem Film so viele moralische Dilemmata aufzeigt und immer wieder die Frage danach stellt, wie weit man gehen darf, um Menschenleben zu retten, hier offenbar gedankenlos eine Szene arrangiert, in der ein verängstigtes Kind als Anschauungsobjekt genutzt wird, um Studenten „das Wesen der Kindheit“ zu demonstrieren; dass es in Furcht versetzt wird, um Erwachsene über die Ängstlichkeit und Verletzlichkeit von Kindern zu belehren. Und es ist bezeichnend, dass diese Szene in der Werbung für den Film in ganz anderer Weise verwendet wird: Hier erscheint Korczak als der Beschützer eines verfolgten Kindes vor den Grausamkeiten von Krieg und Verfolgung. Das Plakat verfälscht somit die unmittelbare Aussage einer Szene, und zugleich bestätigt es einen Grundzug des gesamten Films. Denn Korczak zeigt Kinder als Opfer einer unermesslichen Grausamkeit und macht sie zugleich zu passiven Objekten einer wohlmeinenden, vollständig und oftmals rücksichtslos aus der Erwachsenenperspektive erzählten Märtyrergeschichte.


Martina Winkler ist seit Oktober 2017 Professorin für Geschichte Osteuropas an der Universität zu Kiel.


[1] Cook, Daniel Thomas: „Childhood as a moral project“, in: Childhood 24 (2017), Nr. 1, S. 3-6.

[2] Zelizer, Viviana A.: Pricing the priceless child : the changing social value of children, Princeton (N.J.): Princeton University Press 1994.

[3] Qvortrup, Jens: „Varieties of Childhood“, in: ders. (Hg.), Studies in Modern Childhood. Society, Agency, Culture, Houndmills, Basingstoke ]: Palgrave Macmillan 2005, S. 1-20.

[4] Korczak, Janusz: Wie man ein Kind lieben soll, hg. v. Heimpel, Elisabeth, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014.

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