09 Jun

Kinderrechte in die Verfassung: wem nützt die aktuelle Debatte?

von Alexander Bagattini (München)


Die Frage, ob Kinderrechte in die Verfassung aufgenommen werden sollen, wird in Deutschland schon seit langem kontrovers diskutiert. Durch den aktuellen Gesetzesentwurf des Justizministeriums hat diese Debatte politisch und medial wieder an Fahrt aufgenommen. Eine Google-Recherche ergibt alleine für das Jahr 2019 fast 90.000 Links, von denen viele Artikel der großen Tageszeitungen enthalten. Ausgangspunkt dieser medialen Bewegung ist folgende angestrebte Ergänzung im auf Ehe und Familie bezogenen Artikel 6 des Grundgesetzes: Jedes Kind hat das Recht auf Förderung seiner Entwicklung. Bei allen Angelegenheiten, die das Kind betreffen, ist es entsprechend Alter und Reife zu beteiligen; Wille und zuvörderst Wohl des Kindes sind maßgeblich zu berücksichtigen.

Eltern- und Kinderrechte

Um die Aufregung um diesen beabsichtigten neuen Absatz 1a des Grundgesetzes zu verstehen, ist es wichtig zu sehen, dass das Kindeswohl im deutschen Recht (in §1666 BGB) bisher lediglich als Zugriffslegitimation des Staates für Kinderschutzmaßnahmen für Fälle einer Kindeswohlgefährdung rechtlich implementiert war. Eine aktive Rolle des Staates zur Förderung des Kindeswohls war bisher nicht vorgesehen, weil die Erziehung von Kindern hiermit stärker in den Fokus staatlicher Institutionen rücken könnte.

Kritiker einer Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung betonen in diesem Zusammenhang die historische Besonderheit der deutschen Geschichte mit gleich zwei auch in Erziehungsfragen totalitären Staaten und die daraus resultierende besondere Verantwortung und den Schutz für ein die Elternrechte stärkendes liberales Modell der Erziehung. In diesem Sinn äußert sich beispielsweise Elisabeth Winkelmeier-Becker, Mitglied der Bundestagsfraktion der CDU: „Je nach Formulierung würde das dazu führen, dass in dem Dreiklang Kind-Eltern-Staat der Staat mehr Eingriffsbefugnisse bekäme, zulasten der Eltern. Das haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes damals bewusst anders entschieden.“ Befürworter einer entsprechenden Verfassungsänderung, wie die stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, betonen dagegen egalitäre Gründe, wie den gleichberechtigten Zugang aller Kinder zu Gütern wie Bildung und Gesundheit sowie einen angemessen Schutz vor den unerwünschten Wirkungen sozial bedingter Kinderarmut. Sie sagte gegenüber der Deutschen Presseagentur: „Starke Kinderrechte gehören ins Grundgesetz, weil sie dann den Staat dazu verpflichten, die Interessen von Kindern endlich bei allen Entscheidungen mitzudenken.“

Beide Seiten haben ohne Frage gewichtige Gründe vorzuweisen. Das Grundgesetz bestimmt das Sorgerecht der Eltern in Artikel 6.2 als ein „natürliches Recht“, also – ungeachtet der rechtsphilosophischen Unwucht dieses Terminus – als ein den Eltern zumindest standardmäßig zukommendes Recht. Die Kritik an dieses Recht einschränkenden Rechtsnormen kann also durchaus mit Verweis auf die liberale Tradition mit ihren Schutzrechten gegenüber staatlichen Einschränkungen individueller Freiheiten motiviert sein; und hierzu zählt natürlich auch die Freiheit, seine Kinder nach den eigenen Wertvorstellungen zu erziehen. Allerdings hat eben diese Tradition einige „blinde Flecken“, was den Schutz der Interessen besonders vulnerabler Personengruppen betrifft, zu denen auch Kinder gehören. Die Implementierung von Kinderrechten erscheint in diesem Zusammenhang als ein aus egalitaristischer Perspektive notwendiger Schritt, um die spezifischen Interessen von Kindern angemessen zu berücksichtigen.

Angesichts der starken Rechtfertigung beider Positionen, kann man davon ausgehen, dass zum einen die Kinderrechte in die Verfassung-Vertreter nicht den grundsätzlichen Schutz von Elternrechten infrage stellen wollen, und dass die Kinderrechte in die Verfassung-Kritiker den ebenso grundsätzlichen Anspruch von Kindern auf Grundrechte nicht abstreiten. Gleichwohl weist die polarisierende Rhetorik der Debatte darauf hin, dass nicht alle Annahmen explizit gemacht werden. Es lohnt daher, sich die grundsätzlichen Argumentationsstrukturen noch einmal näher zu betrachten.

Kinderrechte in der Verfassung: eine illegitime Erweiterung staatlicher Befugnisse?

Es ist zunächst hilfreich, zwischen zwei unterschiedlichen Aspekten von Elternrechten zu unterscheiden: zum einen dem Recht zur Übernahme der Rolle eines Elternteils und zum anderen dem Recht, diese Rolle auszuüben. (Hannan/Vernon 2008, Giesinger 2015) Dass Eltern grundsätzlich ein Recht auf die Erziehung ihrer Kinder haben, ist der für diesen kurzen Beitrag weniger kontroverse und auch weniger relevante Aspekt, denn die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung stellt nicht das grundsätzliche Recht von Eltern zur Erziehung ihrer Kinder infrage.

Daher muss die Kritik an der Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung auf den zweiten Aspekt der inhaltlichen Bestimmung der Rolle der Eltern, bzw. des Umfangs der Ausübung dieser Rolle. Die klassisch liberale Tradition geht hier vom Interesse der Eltern danach aus, die von ihnen geschätzten Projekte mit ihren Kindern zu teilen und ihnen die mit ihnen verbundenen Werte zu vermitteln. Diesen Punkt heben m.E. auch die Kritiker verfassungsmäßig implementierter Kinderrechte hervor. Allerdings ist er weniger schlagkräftig als es zunächst wirken mag. Richtig ist sicher, dass ein in Erziehungsfragen allzu intrusiver Staat schwer mit einem liberalen Grundverständnis von Erziehung vereinbar ist. Allerdings übersieht man bei einer Überpointierung dieses Gedankens schnell, dass Kinder Personen mit einem spezifischen moralischen Status sind, zu dem auch der Schutz ihrer Interessen als besonders vulnerable Personen gehört. Ein konservativer Reflex gegen Rechte, die diese Interessen von Kindern schützen, zur Not auch gegen ihre Eltern, ist daher unangemessen. Auch die fast schon polemisch anmutende Feststellung, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes mit gutem Grund anders entschieden haben, ist hier wenig überzeugend. Die normative Bewertung von Familienverhältnissen hat sich seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland fundamental gewandelt. Man kann hier nicht nur auf die notorische, rechtliche Schlechterstellung von Frauen zu Beginn der BRD denken. Auch die Entwicklung im Sorgerecht (aus dem Grundsatz der väterlichen, später elterlichen Gewalt hin zum heutigen deontologischen Verständnis – gemäß §1626 BGB – einer Pflicht und einem Recht, für seine Kinder zu sorgen) zeigt deutlich eine stärkere Einflussnahme des Staates im Bereich der Erziehung, die man auf der operationalen Ebene beispielsweise an den zunehmend verpflichtenden U-Untersuchungen sieht. Dies bedeutet, dass das Verhältnis zwischen Staat und Eltern in Erziehungsfragen ohnehin einem ständigen Wandel unterworfen ist. Der Impuls, vor einem zu starken Staat zu warnen, auch im Bereich der Erziehung, ist aus liberaler Perspektive richtig und gut. Es ist aber alles andere als klar, dass verfassungsmäßig implementierte Kinderrechte hier wirklich eine normativ unzulässige Grenze überschreiten.

Kinderrechte in der Verfassung: Verbesserung des Schutzes der Interessen von Kindern?

Da es bei der geplanten Gesetzesänderung wesentlich um den Kindeswohlbegriff geht, ist es zunächst wichtig, auf einen wichtigen Unterschied des Kindeswohlbegriffs der UNKRK und des BGB hinzuweisen. Beide Systeme verwenden formale (d. h. inhaltlich unbestimmte) Kindeswohlbegriffe, die im Einzelfall substantiiert werden müssen. Allerdings dient das Kindeswohl in der UNKRK als Grundprinzip der Normierung von Kinderrechten, die einen positiven materialen Gehalt haben, weil sie auf Güter wie z.B. Bildung, Gesundheit oder Freiheit abzielen. Es kann hierbei sowohl Spannungsverhältnisse zwischen einzelnen Kinderrechten geben (z. B. Bildung vs. Freizeit) als auch kontroverse Ansichten darüber, wieviel der angesprochenen Güter Kindern zusteht. In diesem Sinn zielt das Kindeswohl als übergeordnetes Gerechtigkeitsprinzip darauf, was Kindern objektiverweise zukommt. Man könnte also sagen, dass eine Implementierung von Kinderrechten in der Verfassung lediglich anerkennt, was Kindern qua UNKRK ohnehin zukommt – ein besonderer rechtlicher Status.

Allerdings ist es eine juristisch umstrittene Frage, ob dieser Schutz kindlicher Interessen auf der Basis des bestehenden Rechtssystems in Deutschland bereits gegeben ist. Manche Jurist/innen, wie beispielsweise Friederike Wapler, betonen, dass Kinder grundrechtsfähig, dass sie also Träger von Grundrechten sind. Wapler ist zudem skeptisch über den Inhalt der geplanten Verfassungsänderung, da er ihrer Meinung nach „nichts Neues“ bringt. (Wapler 2019) Wapler kritisiert vor allem, dass viele Formulierungen hinter den Forderungen der UNKRK zurückblieben, und dass daher der Nutzen des neuen Gesetzes nicht klar sei. Gegen Wapler kann man hier erstens einwenden, dass nicht klar ist, ob ihre Kritikpunkte auch bei einer entsprechenden Änderung des Entwurfs greifen. Zweitens wird von Befürwortern oft die Symbolkraft von Kinderrechten im Grundgesetz geltend gemacht, die auch bei einer kritisierbaren Form dieser Rechte gegeben sein könnte. Zumindest was die Umsetzung der UNKRK im deutschen Rechtssystem angeht, scheint es mir daher noch einigen Klärungsbedarf zu geben, bevor eine abschließende Einschätzung möglich ist.

Kinderrechte in die Verfassung: warum?

Kinder sind in ihren Interessen besonders verletzlich und daher hat ein Schutz ihrer Interessen, wie es die UNKRK in Artikel 3 feststellt, vorrangige Bedeutung. Man kann mit Sicherheit nicht sagen, dass die staatlichen Institutionen in Deutschland dem derzeit gerecht werden. Laut einer aktuellen Analyse des DGB (unter Berücksichtigung von Zahlen der Bundesagentur für Arbeit) sind in Deutschland ca. 1,5 Millionen Kinder auf Hartz IV angewiesen. Lebenschancen sind in Deutschland im internationalen Vergleich immer noch viel zu sehr von der sozialen Herkunft abhängig. Viele Kinder aus Migrantenfamilien werden nicht, oder nicht angemessen, versorgt und bei Rückführungsprozessen konsequent in ihrem Recht auf Partizipation verletzt, wie eine aktuelle Studie von UNICEF zeigt. Die Inklusion wird in vielen Schulen zulasten von inkludierten Schülern durchgesetzt. Zudem ist es alles andere als klar, dass Kinder heute adäquat auf digitale Medien und die sich immer schneller wandelnde Welt vorbreitet werden. Vor dem Hintergrund dieser und anderer ernster Probleme bezüglich des Schutzes der Interessen von Kindern ist ein Weckruf der Art „Kinderrechte in die Verfassung“ wünschenswert – wenn er denn auch dazu führt, dass sich die Bedingungen für viele Kinder wirklich verbessern. Allerdings kann auch ein verfassungsmäßig garantierter Anspruch auf eine maßgebliche Förderung des Wohlergehens schnell zum frommen Wunsch werden, wenn die staatlichen Institutionen (Ämter, Schulen, Gesetze etc.) sich nicht wandeln. Mit anderen Worten: nicht die zugegeben gut klingende Rechtsprosa des geplanten neuen Artikels nützt Kindern in problematischen Lebenssituationen, sondern nur konkrete institutionelle Maßnahmen. Hierzu würde man sich mehr klare Worte, vor allem auch seitens der Befürworter der verfassungsmäßigen Implementierung von Kinderrechten wünschen.


Anlässlich der Veröffentlichung des Handbuch Philosophie der Kindheit (J.B. Metzler 2019) bringt praefaktisch Texte zur Philosophie der Kindheit.


Alexander Bagattini habilitiert sich an der Universität Düsseldorf mit einer kumulativen Arbeit zum Thema „Kindeswohl und Kinderrechte „. Zur Zeit arbeitet er an der LMU München als Koordinator des Münchner Kompetenzzentrums Ethik. Er ist auch Mitherausgeber der „Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie“.


Giesinger, J. 2015. Elterliche Rechte und Pflichten, in Betzler, M./ Bleisch, B. Familiäre Pflichten, Suhrkamp, Berlin, 107-28

Hannan, S./ Vernon, R. 2008. Parental Rights: A role-based approach, in Theory and Research in Education, 6, 173-90

Wapler, F. 2019. Kinderrechte ins Grundgesetz: ein neuer Entwurf bringt nichts, in On Matters Constitutional

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