Absolute und relative Menschlichkeit im Krieg – der Versuch einer unparteiischen Parteinahme
Von Manuel Schulz
In vielen Menschen erzeugt die gegenwärtige politische Stimmung, die sich seit einem Jahr im Angesicht des russischen Überfalls auf die Ukraine breit gemacht hat, ein massives Unbehagen. Militaristische Engführungen der Konfliktanalyse wo man nur hinschaut und hinhört, kriegsbejahende Siegesrhetoriken, Debatten um die Vorzüge eines bestimmten militärisch-technischen Geräts von Politiker*innen, die noch vor kurzem scheinbar für eine pazifistische Grundhaltung standen. Sogar die Forderung einer militärischen Führungsrolle Deutschlands in Europa ist wieder zu erschreckender Salonfähigkeit gelangt. Angesichts der europäischen und insbesondere der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts läuft vielen Menschen bei solchen Forderungen ein kalter Schauer über den Rücken.
Das Retten von Menschenleben – eine unzeitgemäße Forderung?
Wo ist sie hin, die bedingungslose Bejahung von Menschenleben, wie sie eben noch im Kontext der Pandemie heraufbeschworen wurde? Wo ist sie hin, die Haltung nie wieder Krieg mit deutschem Gerät und deutscher Unterstützung? Wer mit solchen Fragen angesichts der schwarzweißen Klaviatur des Krieges in der Öffentlichkeit kritische Grautöne anschlägt, wird schnell moralisch in die Zange genommen oder gerät gar unter den Verdacht einer Nähe zum Rechtspopulismus.
Stellt man die genannten Fragen trotzdem, so besteht das meist vorgetragene Argument darin, dass wir es im aktuellen Fall mit einer besonderen Notsituation zu tun haben; schließlich geht es hier um das legitime Selbstverteidigungsrecht eines angegriffenen Landes. Ohne diesen völkerrechtlich völlig unbestreitbaren Fakt leugnen zu wollen, ist dennoch auf zwei Dinge hinzuweisen: Einerseits zeigen die Einsichten der Friedens- und Konfliktforschung (wo sind eigentlich die Vertreter*innen dieses Faches in der öffentlichen Debatte?), dass die Eskalationsspirale der Gewalt in einem bewaffneten Konflikt auf diese Weise fast nie beendet, sondern lediglich weiter vorangetrieben wird.
Und zum anderen ist es aus einer humanistischen Perspektive trotz aller legitim erscheinenden Begründung letztlich egal, wer aus welchem Grund wen tötet bzw. getötet wird. Das Leid eines Menschen, so die hier vertretene Kernthese, ist absolut, die Begründungen dafür relativ.
Selbstsein zwischen absoluter Identität und relationaler Zuschreibung
Um diese Differenzierung in die teils hitzigen und extrem polarisierten Debatten um das Thema der Waffenlieferungen einzuziehen, hilft ein kleiner Ausflug in die Selbstbewusstseinsphilosophie. So hat der 2021 verstorbene Philosoph Hermann Schmitz entlang ausgedehnter neophänomenologischer Studien ein zweipoliges Modell von Subjektivität entwickelt. Eine Person zu sein, so das Ergebnis der Schmitzschen Forschung, bedarf zweier Ebenen des Selbstbewusstseins: Eines ist uns von Geburt an spürbar gegeben, das andere bildet sich im Verlauf der Sozialisation. Das erste vermittelt sich uns durch das Betroffensein am eigenen Leib, das zweite entfaltet sich im Rahmen von kategorialen Selbst- und Fremdzuschreibungen.
Man könnte diese beiden Ebenen auch als das Wer-Bewusstsein und das Was-Bewusstsein beschreiben. Das Wer des Betroffenseins ist dabei Schmitz zufolge als absolut zu begreifen, das Was hingegen als relational. Spüre ich beispielsweise einen starken Schmerz am eigenen Leib, ist das Wer vollkommen offensichtlich. Die Frage wer da gerade Schmerz hat, ist überflüssig. Was dieses Wer jedoch im Sinne einer Identität ist, Mann oder Frau, Ingenieurin oder Krankenpfleger, Russin oder Ukrainer, ist Ausdruck gesellschaftlicher Zuschreibungen (die bipolare Struktur dieser Beispiele ist natürlich nicht notwendig, aber für gesellschaftliche Konfliktdynamiken recht typisch).
Wir sind uns also auf der Ebene des Wer-Bewusstseins kontinuierlich durch unser ganzes Leben hindurch im existenziellen Sinne selbst gegeben. Im eigenleiblichen Betroffensein sind wir, wie Schmitz es nennt, absolut mit uns selbst identisch. Demgegenüber ist das relationale Was-Bewusstsein Ausdruck gesellschaftlicher Kategorisierungen. Es ist vielschichtig und wandelbar. So sind wir auf der Was-Ebene immer vieles, in meinem Fall z. B. Lebensgefährte, Bruder, Soziologe, Mensch mit Behinderung und so weiter. Die Anverwandlung oder Zurückweisung solcher gesellschaftlichen Identifikationsmuster unterliegt einer dauerhaften Dynamik. Typischstes Beispiel für diese Prozesshaftigkeit ist die Phase der Pubertät.
Beide Ebenen des Selbstseins, das absolute Wer-Bewusstsein und das relative Was-Bewusstsein, zeichnen das alltägliche Erleben einer erwachsenen Person aus. So weiß ich stets, dass dasjenige, das da Schmerzen empfindet, mit mir selbst absolut identisch ist. Was dieses betroffene Selbst jedoch im identifikatorischen Sinne ist, steht nie fest und muss immer wieder durch gesellschaftliche Praktiken hervorgebracht und verstetigt werden.
Relativierungen im Dienste des Krieges
Wie können uns diese Überlegungen nun aber helfen, eine unparteiische Parteinahme im Kontext der Debatte um die Legitimität von Waffenlieferungen zu formulieren? In einem ersten Schritt kann man sich mit dieser Unterscheidung von absolutem Wer und relativem Was vergegenwärtigen – wenn dies auch eigentlich ohnehin klar sein sollte – dass jede Person, die an der russisch-ukrainischen Front das Leben verliert, eine sich eigenleiblich spürende Entität ist. Das Wer des sterbenden Soldaten ist absolut, sein Was relativ. Ob er sich als Russe oder als Ukrainer begreift, bzw. vom Feind als das jeweils andere identifiziert wird, ist Ausdruck komplexer Zuschreibungsprozesse.
Diese ins existenzielle getriebene Humandifferenzierung (Stefan Hirschauer) teilt die absolute Sphäre der sich spürenden Menschen in ein zu bewahrendes und ein zu vernichtendes ein – die bipolare Logik des Krieges. Sie legt sich wie ein relativistischer Schleier der Entmenschlichung über ein Geflecht von tausenden und abertausenden absolut mit sich identischen Personen. Auf der Was-Ebene entsteht so eine legitimatorische Benutzeroberfläche des Tötens.
die Tatsache, dass all die in Gruppen unterteilten Entitäten empfindende Menschen sind, die sich jenseits der Kategorisierungen in nichts unterscheiden, wird durch diese kriegerische Humandifferenzierung negiert. Es ist eben jener Prozess einer Verdrängung des Absoluten zugunsten der Herausstellung des Relativen, der zum rhetorischen Grundbaustein von Kriegsdiskursen gehört.
Zur absoluten und relativen Funktion der Waffe
Eine ähnliche Grunddynamik von Absolutheit und Relativität zeigt sich beim Blick auf das Phänomen der Waffe. Eine konkrete Waffe ist in absoluter Hinsicht eine mehr oder weniger technisch elaborierte Apparatur zur Vernichtung von Menschen; von Menschen, die in jedem konkreten Fall absolut mit sich identisch sind. Je nachdem welche Partei diese Waffen zu welchem Zweck einsetzt, ändern letztere ihre Funktion auf der relativen Ebene des Was bzw. des Wozu. Sie können ihre absolute Funktion ausüben, sprich töten, im Dienste der verschiedensten Überzeugungen: der Freiheit, des Vaterlandes, der Demokratie, des Rechtsstates, der Revolution oder der Gegenrevolution, der Religion, der Vergeltung, der Selbstverteidigung usw.
Alles dies sind, zugegebenermaßen mehr oder weniger legitim erscheinende, relative Zuschreibungen zu der absoluten Funktion des Tötens. Je nach gewählter Kategorie geraten andere Entitäten aus anderen Gründen ins Fadenkreuz, gleich bleibt jedoch in jedem Fall, dass sich der Einsatz einer Waffe gegen einen Menschen in einer absoluten Dimension vollzieht.
Die eskalatorische Verkehrung des Absoluten und des Relativen
Die aufgezeigte Perspektive lässt deutlich werden, dass die Sphäre des Absoluten, sprich die Wer-Frage der täglich sterbenden Menschen, in den hierzulande geführten Debatten kaum eine Rolle spielt. Stattdessen dreht sich das Diskurskarussell fast ausschließlich um die relative Legitimität. Die Sphäre des Absoluten, namentlich der Tötung einer absolut mit sich identischen und im Übrigen auch einzigartigen Person, sei sie russisch, ukrainisch oder sonst einer Nationalität, gerät so völlig aus dem Blick der Öffentlichkeit.
Dies hat zur Folge, dass sich unter Umständen eine eigenartig verdrehte Form des Nationalismus durch die diskursive Hintertür in unser Alltagsdenken einschleicht. Frei nach dem Motto, das Sterben russischer Soldaten ist weniger schlimm, als das Sterben ukrainischer Soldaten. Willkommen auf der relativistischen Benutzeroberfläche des Krieges. Für die Eskalationsspirale bewaffneter Konflikte ist eine solche Denkweise recht typisch. Dabei werden in letzter Konsequenz die beiden Pole, das Absolute und das Relative, zum Zwecke der siegreichen Beendigung der Auseinandersetzung vertauscht.
Das Absolute, sprich das Töten konkreter Menschen, wird zu einer relativ legitimen Angelegenheit, wenn es nur der richtigen Sache dient, und das Relative der zugrunde liegenden Zuschreibungskategorie wird im Dienste des Sieges über die gegnerische Partei absolut gesetzt. Aus den Grenzziehungen dieser kategorialen Benutzeroberfläche des Krieges werden gesellschaftliche Gräben, und die Gräben zeichnen den Frontverlauf einer zunehmend erbittert geführten gegenseitigen Vernichtung vor.
Dass sich aus dem menschenverachtenden Überfall Russlands eine moralische Pflicht des Beistandes für die Ukraine ableiten lässt, ist unstrittig. Die Debatte darum, wie diese moralische Beistandspflicht konkret ausgestaltet werden kann und soll, muss jedoch mit entschieden mehr Grautönen geführt werden. Vergegenwärtigt man sich die Einsichten der Friedens- und Konfliktforschung, so erscheint es in erschreckender Weise geschichtsvergessen, wenn im Brustton der Überzeugung alle diejenigen als naiv abgestempelt werden, die sich gegen eine militaristische Engführung möglicher Beistandsoptionen wehren. Letztlich birgt eine solche politische Stimmungslage die Gefahr, dass unsere Erschütterung über das unvorstellbare Leid der Betroffenen unversehens zum gesellschaftspolitischen Treibstoff eben derjenigen Unmenschlichkeit wird, die wir eigentlich zu bekämpfen glauben.
Manuel Schulz studierte Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Marburg und wurde im Herbst 2022 am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gesellschaftstheorie, Zeitsoziologie, Wirtschaftstheorie und Leibphänomenologie. Zuletzt erschienen: Vorsorge oder Effizienz? Gegen den Nihilismus der neoklassischen Werttheorie. Kolumne in der agora42.