19 Jul

Denken und Trauer in kriegsträchtiger Zeit

Von Burkhard Liebsch (Bochum)


Nur durch Trauer lebst du wahrhaft die Zeit, fühlst du den Krieg.

Stefan Zweig, »Bei den Sorglosen« [1918], in: ders., Die schlaflose Welt. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909–1941, Frankfurt am Main 1990, 104–111, hier: 110.

Der verbrecherische Überfall von Putins willfähriger Armee auf die benachbarte Ukraine zeitigt verheerende Folgen: entlang der Kampffronten zwischen schierem Entsetzen, Fassungslosigkeit und Verzweiflung einerseits, heißem Zorn und Hass auf die für dieses Desaster Verantwortlichen andererseits – auch in Russland selbst, wo manche sich noch der anachronistischen Illusion hingeben, sie seien auf dem besten Weg in ein neues, bewundernswertes Imperium, das die begangenen Gewalttaten legitimieren könnte, auch um den Preis, die nachbarschaftlichen Beziehungen auf Dauer zu ruinieren, die quer durch alle direkt oder indirekt beteiligten Staaten verlaufen. Am besten werden das die unmittelbaren Nachbarn selbst wissen; darunter sicher auch Russen, die wie hunderte von mutigen Unterzeichnern des Offenen Briefes russischer Wissenschaftler und Wissenschafts­jour­nalisten gegen den Krieg gegen die Ukraine[1] ein Imperium ohne Nachbarschaft für eine abwegige Idee halten. Ein derartiges Machtgebilde kann keinen Bestand haben. Doch die Aussicht auf die Etablierung eines neo-imperialen, alle Nachbarn tödlich bedrohenden Großstaates droht nun auch dort zur eigentlichen Maßgabe internationaler Politik zu werden, wo man nach einschlägigen historischen Erfahrungen jeglichen Aspirationen dieser Art endgültig ab­gesagt hatte. Während sich die Ukrainer in ihrer Notwehr so gut es geht zu verteidigen suchen und während sich die slowenischen, tschechischen und polnischen Nachbarn um die hospitable Aufnahme von Millionen Flüchtlingen bemühen, fällt das vorerst nicht unmittel­bar ge­fährdete westliche Europa durch eine offenbar hoch­infek­tiöse Remilitarisierung des Denkens selbst auf, die nun auch die Phi­losophen zu er­fassen droht, nicht nur die Verteidiger von new just war theories, humanitärer Interventionen und einer »Moral des Krieges«, die sich bereits viele Jahre mit der Rechtfertigung militärischer Gewalt befasst haben.[2]

       Nicht zum ersten Male läuft im Westen auch das Denken Gefahr, sich dem öffentlich kaum noch bestrittenen Verlangen nach Gegengewalt zu unterwerfen. Man streitet nur noch über die Form und über das passende Ausmaß dieser Gewalt – von ökonomischen Sanktionen, die der russischen Kriegswirtschaft »das Rückgrat brechen« sollen, über die Lieferung von »schweren« Offensivwaffen, bis hin zu nuklearen Optionen für den Fall, dass der Kriegstreiber im Kreml seine entsprechenden, bereits ausgestoßenen Drohungen wahr machen sollte. Die Experten in diesen Fragen führen das Wort, während sich die weitere Öffentlichkeit – von der unterdrückten russischen Opposition über die retraumatisierten Bevölkerungen der osteuropäischen bloodlands, die mehrfach extrem unter Hitler und Stalin gelitten ha­ben[3], bis hin zu den saturierten Genießern der aus deren Untaten hervorgegangenen Friedensdividende im Westen – mehr oder weniger verstört in der neuen Lage zu situieren ver­sucht.

       Diese Verstörung hat vielleicht auch ihr Gutes, wenn sie – ratlos, entwaffnet und voller Trauer über ein noch kaum zu ermessendes politisches, ökonomisches, rechtliches, aber auch europäisch-nachbarschaftliches Versagen – dazu beiträgt, das Denken vor der aktuellen militärischen Herausforderung nicht einfach kapitulieren zu lassen. Zu viel steht auf dem Spiel, als dass wir es allein Generälen, Inspekteuren, Verteidigungsminister:innen, Sicherheitsräten und sogenannten Denkfabriken überlassen dürften, die Gedachtes gleich serienmäßig herstellen (wenn man dieses Unwort beim Wort nimmt).

      Wortverdrehungen wie in der Rede von einer »Spezialoperation« ändern nichts daran, dass wenigstens eines ›klar‹ ist: Wir haben es mit einem Angriffskrieg zu tun, der seit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 als kriminelle Untat gelten muss, so dass es nur richtig ist, dass sich der seit 2002 tätige Internationale Strafgerichtshof in Den Haag mit der Unterstützung von Forensikern von Anfang an für Beweisaufnahmen vor Ort interessiert hat, sei es auch nur, um künftigen Macht- und Gewalthabern, sollten sie Ähnliches vorhaben, unmiss­­verständlich deutlich zu machen, dass sie den Rest ihres tödlichen Lebens gegebenenfalls hinter Gittern werden zubringen müssen. Mehr haben sie seitens des Völkerstrafrechts nicht zu befürchten, da es sich nicht von Gedanken der Rache leiten lässt und es niemandem er­laubt, sich der Illusion hinzugeben, es könne für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen, indem es Tätern ihre Untaten mit gleicher Münze heimzahlt. Das Recht wird in der Frage der Ge­rechtigkeit versagen, so wie die Politik versagt hat, die die Vorboten des aktuellen Krieges trotz der einschlägigen Vorgänge in Tschetschenien und Georgien, in Syrien und in der Ostukraine seit 2014 nicht hat kommen sehen oder nicht wahrhaben wollte.

       Der weltweit für jedermann nachvollziehbar publizistisch dokumentierte Ablauf der Er­eignisse spricht eindeutig für Letzteres: wie im eklatanten Fall der Annexion der Krim, die mit dem wenig später abgeschlossenen Vertrag über die Nord Stream-II-Gasleitung als hin­nehmbar besiegelt wurde. In diesem Punkt ist offenbar nicht allein das internationale Recht herausgefordert, sondern auch unser Verständnis ökonomischen Handelns zu radikaler Re­vision aufgerufen, das sich ungeachtet aller seit Jahren offenkundigen Gewalttaten des neuen Za­ren da­von gänzlich ungefährdete pekuniäre Vorteile ausgerechnet hat. (Und im Falle Chi­nas weiterhin in die gleiche Falle ökonomischer Abhängigkeiten geht, die uns vollkommen lähmen werden, wenn Herr Xi, der sich wie sein Moskauer Gesinnungsgenosse gleichfalls neo-imperialen Phantasien hingibt, Taiwan überfallen wird.)

       Weder Putin noch Xi wird man verhaften, um einer über deren destruktives Tun entrüsteten minoritären Weltöffentlichkeit Genugtuung zu verschaffen, das scheint gewiss. Das Recht wird auch in diesen Fällen versagen, so wie die Politik voraussichtlich wieder versagen wird. Und das liegt nicht allein an diesen beiden autokratischen Machthabern, sondern daran, dass bis auf weiteres keine Aussicht auf ein anderes, besseres, effektiveres Recht und auf eine andere, bessere Po­litik besteht, die es verhindern könnte, dass sich größte Macht mit destruktivster Gewalt manifestiert. Das Versagen, um das es hier geht, ist für unabsehbare Zeit auch unseres – und das Versagen allen Denkens und Wissens, das man bis heute auf­­geboten hat, um zukünftig wenigstens die Drohung des Äußersten (wie es Clausewitz in seiner Kriegstheorie genannt hat) abzuwenden. Dabei wird in thinktanks Gedachtes und Gewusstes von zahlreichen Strategie-Experten offeriert, die man nun mit Fragen wie die­sen bestürmt: ob uns ein Rückfall in die imperiale Machtpolitik des 19. Jahrhunderts, nur eine vorübergehende Krise oder eine atomare Apokalypse bevorsteht.

       Hatten wir uns im Zeich­en der bekannten MAD-Doktrin nicht längst daran gewöhnt und waren trotzdem davon aus­­gegangen, in Europa ›herrsche‹ endlich ein nachhaltig pazifizierter, im übrigen höchst profitabler Zustand, wie es ja auch die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU quasi amtlich bestätigt zu haben schien? Möchte man nicht um nahezu jeden Preis an eben diesem Zustand festhalten und weigert sich deshalb (bislang[4]), ein konsequentes Kohle-, Öl- und Gas-Embargo gegen Russland zu verhängen, das allein die dortige Rüstungsmaschinerie nachhaltig beschädigen könnte?

       Aktuellen Berechnungen zufolge würde das BIP selbst im worst case völligen Ausfalls russischer Energielieferungen nur um ca. 3% schrumpfen.[5] Um den schlimmsten denkbaren Fall dieses Krieges handelt es sich gewiss nicht. Doch für die Industrie und die von ihr offenbar eingeschüchterte Politik sind solche Prozente jedenfalls deutlich zu viel, als dass sie ernsthaft in Erwägung ziehen würde, den laufenden, immer wieder als äußerst »schrecklich« bezeichneten Krieg auf diese ver­gleichsweise harmlose Weise nachhaltig zu schwächen.

       In dieser Perspektive kann allseits ventilierte Betroffenheit über die Zahl jeden Tag weiter anfallender Opfer leicht als außerordentlich verlogen erscheinen. Ohnehin über­wiegt offenbar die Sorge angesichts der eigenen Schwäche für den Fall, dass man ernsthaft selbst angegriffen werden sollte. Man glaubt noch immer, bislang sei das ›nicht wirklich‹ der Fall und es reiche vollkommen aus, Europa bis auf weiteres durch die Ukrainer verteidigen zu lassen. Dabei überlässt man es großzügig Herrn Putin, ob er sich überhaupt damit begnügen möchte, sie – wie und wann auch immer – zu besiegen bzw. zu vernichten, ganz abgesehen davon, ob er im Namen der mystifizierten Rus und der mit dem tschekistischen FSB quasi fusionierten orthodoxen Kirche viel weiter gehende Pläne verfolgt, nämlich Russland wieder zu vermeintlich alter und würdiger, auf jeden Fall aber blutigster Größe zu verhelfen.

       Verblüfft lässt man sich im angesichts dieses Anachronismus im Westen die verbleibenden militärischen Optionen nun ausgerechnet von Inspekteuren erklären, die nach ihrem eigenen Eingeständnis in den letzten Jahrzehnten ohne nennenswerten Widerstand eine zum »bewaffneten Trachtenverein« (General a. D. H.-L. Domröse) verharmloste Armee an­ge­führt haben. In ihrer gleichsam karnevalisierten Verfassung diente sie offenbar nur dem einen Zweck noch, nach vorheriger Wühlarbeit von Hunderten von Lobbyisten, die in den zu­ständigen Ministerien ungeniert ein- und ausgehen konnten, Milliarden von Steuermitteln für eine Industrie abzuwerfen, die anscheinend für kein technisch­es Versagen geradestehen musste. Ge­wehre, Schützenpanzer und Korvetten durfte man mehr oder weniger funktionsunfähig lie­fern und trotzdem kassieren, zumal vertraglich dank eben dieser Arbeit keine Regressansprüche zu befürchten waren. 50 Milliarden pro Jahr wurden ausgegeben, ohne dass dadurch auch nur eine einzige Brigade (ein paar tausend Mann) voll einsatzfähig geworden wäre, die sich ihre fehlenden Ersatzteile nicht bei anderen Einheiten der Truppe zu­sammen­klauben müsste, um diese infolgedessen ihrerseits nahezu auf Schrottwert zu reduzieren. Die von derartiger unfreiwilliger Selbstpazifizierung zuvor wenig bis nichts ahnende, nun teils belustigte, teils ungläubige, teils entrüstete Öffentlichkeit zieht daraus offenbar ganz überwiegend nur einen Schluss: effektive Aufrüstung, so schnell und massiv wie nur möglich! Stehenden, fast enthusiastischen Beifall erntete für die entsprechende Ankündigung der amtierende Bun­deskanzler im Bundestag.

       So droht man in überwunden geglaubtes machtstaatliches Denken zurückzufallen – wo uns der Direktor der Moskauer Denkfabrik Russian International Affairs Council, Andrei Kortunow, denn auch genüsslich willkommen heißt – scheinbar nach der Devise: von jetzt an werdet ihr sein wie wir; mit dem Tun unseres leitenden Verbrechers im Kreml steht ihr direkt auf einer Stufe, denn allseits wird die gleiche, ganz »normale«, Staaten und Imperien einzig angemessene Macht­politik betrieben. Fragt sich nur noch, welche Raketen, Bomben und Panzer man braucht, wenn Abschreckung versagen sollte. Selbst die ZEIT tut sich, offenbar an Nachwuchsleser gewandt, entsprechend hervor – dem Anschein nach, ohne fatalen Niveauverlust zu fürchten. »Ist der Leopard 2 der perfekte Panzer für Deutschland?« fragt man im Stile einer Hochglanzbroschüre für Waffennarren, vorausgesetzt, beeilt man sich hinzuzufügen, er wird im Gefecht flankiert von Grenadieren, die »den Feind aufstöbern und erledigen, bevor er aus seinem Hinterhalt den Panzer erledigt«…[6] Alle sind aufgefordert, mitzudenken und womöglich bessere Vorschläge zu unterbreiten. Wir kennen keine Parteien mehr, wir kennen nur noch Mitdenkende…

       Dem entsprechend vollzieht sich vor unseren Augen die endgültige Desavouierung der Friedensbewegung. Mit wehenden Fahnen läuft man zu umfassender Remilitarisierung über – als ob uns einige F 35-Stealth-Kampf­flug­zeuge, Luftabwehrraketen und reaktivierte Bunker im nächsten Krieg, den man bereits kommen sieht, retten könnten. Wovor, fragen die wenigsten. Würden uns nicht einige gezielte Angriffe auf die elektronische Infrastruktur unseres Landes und Europas auf quasi stein- oder eisenzeitliche Lebensumstände zurückwerfen, wie sie jetzt auch die letzten Überlebenden verwüsteter ostukrainischer Städte und Dörfer ertragen müssen? Gälte es nicht, jedem kommenden Krieg vor­zubeugen, statt sich Illusionen seiner Führbarkeit hinzugeben, die es ver­meintlich gestatten würde, ›danach‹ sein altes Leben fortzusetzen – opportunistisches, in die alten Fehler sogleich zurückfallendes Wirtschaften in enger Verbindung mit neuen Auto­kraten inclusive?

       Es ist nicht die Zeit für Fragen, sondern für Antworten, so scheint es. Und diese schließen es offenbar zunehmend aus, dass wir auch selbst mit ins Spiel kommen. Insofern kündigen sich geradezu anti-philosophische Zeiten an – wenn man ›Philosophie‹ wenigstens so versteht, dass es sich um ein fragendes Denken handelt, bei dem man selbst rückhaltlos mit auf dem Spiel steht, wie man unter anderem bei Maurice Merleau-Ponty ahnen konnte.[7] Doch das kommt gar nicht in Frage, wenn man sich wie jetzt vom ›Feind‹ eindeutig vorgeben lässt, was an der Zeit ist: die Aufrüstung abschreckenden Potenzials nämlich, dessen reale Einsetzbarkeit man allerdings stets mit im Blick hat.

       Man darf gespannt sein, ob und wie weitgehend sich auch Philosophen in dieser Lage vor den Karren ebenfalls alt-neuer Abschreckungspolitik spannen lassen, um auf diese Weise die Freiheit ihres eigenen, fragenden Denkens zu vergessen – wie zu André Glucksmanns Zeiten, als dessen Philosophie der Abschreckung (La Force du vertige 1983[8]) ganz auf der Höhe der Zeit zu sein schien. Bevor sich dergleichen wiederholt, lohnt es sich möglicherweise, sich an die Bedenken eines Nicht-Philosophen wie Heinrich Böll zu erinnern, der in Glucksmanns Buch gerade die Philosophie vermisste – jedenfalls eine Philosophie, die nicht nur nach »mehr, immer mehr Raketen« verlangt.[9] Und es lohnt sich, sich daran zu er­innern, dass der Einspruch des Literaturnobelpreisträgers im Geist einer Trauer erfolgte, die er, als »Fähigkeit«, ausgerech­net bei einem Russen, nämlich in Wassili Grossmans Roman Leben und Schicksal, erkannte.[10]

       Sollten fragendes Denken und Trauer etwa eng­stens zusammengehören? Wird Denken – zumal solches, das es mit geschichtlichen Ereignissen zu tun bekommt, die Andere mit Verletzung, Verwundung und Vernichtung ›bezahlen‹ müssen – erst durch und in Trauer zu einem radikal fragenden? Kann man im Ernst von denkender Trauer sprechen?[11] 

       Auch Glucksmann handelte von Trauer[12], jedoch nur en passant unter dem in diesem Kontext üblichen Hin­weis auf die Mitscherlichs und auf deren bekannte, längst zum Stereotyp heruntergekommene Rede von spezifisch deutscher »Unfähig­keit zu trauern« (nach Hitler wohlgemerkt). Ob sich dagegen wirklich eine Fähigkeit zu trauern aufbieten lässt (so ist Bölls nach seinem Tod herausgegebene Sammlung von Schriften und Reden der Jahre 1983 bis 1985 betitelt), mag man bezweifeln. Ist Trauer nicht zu all­er­erst ein Widerfahrnis, pathos, Leiden, und gerade nichts, wozu man ohne weiteres ›fähig‹ wäre?

       Wie dem aber auch sei: in diesem Geist erinnert Böll unter Hinweis auf die einschlägige historische Forschung Christian Streits auch an die Millionen vor allem durch Hunger und Krankheiten in Lagern der Nazis umgekommener sowjetischer Kriegsgefangener (FT, 149, 218). Dass sie wesentlich zur Niederlage des rassistischen »Dritten Reiches« beigetragen haben, hat ihnen kaum jemand gedankt; im Übrigen auch in Stalins Sowjetunion vielfach nicht, wohin wenigstens ein Drittel von ihnen zurückkehren konnte. Diejenigen, die heute noch leben, müssen nun zusehen, wie der »Große vaterländische Krieg« gegen den Hitlerismus mit ei­nem genozidalen, das historische Existenzrecht einer ganzen Nation explizit in Abrede stellenden Verbrechen auf eine Stufe gestellt wird.

       Offenbar mit durchschlagendem Erfolg hat man der russischen Bevölkerung weisgemacht, erneut müsse es jetzt darum gehen, Na­zis bzw. Faschisten zu »liquidieren«[13], nachdem man die Bürger praktisch von allen anderen Informationsquellen, die sie eines Besseren belehren könnten, abgeschnitten hat – was doch beweist, dass man nicht einmal an die Kraft der eigenen Lügen geglaubt hat, die unter Bedingungen freier Meinungsbildung zusammenbrechen müssten. In beiden Fällen soll es sich um dasselbe gehandelt haben: um eine unumgängliche »Entnazifizierung«, wie es jetzt auch der Oberst a. D. Zhou Bo, seines Zeichens Senior Fellow des Zentrums für internationale Sicherheit und Strategie der Tsinghua-Universität und Experte des China-Forums, schamlos nachbetet[14] – so als drohte nicht dieser blanke Opportunismus, der das Verbrechen des Angriffskrieges aus durchsichtigsten Gründen nicht beim Namen nennt, Chinas Re­putation zu ruinieren. Auch in diesem Fall sollten die Wirtschaftsleute, die mit einem sich derart präsentierenden Staat weiterhin Geschäfte machen wollen, rechtzeitig gewarnt sein…

       So geht die damalige Niederwerfung der deutschen Wehrmacht durch die Soldaten der Roten Armee wenn nicht als solche in der Erinnerung verloren, so doch gänzlich in einer Politik der Lüge unter, die sich alles zu eigen macht, wofür sie gestorben sind, Verletzungen, Verwundungen und Verstüm­melungen davongetragen haben. Wie der Ukraine-Krieg jetzt von russischer Seite zu einer gar nicht so speziellen, im Grunde nur alte Untaten variierenden »Spezialoperation« umgelogen wird, droht alles in Vergessenheit fal­len zu lassen, was uns ein besseres Russland von Anna Politkovskaja und Lev Kopelew über Andrej Sacharov bis hin zu Wassili Grossmann lehren konnte – nicht zuletzt das »Mitleid mit dem Feind« auf allen Seiten, von dem bei Böll die Rede ist (FT, 217), oder das, was der tschechische Phänomenologe, Dissident und Mentor von Václav Havel, Jan Patočka, in der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg die »Solidarität der Erschütterten« genannt hat[15] – in meinem Verständnis ebenfalls im Geist ei­ner Trauer, die auch bei Philosophen wie Jacques Derrida und Paul Ri­cœur mit Blick auf Patočka anklingt[16], ohne uns allerdings die Frage zu ersparen, ob es sich hierbei bloß um ein Ne­benthema handelt, das in einer »Philosophie der Gefühle« seinen beschränkten Platz findet, oder ob Philosophie als fragendes Denken vollkommen zu verküm­mern droht, wo es an die­sem Geist fehlt.

       Ist es wirklich abwegig, zu fragen, ob eine Philosophie, die von Plotin über Thomas von Aquin und Meister Eckhart bis hin zu Hegel dem verlorenen Einen, dem Guten oder dem An-und-für-sich-Seienden auf der Spur war, von Abschiedlichkeit und Trauer gezeichnet ist? Fragt sich nur in bis heute ungeklärter Weise, wie dies zu verstehen ist[17], besteht doch Grund daran zu zweifeln, ob die Philosophie bis hin zu Hegel wirklich Trauer um den Anderen als solchen gekannt hat. Wenn sie schon zu dessen Alterität kein rechtes Verhältnis hatte, wie Marcel Hénaff ihr unter Berufung auf Levinas vorwerfen konnte[18], wie sollte sie dann die geringste Ahnung von dieser Trauer gehabt haben? Stimmt es aber wirklich, dass Philosophen für Begriffe wie Abschied und Trauer – abgesehen vielleicht von ihrer metaphysischen Melancholie – so gut wie gar kein Verständnis aufgebracht haben, wie es in neuerer Literatur dazu zu le­sen steht?[19] Und beginnt das erst in der Gegenwart anders zu werden?

       Zweifellos: en vogue ist eine Literatur, die sich an Themen wie Vergänglichkeit, Melancholie, Nostalgie und Abschied zwiespältig erfreut.[20] Alles ist so schön und so kurz hier, weil offenbar befristet und endlich, heißt es[21], so dass es nicht immer so weiter gehen kann. Was Walter Benjamin in seinen Zentralpark-Aphorismen für den Inbegriff der Katastrophe hielt[22], scheint Autor:innen in einem weitgehend angenehmen, komfortablen Leben weitgehend auszureichen, wobei ihnen jene Themen die nötige Würze verschaffen, sollte es doch zu langweilig zugehen. So genießt man das Leiden am Vergehen der Zeit nicht viel anders als Johann W. Goethe, der dem schönen Augenblick nachrief, er möge doch bleiben…

       Dabei vergeht die Zeit gar nicht. Unsere Zeit vergeht, die uns gegebene und verbleiben­de Zeit vergeht. Wir vergehen, unser Leben vergeht – als vorübergehendes und im Vorübergehen – vor allem an Anderen, mit denen wir Zeit gemeinsam zu teilen versäumen. So heißt es in Horst Krügers Das zerbrochene Haus in für das deutsche Familienleben der Nachkriegszeit symptomatischer Weise: »Wir kannten uns nicht – wie soll sich Familie kennen? Familie ist Kälte, ist Fremdheit, Eis, niemand kann zu dem anderen.« »Es muß eine Erlösung sein, aus solchen Gefängnissen wegzusterben.« Und in der Erinnerung an die Schwester schreibt er: erst »im Tod sind wir seltsam vereint«.[23] So vergeht nicht einfach die Zeit, wie es noch Karl H. Bohrer in seiner Theorie der Trauer glauben macht, die nur beschreibt, wie er sich in jedem Augenblick von sich selbst trennen muss, da dieser bereits in seinem Eintreten instantan ›vorbei‹ zu sein scheint. Vielmehr sind wir es, die sich ihr Verge­hen in verfehlter Gegenwart zurechnen müssen.

       Verfehlt wird sie nicht allein als verschwendete – man denke an Paul Feyerabends au­to­biografisches Buch Killing Time (dt. Zeitverschwendung) oder an Eric Burdons Refrain When I think of all the good time that’s been wasted having good times –, sei es auch in einem von Böll als »luxuriös-westeuro­pä­isch« abgetanen Philosophieren, das wie bei Glucks­­­­mann die Frage aufwirft, ob der Mensch wirklich »vom Leben allein lebt«. Böll kam das als Variation des Spruchs vor, der Mensch lebe nicht vom Brot allein. »Soll ich das dem Verhungernden zurufen, selbst gerade gesättigt vom Frühstückstisch aufgestanden?« (FT, 157)

       Verfehlt wird gemeinsam und doppelsinnig zu teilende Zeit auch als gewaltsam deformierte[24], sei es durch schiere Ignoranz und Gleichgültigkeit, sei es durch in Kauf genomme­nes Verhungernlassen oder brutale Unterdrückung. Vor diesem weiten und düsteren Hin­ter­grund unserer »Endlichkeit, Sterblichkeit, Vergänglichkeit« sollten wir »einsehen, was Trau­­er ist«, schreibt Böll (FT, 159). Einsehen sollten wir auch, was sie gewissermaßen ›leisten‹ kann, wenn sie nicht bloß resigniert, sondern als politisierte aufbegehrt gegen die Untaten jener, die die Lebenszeit Anderer ungerührt verschwenden, vergiften und vernichten.

       Wer nicht trauert oder Trauer nur so bald wie möglich überwinden will, um zu einem normalisierten, trauerlosen, auch wehrhaften Leben wieder zurückzukehren, wie es nicht nur von psychoanalytischer Seite allzu lange nahegelegt wurde, wird niemals in einem fra­genden Denken er­messen können, was dabei nicht nur für einen selbst, sondern auch und vor allem für Andere auf dem Spiel steht durch den keineswegs natürlichen bzw. unvermeidlichen, sondern mut­willig herbeigeführten Verlust von Angehörigen, Nachbarn, Mitbürgern und Fremden sowie von kulturellen und politischen Lebensgrundlagen bis hin zur genozidalen Auslösch­ung, deren Vorgeschichte auf uns zurückzufallen droht.

       So sehr man die Phrase »Nie wieder« zitiert und abgenützt hat, so wenig war man offenbar bereit, aus den längst unübersehbaren Zeichen der Rückkehr ›heißen‹ Krieges[25] nach Europa unabdingbare Konsequenzen wie die zu ziehen, kommenden autokratischen Machthabern nicht noch den Weg zu ebnen. Wenn nicht einmal das versucht wird, wenn wir nicht über politische Strukturen verfügen, die es effektiv verhindern können, dass es am Ende ei­nem Ein­zigen möglich wird, straflos der ganzen Welt mit atomarem Feuer zu drohen und sie mit dieser Drohung zu erpressen, ha­ben wir so gut wie nichts erreicht.

       So gesehen leben wir in Zeiten zutiefst deprimierender trauriger, versagender Politik und hilflosen Rechts – aber auch in Zeiten einer beginnenden Politisierung der Trauer selbst, die sich mit diesem Versagen nicht abfinden muss, vorausgesetzt man verkürzt sie nicht auf eine rein private Verlustreaktion, der keinerlei öffentliche Bedeutung zukommen dürfte, allenfalls von Gedenkveranstaltungen abgesehen, bei denen sich staatstragendes Personal in gefasster Form gewisse Gefühle erlauben darf, von denen das anschließende politische Handeln keine Spur mehr verraten wird: von Trauer nicht und infolgedessen auch von einem Denken nicht, das vielleicht nur durch sie zu radikaler Selbstbefragung veranlasst wird, die sich von keiner Gewalt und Macht, von keinem Staat und Imperium in Dienst nehmen lässt; schon gar nicht zum Zweck einer massiven Remilitarisierung, zu der wir uns nun alle aufgefordert sehen.

       Gewiss haben wir nun genug Grund, über die praktischen Möglichkeiten kollektiver Selbstverteidigung gegen verbrecherische Angriffskriege neu nachzudenken. Das soll hier nicht bestritten werden. Aber gerät man in eine solche Zwangslage nicht erst dann, wenn zu­vor jegliche Politik und jegliches Wirtschaften versagt haben? Und liegt das nicht daran, dass man nicht von Anfang an und konsequent der Gefahr zunehmender Ermächtigung einiger weniger entgegengetreten ist, die schließlich alles zu zerstören drohen?

       Wie gesagt: wenn bislang nicht einmal das verlässlich zu verhindern war, haben wir im Grunde nichts erreicht. Rauchende Trümmer, Massengräber und Asche stellen uns allen ein fatales Zeugnis aus. Und in unserer politischen Gegenwart dürfte sich wohl niemand mehr mit der Aussicht auf eine Vernunft der Geschichte darüber hinwegtrösten wollen, der Hegel einst zuge­traut hat, sich aus jedem Desaster erneut zu erheben. Auch die Geschichte dieses Denkens liegt längst in Scherben. Wer das bedauert, sollte in Betracht ziehen, ob nicht allein wirkliche Trauer aus dieser fatalen Lage einen Ausweg weisen könnte. Von dieser Trauer verrät das überlieferte machtstaatliche und imperiale Denken jedenfalls keine Spur. Nicht zuletzt deshalb sollte man sich auch unter Notwehrbedingungen nicht dazu verführen lassen, ihm auf dem Weg fortschreitender Militarisierung immer ähnlicher zu werden. Wie die aktuelle russische Machtrhetorik beweist, hat es abgesehen von einem nationalisierten Totenkult nur eine fatale Trauerlosigkeit anzubieten: angesichts fremder Opfer, die es kostet, aber auch angesichts einer weit zurückreichenden Geschichte des eigenen Versagens, die es mit angemaßter Souveränität vergeblich zu überspielen sucht.[26]


Burkhard Liebsch, Prof. Dr., lehrt Philosophie an der Universität Bochum. Neuere Veröffentlichungen: Einan­der ausgesetzt. Der Andere und das Soziale. 2 Bde. (2018); Europäische Ungastlichkeit und ›identitäre‹ Vorstellungen (2019); Verzeitlichte Welt (22020); Drohung Krieg (2020; mit B. Taureck); Orientierung und Ander(s)heit (i.E.; mit W. Stegmaier); Hg. u. a. von: Der Andere in der Geschichte (22017); Sensibilität der Gegenwart (2018); Emmanuel Levinas: Dialog (2020); Die Grenzen der Einen sind (nicht) die der Anderen (2020).


Dieser Text ist der Teil einer Kooperation mit der Philosophischen Rundschau. Der ausführliche Artikel zum Thema findet sich hier (leider hinter einer Paywall).


[1] Der offene Brief wurde am 24. 2. 2022 auf der Seite der vom Astrophysiker Boris Stern herausgegeben Zeitschrift trv-science.ru veröffentlicht und gleich von 150 Wissenschaftler:innen unterzeichnet. Inzwischen haben ihn schon hunderte Wissenschaftler:innen unterschrieben. Vgl. https://theo­dorkra­­mer.at/aktu­ell/of­f­en­er-brief-russi­scher-wissenschaftler/

[2] W. Hinsch, Die Moral des Krieges, München, Berlin, Zürich 2017; L. May (ed.), The Cambridge Handbook of The Just War, Cam­bridge 2018; M. Hampe (Gasthrsg.), »Über den Krieg. Onto­logie, Moral und Psycho­logie.« Themenschwer­­­punkt der Allg. Zeitschrift f. Philosophie, Heft Nr. 2 (2018).

[3] T. Snyder, Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, London 2010.

[4] D.h. bis Ende April 2022.

[5] Vgl. die MONITOR-Sendung vom 21. April 2022.

[6] Das liest man unter der Rubrik »Entdecken« und der Überschrift »Welchen Panzer braucht Deutschland« aus der Feder von M. Machowecz in der ZEIT vom 21. 4. 2022, S. 60.

[7] Vgl. G. Marcel, Der Mensch als Problem, Frankfurt/M. 21957, 21;M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, 137–146, 159 ff., 170 f.

[8] A. Glucksmann, Philosophie der Abschreckung [1983], Frankfurt/M., Berlin 1986.

[9] H. Böll, »Ein Erbauungsbuch für Abschreckungschristen. Zu André Glucksmanns ›Philosophie der Abschreckung‹«, in: ders., Die Fähigkeit zu trauern. Schriften und Reden 1983–1985, Köln 1986, 141–160, hier: 145 [=FT]. Ob Böll Glucksmann damit gerecht wird, kann hier nicht diskutiert werden.

[10] H. Böll, »Die Fähigkeit zu trauern. Zu Wassilij Grossmans ›Leben und Schicksal‹«, FT, 213–228, hier: 213 ff. Vgl. zu dieser Schrift auch v. Vf., »Der Feind als Mensch und der Mensch als sein eigener, radikaler Feind. Wassili Grossman – Zeuge einer unannehmbaren Gemeinschaft«, in: Renaissan­ce des Menschen. Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, Weilerswist 2010, Kap. III.

[11] Vf., Revisionen der Trauer. In philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und äs­the­ti­sch­­en Perspektiven, Wei­­lerswist 2006.

[12] A. Glucksmann, Die Meisterdenker, Frankfurt/M., Berlin 1989, 65.

[13] Offenbar ein in Russland seit Lenins Zeit beliebtes Wort, wie man bei Masha Gessen nach­­lesen kann: Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor, Berlin 22018.

[14] In der bereits zitierten Ausgabe der ZEIT, Seite 6 unter der Überschrift »Gewissensfrage III«.

[15] Auf die sich auch Glucksmann berief; vgl. in der Philosophie der Abschreckung die Seiten 72, 315, 361, sowie J. Patočka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, Berlin 2010, 158 [=KE]; Vf., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg i. Br., München 1999, Kap. III.

[16] Vgl. P. Ricœur, »Hommage an Jan Patočka«, in: KE, 7–20; J. Derrida, »Ketzertum, Geheimnis und Verantwortung: Patočkas Europa«, in: KE, 181–211.

[17] Vgl. P. Ricœur, »Vers la grèce antique. De la nostalgie au deuil«, in: Esprit (2013), nov., 22–41.

[18] Vgl. Vf., Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale. Bd. I/II, Freiburg i. Br., München 2018.

[19] J. Georg, Philosophie des Abschieds. Die Differenz denken, Paderborn 2021, 142.

[20] Vgl. zur Übersicht: Vf., »Trostlose‹ Philosophie – sensibilisiert durch Trauer und Melancholie, Ab­schied und Vergänglichkeit? Zum Respekt vor dem, was Andere leben lässt«, in: Philosophische Rundschau 2 (2022); sowie die Rezension d. Vf. zu B. Cassin, Vergänglichkeit (2021), in: Philosophischer Literaturanzeiger (2022), i. E.

[21] I. Schmidt, Über die Vergänglichkeit. Eine Philosophie des Abschieds, Hamburg 2019, 11.

[22] W. Benjamin, Illuminationen, Frankfurt/M. 21980, 246.

[23] H. Krüger, Das zerbrochene Haus, Frankfurt/M. 1991, 61, 75.

[24] Vf., Zeit-Gewalt und Gewalt-Zeit. Dimensionen verfehlter Gegenwart in phänomenologischen, po­li­tischen und historischen Perspektiven, Zug 2017.

[25] Eine bedenkliche Redensart, die nur eines beweist: wie sehr man die nach 1945 zu keiner Zeit beseitigte, permanente Bedrohung durch Krieg vergessen hat (vgl. Vf., B. H.  F. Taureck, Drohung Krieg. Sechs philosophische Dia­loge zur Gewalt der Gegenwart, Wien, Berlin 2020) – von aktiven, wenn auch indirekten Beteiligungen ganz abgesehen, die wie im Fall der Nutzung der militärischen Basis Ramstein ein offenes Geheimnis sind.

[26] Über ein entsprechendes Staatsverständnis waren wir längst hinaus. Aber auch das droht in Vergessenheit zu fallen; vgl. Vf., »Was lehrt der russische Angriffskrieg über uns selbst? Zum drohenden Rückfall in ein fatales Staatsverständnis – anlässlich des jüngsten Desasters der Macht (Teil 1/2)«, in: Telepolis (26./27. 4. 2022); www.hei­­se.de/tp/features/Was-lehrt-der-russische-Angriffskrieg-ueber-uns-selbst-6603528.html /6603538.html

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