Nicht werten? Demokratieerziehung in Zeiten des Krieges

von Johannes Drerup (Dortmund)


In der Moscow Times[1] wurde im September letzten Jahres von einer eigentümlichen Begebenheit berichtet: Putin höchst selbst wollte die Schülerschaft in einer Schule in Vladivostok über ein militärgeschichtliches Ereignis aus dem 18 Jhdt. belehren und wurde von einem Schüler mit Bezug auf die Datierung korrigiert. Daraufhin entbrannte prompt eine Debatte darüber, ob der Schüler nicht angesichts einer solchen Dreistigkeit entlassen werden müsste. Putin aber habe sich – so die Legende bzw. die Inszenierung – daraufhin recht gönnerhaft gezeigt und gegen eine Entlassung ausgesprochen, da man doch froh sein könne, wenn sich junge Menschen gut mit der Geschichte des Vaterlandes auskennen. Angesichts dessen, dass Geschichtsunterricht und auch Geschichtswissenschaft ideologisch in Russland schon länger auf Linie gebracht werden, könnte man diese Episode auch als positives Exempel für die Grenzen der Indoktrination im Fachunterricht werten, auf die der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth hingewiesen hat (Tenorth 1992; 2008). Kinder und Jugendliche lernen eben auch in autoritären Systemen in der Schule nicht nur das, was sie lernen sollen. Die Erfahrungswelt der Schüler_innen ist nicht vollständig pädagogisch determinierbar und auch in einem Geschichtsunterricht, der auf eine triumphalistische Version von Nationalgeschichte verpflichtet wurde, kann man nicht ohne weiteres alle fachspezifischen Rationalitäts- und Methodenstandards über Bord werfen. Dies gilt zumindest dann, wenn man die pädagogische Erwartung hegt, dass hier überhaupt noch irgendetwas halbwegs Sinnvolles gelernt werden soll und `Geschichte´ nicht vollständig zu einer Art nationalistischem Fantasy-Roman regredieren soll. Anfügen kann man gleichwohl, dass die Schüler_innen angesichts der Reaktionen auf die Korrektur dann auch gleich mitlernen konnten, was es bedeutet, in einem autoritären Regime Kritik zu üben. Man bleibt auf Gedeih und Verderb von der Gnade des volkspädagogisch ambitionierten Autokraten abhängig, will man nicht entlassen oder gleich ins Gefängnis geschickt werden.

Während nun im Angesicht des Krieges in der Ukraine die Rufe nach mehr demokratischer Bildung laut werden, sollte man nicht vergessen, dass in Kriegszeiten Bildungsinstitutionen und -akteure auch in liberalen Demokratien häufig eine hochgradig ambivalente und oftmals alles andere als unschuldige Rolle gespielt haben. Es gibt zahlreiche historische Beispiele, die darauf hinweisen, dass sich in Kriegszeiten auch hier Bildungsadministrationen, Schulen und Pädagog_innen einem zunehmenden politischen Druck ausgesetzt sahen (oder diesen ggf. auch selbst ausübten), dass fragwürdige Stereotype des Gegners in Schulbüchern vermittelt wurden, und dass es oftmals als wichtiger angesehen wurde, dass Schüler patriotische Gefühle entwickeln, als kritisch über die Frage zu reflektieren, ob ein bzw. der Krieg tatsächlich gerechtfertigt werden kann (vgl. die grundlegenden Analysen zur Demokratieerziehung in Zeiten des Krieges: Ben-Porath 2006; zum Unterricht über kontroverse Themen während des Kalten Krieges in den USA: Zimmermann & Robertson 2017; sowie zu Patriotismus und demokratischer Bildung nach 9/11 in den USA von: Curren 2018). So wird selbst in liberalen Demokratien „Bildung“ nur allzu oft, so die an der University of Pennsylvania lehrende Erziehungsphilosophin Sigal Ben-Porath in einer einschlägigen Studie, „zum Krieg mit anderen Mitteln“ (Ben-Porath 2006, 34).

Wie aber soll man mit dem Thema Krieg im Unterricht in liberalen Demokratien umgehen? Im Spiegel[2] hat kürzlich eine Lehrerin in einem Interview darauf hingewiesen, dass es nicht Aufgabe von Lehrkräften sei, im Umgang mit dem Thema des Kriegs in der Ukraine im Unterricht zu „werten“. Es gelte vielmehr zu „moderieren“, was aus dem Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsenses abgeleitet werden könne. Wenn etwa ein Schüler äußere, dass man Putin „doch eigentlich töten“ müsse, sei es sinnvoll zunächst einmal Distanz zum Thema zu gewinnen, etwa indem geklärt wird, woher eine entsprechende Rhetorik kommt und von wem sie zu welchem Zweck genutzt wird. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden: Den Primat des Kognitiven hochzuhalten und Distanz zu unmittelbaren emotionalen Reaktionen zu entwickeln sind Leitorientierungen und Aufgaben demokratischer Grundbildung an öffentlichen Schulen. Insbesondere in Kriegszeiten ist die Gefahr einer blinden Gefolgschaft gegenüber Autoritäten und einer ungeprüften Übernahme der von ihnen politisch genutzten undifferenzierten Freund-Feind-Schemata ungemein groß. Diese gilt es im Klassenraum kritisch zu hinterfragen, statt sie zu reproduzieren. Und angesichts dessen, dass in Zeiten des Krieges Toleranz für ideologisch abweichende Meinungen in der Regel eher abnimmt und das Spektrum der legitimerweise als kontrovers geltenden Sichtweisen in der Öffentlichkeit und auch im Unterricht enger gezogen wird als sonst, ist es umso wichtiger für Lehrkräfte, sich im Umgang mit solchen heiklen Themen in Zurückhaltung zu üben. Dies gilt gerade auch dann, wenn es sich um persönliche Meinungen und Ideen der Lehrer_innen handelt.

Heißt dies nun aber tatsächlich, dass Lehrkräfte im Umgang mit dem Thema Krieg in der Ukraine nicht werten sollten?[3] Nein, das heißt es nicht. Wir sind momentan Zeugen, wie ein Land völkerrechtswidrig überfallen wird, wie unschuldige Menschen getötet werden, um die imperialen und kolonialen Ambitionen eines Autokraten zu befriedigen. Wir sehen, wie hunderttausende Flüchtlinge sich aus der Ukraine auf den Weg machen müssen, wie ganz Europa in Angst und Schrecken versetzt wird, wie mit einem Atomkrieg, d.h. mit der wahrscheinlichen Auslöschung eines Großteils der Menschheit gedroht wird. Wer hier aus Angst davor, im Unterricht zu indoktrinieren, nicht wertet, um stattdessen die Flucht in eine relativistische und pseudoprogressive Neutralität anzutreten, dem muss man gravierende politische und pädagogische Orientierungsdefizite attestieren bzw. man muss sich fragen: Wenn man hier keinen Anlass für eine Wertung sieht, wann dann? Soll in einer pädagogisch ‚begleiteten‘ Debatte hierüber tatsächlich nur `moderiert´ und am Ende offen gelassen werden, wie dieser Krieg zu bewerten ist? Etwa nach dem Muster: `Manche Leute denken, dass dies ein ungerechter Krieg ist, der auf Lügen und illegitimen kolonialen Ambitionen basiert, andere dagegen halten ihn für eine legitime Pazifizierungs-, Entnazifizierungs-, Entstaatlichungsaktion…. Du hast auf Russia Today gesehen, dass die ukrainische Bevölkerung von Nazis terrorisiert wird und daher befreit werden muss? Ja, so kann man es ggf. sehen, aber andere Leute sehen das aber auch anders. Vielleicht sind es gar nicht wirklich Nazis….Da musst Du Dir Deine eigene Meinung bilden´. Solche hier bewusst überspitzt dargestellten Arten der latent antipädagogisch motivierten `Moderation´, `Begleitung´ oder `Einordnung´ – und dem wird die Lehrerin im `Spiegel´ auch sicherlich zustimmen – muten bei aller legitimen Skepsis gegenüber politischen Positionierungen von Lehrkräften dann doch eher absurd an. Unter einem professionellen pädagogischen Umgang mit kontroversen politischen Themen wird man sie jedenfalls nicht verbuchen wollen.

Werturteile im Rahmen der Diskussion politisch relevanter Themen im Unterricht müssen sich orientieren an grundlegenden Werten liberaler Demokratien (z.B. Grund- und Menschenrechte; personale und politische Autonomie; politisches Kriterium) und sie müssen sachlich angemessenen, d.h. bestmöglich empirisch fundiert und wissenschaftlich begründet sein (wissenschaftsbezogenes Kriterium; Drerup 2021). Als legitimer Weise kontrovers kann eine Problemsicht nur dann gelten, wenn sich auf Basis dieser beiden Kriterien – einem politischen und einem wissenschaftsbezogenen Kriterium – hierauf keine hinreichend klare Antwort ableiten lässt und folglich eine Pluralität von mehr oder minder gleichermaßen legitimen und angemessenen Perspektiven zulässig ist. Hier wird es selbstverständlich oftmals Grenzfälle und Grauzonen geben, was aber selbstverständlich nicht bedeutet, dass es nicht auch klare Fälle gibt. Jedwede Form von Wertung und jedwede Form begründeter Einschränkung von legitimer Kontroversität daher mit Indoktrination und Überwältigung zu identifizieren, ist nicht nur eine der gängigsten Fehlrezeptionen des Beutelsbacher Konsenses, es läuft auch auf eine in theoretischer und praktischer Hinsicht hochgradig fragwürdige pädagogische und politische Sichtweise hinaus, die insbesondere in Deutschland verbreitet zu sein scheint. Ja, vielleicht muss man angesichts der fest etablierten `Wacht am Nein´ (Odo Marquard) und der Unfähigkeit zu einem reflektierten und begründeten `Ja´ sogar von einem deutschen Syndrom sprechen. Man scheint sich hierzulande z.B. in einigen politik- und bildungsphilosophischen Debatten so etwas wie eine kritische Affirmation von liberal demokratischen Grundwerten bis heute kaum vorstellen zu können, da man zu sehr darauf fokussiert ist, die Infragestellung `politischer Ordnungen‘, als genuin politischen Akt zu nobilitieren und dabei pädagogisch angeleitete Kritik und Transformation solcher Ordnungen, egal in welcher Form und mit welcher Begründung, als oberster Gebot politischer Bildung zu fetischisieren. Putins verbrecherischer Volkspädagogik und den propagandistisch konstruierten Parallelwelten von Russia Today, d.h. wirklichen Indoktrinationsversuchen[4], die ja auf nichts anderes abzielen als die Zerstörung liberal demokratischer Ordnungen, hat man daher nur wenig entgegenzusetzen, vielleicht auch, weil man sich immer noch nicht vorstellen kann, dass nicht nur der `Westen‘ imperialistische und kolonialistische Projekte verfolgen könnte. Dies überhaupt sagen und auf entsprechende qualitative normative Differenzen zwischen Demokratien und Diktaturen hinzuweisen zu müssen, ist beinahe peinlich und zeigt zugleich, welche fragwürdigen Implikationen bestimmte Spielarten einer letztlich hochgradig weltfremden und provinzialistischen, nur dem eigenen Anspruch nach `kritischen´ Theorieformate haben können, die die Welt(en) nicht kennen, über die sie reden und die sie kritisieren.

Es gilt angesichts solcher Tendenzen und tradierter Fehlrezeptionen des Beutelsbacher Konsenses als expansionistisch gewendetem Neutralitätspostulat[5] Lehrkräfte angemessener auf die Diskussion kontroverser politischer Themen vorzubereiten. Dass hier, wie auch generell in Fragen politischer Bildung in der Lehrkräfteausbildung gravierende Defizite zu diagnostizieren sind, ist hinlänglich bekannt und vieles spricht dafür, die Forderung nach demokratischer (Grund-)Bildung zuallererst eben dort – in der Ausbildung von Lehrer_innen – umzusetzen und zwar bevor man sie weitgehend uninformiert in die Klassenräume schickt!

Kurzum: Im Umgang mit kontroversen Themen im Unterricht ist gerade in Kriegszeiten Vorsicht und Zurückhaltung geboten. Es gilt kognitive Distanz zu kultivieren in öffentlichen Debatten über den Krieg, der auch viele kontrovers zu diskutierende Fragen aufwirft, die unterschiedliche plausible und legitime Sichtweisen zulassen, die es pädagogisch in der Diskussion zu klären und einzuordnen gilt. Dies heißt aber nicht, dass Lehrkräfte diesen Krieg nicht auch als das beurteilen und bewerten müssen, was er eben ist: Ein zutiefst illegitimes, unmenschliches und ungerechtes Unternehmen eines politischen Bauernfängers und `lupenreinen´ Diktators, der all das repräsentiert, wogegen Demokratieerziehung und demokratische Bildung in liberalen Demokratien einstehen müssen.


Johannes Drerup ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund und zur Zeit visiting scholar an der University of California, Berkeley.


Literatur

Ben-Porath, S. (2006): Citizenship under Fire. Democratic Education in Times of Conflict. Princeton University Press.

Curren, R. (2018): Patriotism, Populism, and Reactionary Politics since 9.11. In: Sardoc, Mitja (ed): Handbook of Patriotism. Springer, 1-21

Drerup, J. (2018): „Zwei und zwei macht vier.“ Über Indoktrination und Erziehung. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, Heft 1, S. 7-24, 2018.

Drerup, J. (2021): Kontroverse Themen im Unterricht. Reclam

Tenorth, H.-E. (1992): Politisierung des Schulalltags im historischen Vergleich-Grenzen von Indoktrination. In: Pädagogisches Landesinstitut Brandenburg (Hrsg.): Erinnerung für die Zukunft 2. Das DDR-Bildungssystem als Geschichte und Gegenwart, S. 37-48.

Tenorth, H.-E. (2008): Unterwerfung und Beharrungskraft – Schule unter den Bedingungen deutscher Diktaturen. Befunde und Analyseperspektiven. Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaft, 30, 2, S. 275-297.

Zimmermann, J. & Robertson, E. (2017): The Case for Contention. Chicago University Press.


[1] https://www.themoscowtimes.com/2021/09/02/russian-student-schools-putin-on-military-history-a74953 (Zugriff am 3.3.22)

[2] https://www.spiegel.de/panorama/bildung/schule-eine-lehrerin-ueber-unterricht-zum-ukraine-krieg-a-8ae78271-55e0-4837-ba4c-2b2bfe62fc0c (Zugriff am 3.3.22)

[3] Vorneweg sei klargestellt, dass es kaum möglich ist in einem kurzen Interview auf alle relevanten Feinheiten und Probleme der Kontroverse über Kontroversitätsgebote in der politischen Bildung einzugehen, was auch Missverständnissen Tür und Tor öffnet. Die Überlegungen der Lehrer_in im Spiegelinterview sind daher als einer der Anlässe meiner Argumentation zu verstehen, die auf Probleme im Umgang mit Kontroversen im Unterricht verweisen. Damit soll jedoch nicht unterstellt werden, dass die dargestellten Probleme einer dem Anspruch nach wertungsabstinenten Demokratieerziehung die gesamte Position der Lehrerin disqualifizieren, da sich diese zur Gänze aus dem Interview nicht erschließen lässt. Es geht also im Folgenden um ein generelles demokratiepädagogisches Problem, nicht um die Position einer spezifischen Lehrkraft.

[4] Zum Begriff der Indoktrination, der häufig in politisch motivierter Absicht gebraucht, aber nur selten mit der gebotenen Präzision geklärt wird: Drerup (2018).

[5] Entsprechende Forderungen nach Neutralität wurden in den letzten Jahren vermehrt von rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien genutzt, um die eigenen Positionen gegen Kritik zu immunisieren, auch durch Einschüchterung von Lehrkräften.