Siegen – verlieren – verhandeln? Kritische Anmerkungen zu Habermas‘ vermeintlich friedensethischen Denkanstößen

Von Johannes Frühbauer (KSH München)


Ob das Ende eines Krieges bereits wirklich einen Weg zum Frieden darstellt, dürfte umstritten sein und bleiben. Eine notwendige Voraussetzung für Frieden stellt das Beenden von Kriegs- und militärischen Gewalthandlungen allemal dar. Kein Wunder also, dass mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine immer wieder Forderungen laut werden, die Kriegshandlungen einzustellen, die Gewalt zu beenden, dem Töten und unnötigen Sterben von Soldat*innen und Zivilist*innen eine Ende zu setzen und alles zu unterlassen, was dies unnötig verlängern würde. Der Philosoph Jürgen Habermas (*1929), als Kind und Jugendlicher zweifelsohne mit dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges konfrontiert, schließt sich in seinem jüngst veröffentlichten Beitrag jenen Stimmen an, die „auf ein öffentliches Nachdenken über den schwierigen Weg zu Verhandlungen drängen.“[i]

Bereits unmittelbar nach Ausbruch des Krieges hatte Habermas sich im April 2022 in diese Richtung geäußert: Wenigstens über einen Waffenstillstand, wenn nicht sogar über das Ende des Krieges solle mit dem „Kriegsverbrecher Putin“, der es verdient hätte – so Habermas mittels einer doppelten Verneinung sprachtaktisch formulierend – vor einem Internationalen Strafgerichtshof zu stehen, verhandelt werden. Zugleich spricht sich Habermas aber zumindest indirekt gegen einen Frieden um jeden Preis aus. Denn „bei aller Skepsis gegen das Mittel kriegerischer Gewalt“ schien ihm – jedenfalls noch im Frühjahr 2022 – der Preis für „ein autoritär ersticktes Leben“ dann doch zu hoch zu sein. Die Forderungen nach einem Ende von Zerstörung und Gewalt sei daher nicht gleichbedeutend mit der Forderung, „eine politische freie Existenz für das bloße Überleben aufzuopfern“. Der seiner Ansicht nach gut begründete Entschluss zu einer Politik der Nichtbeteiligung (Deutschlands? Europas?) dürfe trotz aller Not und Pein der Menschen in der Ukraine nicht aufs Spiel gesetzt werden.[ii] Bei aller gegenwärtiger Habermas‘schen Kritik an Waffenlieferungen an die Ukraine und deren drohender Überbietungsdynamik sowie an dem seiner Ansicht nach „bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung“, in der das Zögern und Reflektieren „der Hälfte der deutschen Bevölkerung“ nicht zu Wort komme, lässt er wenigstens keinen Zweifel daran, dass der russische Angriffskrieg auf die Existenz und Unabhängigkeit eines souveränen Staates mindestens völkerrechtswidrig, wenn nicht sogar kriminell sei.[iii]

Einen Ausgangspunkt für sein Verhandlungsvotum stellt nun der Umstand dar, dass völlig unklar sei, was in diesem Krieg überhaupt (noch) ‚Siegen‘ bedeuten könne. Und wem ist denn ein solches Siegen derzeit zuzutrauen? Ein anderer Ausgangspunkt für die Befürwortung von schnellstmöglichen (Friedens-)Verhandlungen, ist die bedrückende Befürchtung, dass dieser Krieg zwischen Russland und der Ukraine auf unbestimmte Zeit andauern könnte, jedenfalls solange auf beiden Seiten Kampfkraft und Kampfwille erhalten bleiben und die Angst vor dem Verlieren ein Motivator bleibt – denn wie immer die weitere Entwicklung sein wird: Einen Verlierer wird es auf beiden Seiten auf keinen Fall geben dürfen.

Wie von uns allen zu beobachten ist, unterliegt dieser Krieg nahezu täglichen Wandlungen in den Kampfsituationen. Somit sind Prognosen über den möglichen weiteren Verlauf des Krieges mehr als unsicher. Diese Ungewissheit über das Andauern der militärischen Konfrontation wirkt beklemmend und evoziert tagtäglich die Frage, wie dieser Krieg denn möglichst schnell beendet werden könnte, um gefährdete Menschen als Kombattant*innen und Nicht- Kombattant*innen vor dem Tod oder lebensbedrohlichen Verletzungen zu bewahren. In ihren (bereits im Sommer 2022 skizzierten) sechs Szenarien zu einem möglichen Kriegsende zieht die Konflikt- und Friedensforscherin Ines-Jacqueline Werkner, unter anderem auch zwei Sieg-Varianten in Betracht: Zum einen sei es denkbar, dass Putin und somit Russland den Krieg gewinnen könne. Die damals noch größere militärische Asymmetrie zwischen beiden Staaten zugunsten Russlands sprach auf den ersten Blick für dieses Szenario. Ebenso die Anpassung der russischen Kriegsziele an die Gegebenheiten des Kriegsverlaufes, die angesichts der in dieser Stärke und Ausdauer unvermuteten ukrainischen Gegenwehr allenfalls auf regionale Gebietsgewinne – vor allem im Osten der Ukraine – hoffen ließen. Zum anderen sei aber auch ein Sieg der Ukraine aufgrund der vor allem militärische Unterstützung seitens westlicher Staaten nicht ganz ausgeschlossen, wenngleich eher unwahrscheinlich: Ein solcher Sieg hätte territoriale Rückeroberungen bis hin zum status quo ante des Kriegsbeginns vom 23. Februar 2022 zum Inhalt. Auch eine Rückeroberung der Krim, die 2014 von Russland völkerrechtswidrig annektiert wurde, könnte zu den Inhalten eines ukrainischen Siegesverständnisses zählen.[iv] Angesichts der Tatsache von inzwischen insgesamt mehreren Hunderttausend Kriegstoten sowie angesichts der massiven Zerstörungen, die die Ukraine erleiden musste, wird sich kaum jemand konkret ausmalen wollen, was unter diesen Umständen überhaupt noch „Sieg“ oder „siegen“ bedeuten könnte. Allenfalls als rhetorische Ressource zur Motivation und Mobilisierung der Kämpfenden auf beiden Seiten, macht gegenwärtig die Rede vom Sieg überhaupt noch Sinn. So unklar es auf der einen Seite zu sein scheint, was denn überhaupt noch mit „Sieg“ für die jeweilige Seite verbunden sein könnte, so klar scheint es auf der anderen Seite zu sein, dass es am Ende keine Verlierer geben dürfe. Wie anders lässt sich die Formulierung von Habermas verstehen, dass es für beide Seiten möglich sein müsse, das Gesicht zu wahren.[v] Muss dem nicht vehement widersprochen werden? Was in aller Welt könnte Präsident Selenskyj und die Ukraine dazu motivieren, einem Kriegsverbrecher und Menschenverächter wie Putin auch nur die geringste Chance zu bieten, sein Gesicht zu wahren. Im Gegenteil, was immer die Aussicht auf ein postputinistisches Russland bietet, dürfte – nicht nur aus ukrainischer Perspektive – doch jeder „Gesichtswahrung ermöglichenden Friedensdiplomatie“ gegenüber Russland vorzuziehen sein.

Wenn das Ziel von Verhandlungen aber nicht mit einem „Gesicht-wahren-ermöglichen“ verbunden sein muss, was könnte dann realistischer Weise Gegenstand von Verhandlungen sein? Ein erstes Ziel der Verhandlungen liegt auf der Hand und kann nur darin bestehen, alle militärischen Gewalthandlungen umgehend einzustellen. Dies dürfte jeder Kontroverse enthoben sein. Auch Werkner nimmt übrigens als drittes Szenario Verhandlungen in den Blick: Ein Waffenstillstand wäre hierzu die notwendige Voraussetzung, ein erster Schritt gewissermaßen. Allerdings seien die Voraussetzungen für einen Verhandlungsfrieden, der kein Diktatfrieden sein dürfe, enorm hoch; ebenso wie bereits der Weg zu diesem alles andere als einfach wäre. Im Grunde genommen müsste sich aus der konkreten Kriegssituation heraus die Kompromissbereitschaft im Sinne eines Interessenausgleichs ergeben. Diese setze jedoch, wie in der Debatte immer wieder zu vernehmen ist, ein Kräftegleichgewicht voraus.

Abgesehen von einem beidseitigen Abnutzungs- bzw. Erschöpfungskrieg sind Vorstellungen darüber, was tatsächlich zur Bereitschaft und zum Weg zu Verhandlungen führen könnte, doch sehr begrenzt. Im Bereich des Denkbaren, jedoch kaum Vorstellbaren, liegen sicherlich sowohl ein innenpolitischer Druck auf die jeweiligen Regierungen, sich mit dem Gegner an einen Verhandlungstisch zu setzen, als auch internationale Maßnahmen, vor allem in Gestalt massiv und schnell wirkungsvoller Sanktionen – bzw. mit Blick auf die Ukraine ein Aussetzen jedweder internationaler Unterstützung. Verhandlungen mit Russland, so muss allerdings eingeräumt werden, stünden aus der Sicht der Ukraine im Widerspruch zu Intuitionen und Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit – schließlich habe Russland das Völkerrecht gebrochen und erkenne überdies die Ukraine nicht mit ihrem Recht auf territoriale Integrität und politische Autonomie an.[vi] Wie kann je mit einem Gegenüber verhandelt werden, dass die eigene Existenz in Frage stellt und weder Souveränität noch Integrität des eigenen Staates anerkenne? Ein Verhandlungsdialog setzt den Grundsatz „Auf-gleicher-Augenhöhe“ kategorisch als conditio sine qua non voraus.

Kehren wir zurück zu Habermas. Er übt gleichermaßen Kritik an Bellezisten und einstigen Pazifisten, die sich neuerdings für die Unterstützung mit Waffen einsetzen und auf diesem Wege Krieg und Gewalthandeln legitimieren. So sehr seine Differenzierungen zu schätzen sind, wird man dennoch konstatieren müssen, dass es schwer erkennbar bleibt, welche Position er eigentlich bezieht und worauf er hinaus möchte. Auch zeigt er kein politisch umsetzbares Dialogszenario mit einem Drehbuch des Denk- und Machbaren auf, mit dem er sein „Plädoyer für Verhandlungen“ konkretisieren würde. Christian Geyer diagnostiziert mit Blick auf Habermas‘ Vorstellungen „ein aufreizend apolitisches Moment, das der politisch-moralischen Vehemenz seines Tenors eigentümlich“ entgegenlaufe.[vii] Entschuldigend wird man vorbringen können, dass er halt „nur“ Philosoph ist und seine Gedanken ja letztlich moralisch mahnend und ermutigend zugleich sein wollen, er aber eben nicht mit dem Blick des faktenorientierten Politikwissenschaftlers spricht, der mit seinen Überlegungen dem Machbaren näher ist als dem bloß Denkbaren. Ein „Plädoyer zum Verhandeln“ ist schnell in den Raum geworfen. Und kaum jemand wird sich einer Verhandlungsperspektive verschließen wollen, wenn diese auf dem Fundament einer internationalen Rechts- und auch Friedensordnung realisiert werden könnte und beiderseitige Bereitschaft zumindest in Ansätzen erkennbar wäre. Hierzu gibt es derzeit jedoch keinerlei Aussichten. Selbst Habermas räumt ein, dass Putin Entscheidungen getroffen hätte, „die die Aufnahme von aussichtsreichen Verhandlungen fast unmöglich machen“ würden;[viii] doch, so möchte man hinzufügen, nicht nur Entscheidungen, sondern das faktische brutale Kriegshandeln verleiht dem russischen Regime ein menschenverachtendes Antlitz, welches es eigentlich als Verhandlungsgegenüber bis auf Weiteres disqualifiziert. Und noch eines: Wird man Habermas nicht unterstellen müssen, das, wofür er jahrzehntelang in seiner politischen Philosophie eingetreten ist und sich schreibend eingesetzt hat, nämlich politische Werte der Freiheit und der Selbstbestimmung, angesichts eines autoritären Aggressors um des vermeintlich lieben Friedens willen beiseite zu schieben? Ist das nicht, wenn man es drastisch formulieren möchte, eine Art Verrat an, zumindest aber Preisgabe der eigenen politisch-philosophischen Überzeugungen? Wird man nicht die politischen Werte, die uns in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften wichtig sind, in den Gulli kippen müssen, wenn wir nicht willens und bereit dazu sind, diese, wenn es darauf ankommt, unbeirrt, beharrlich und mit allen Mitteln zu verteidigen? Auf welche Prinzipien kann und soll ein Nachkriegseuropa gegründet und weitergebaut werden, an welchen Regeln und Normen soll sich die internationale Völkergemeinschaft in ihrem Handeln ausrichten, wenn ein einzelner Aggressor durch einen Krieg und die Art der Kriegsführung alles aushebeln kann, zur Makulatur werden lässt und möglicher Weise ein für andere Despoten „nachahmenswertes“ Modell etabliert? Habermas ist erkennbar gegen jeglichen Krieg als Form von Politik und er bekennt sich wiederholt dazu, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren dürfe. Ist es die Sorge um eine mögliche Niederlage der Ukraine in Verbindung mit der skeptischen Einschätzung des Faktors Zeit, die Habermas zur weithin aussichtslosen Verhandlungsoption drängt? Der Philosoph vom Starnberger See lässt uns mit einer Art Pseudopazifismus zweifelnd und orientierungslos zurück und stellt sich letztlich auch selbst in Frage. Sein Friedensverständnis scheint ein rein negatives zu sein: Ihm genügt offenbar die Abwesenheit von Gewalt; Frieden als Nicht-Krieg. Ein positives, gehaltvolles Friedensverständnis, angereichert mit den Grundlinien der politischen Philosophie Habermas‘, gar das Leitbild eines gerechten Friedens[ix] scheint in seinen Überlegungen mit ihrer devoten Haltung gegenüber „erträglichen Kompromissen“ in weite Ferne gerückt zu sein. Habermas nun ein altersbedingtes Vergessen der Grundpfeiler seiner eigenen politischen Philosophie zu unterstellen, mag zu weit gehen. Und in den zuweilen schizophren anmutenden Gedankengängen blitzt doch hin und wieder in seinen Formulierungen etwas von dem normativen Denken Habermas‘ auf, das uns vertraut und nicht wenigen auch willkommen, weil normativ richtig, sein dürfte. Doch das gesichtswahrende Verhandeln in aussichtsloser Situation zu fordern, kommt nicht nur wie ein linkes Anbiedern an das russische Regime daher, sondern erscheint geradezu wie ein frommer Wunsch eines bekanntermaßen religiös unmusikalischen Denkers.


[i] Jürgen Habermas, Ein Plädoyer für Verhandlungen, in: Süddeutsche Zeitung v. 15. Februar 2023, 10-11, 10.

[ii] Jürgen Habermas, Krieg und Empörung, in: philosophie Magazin EDITION 2022, Sonderausgabe Nr. 23, 10-17, 16.

[iii] Vgl. Jürgen Habermas, Ein Plädoyer für Verhandlungen, in: Süddeutsche Zeitung v. 15. Februar 2023, 10-11.

[iv] Vgl. Ines-Jacqueline Werkner: Wie kann der Krieg in der Ukraine enden. Sechs Szenarien, in: dies./Lotta Mayer/Madlen Krüger (Hg.), Wege aus dem Krieg in der Ukraine, Szenarien – Chancen – Risiken, Heidelberg 2022, 11-27, 13-17.

[v] Jürgen Habermas, Ein Plädoyer für Verhandlungen, in: Süddeutsche Zeitung v. 15. Februar 2023, 10-11, 11.

[vi] Vgl. Ines-Jacqueline Werkner: Wie kann der Krieg in der Ukraine enden. Sechs Szenarien, in: dies./Lotta Mayer/Madlen Krüger (Hg.), Wege aus dem Krieg in der Ukraine, Szenarien – Chancen – Risiken, Heidelberg 2022, 11-27, 19.

[vii] Christian Geyer, Habermas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 40 v. 16.2.2023, 9.

[viii] Jürgen Habermas, Ein Plädoyer für Verhandlungen, in: Süddeutsche Zeitung v. 15. Februar 2023, 10-11, 11.

[ix] Vgl. Johannes J. Frühbauer, Gerechter Friede – mehr als ein kirchliches Leitbild?, in: Amos International 14 (2020) Heft 3, 25-29.