Antike, Kunst und Literatur. Ein Blick in die Basler Vorlesungen Friedrich Nietzsches.
von Carlotta Santini (Paris)
‚Friedrich Nietzsche und die Philologie‘ gilt seit einigen Jahren als ein echtes Schlagwort in der Nietzsche-Forschung. Viele bemerkenswerte Arbeiten haben sich schon darum bemüht, die Beziehung Nietzsches zur klassischen Philologie, zu ihren Methoden und ihren Perspektiven durch die Bestimmung und Bewertung derjenigen Faktoren zu rekonstruieren, die später für seine philosophische Reflexion fruchtbar geworden sind. Der ‚Philologe Nietzsche‘ ist in der Tat viel mehr als eine kurze Phase im Leben des ‚Philosophen Nietzsche‘. Erstens war diese Phase nicht kurz, denn sie umfasst die gesamte schulische und universitäre Ausbildung Nietzsches sowie die zehn Jahre seiner akademischen Lehrtätigkeit (bis 1879), die er nach dem in jungen Jahren erhaltenen Ruf auf den Lehrstuhl für Griechische Sprache und Literatur der Universität Basel ausübte. Zweitens war es nicht nur eine Phase, denn seine klassische Ausbildung, sein kulturelles Vermögen und seine Kenntnisse des Altertums übertrafen an Tiefe alle anderen Bereiche der Bildung Nietzsches und blieben immer die allerersten Quellen, aus denen er seine Gedanken und die Vorbilder für seine philosophischen Untersuchungen schöpfte.
In den Basler Jahren hielt Nietzsche akademische Vorlesungen über zahlreiche Themen der klassischen Philologie. Die Vorlesungen über die Geschichte der griechischen Literatur (1874-76), sind eines der fruchtbarsten Beispiele seiner akademischen Tätigkeit. Es handelt sich nämlich um die vollständigste, längste und organischste Vorlesung in Nietzsches Nachlass und um ihre Konzeption und Ausarbeitung bemühte er sich in besonderem Maße. Wie alle anderen seiner Vorlesungsaufzeichnungen sind diese Materialien nur zum Teil original, weil Nietzsche in den weiten kompilatorischen Sektionen die Inhalte frei oder buchstabengetreu aus den damaligen Hand- und Fachbüchern übernommen hat. Für die Vorlesungen über die Geschichte der griechischen Literatur beansprucht Nietzsche jedoch einen besonders autonomen Status: er nimmt sich in ihnen ganz persönliche Handlungsräume und eine unerhörte Freiheit in der Formulierung und Komposition des Ganzen, so dass diese Vorlesungen nach der Geburt der Tragödie (1872) der Ort der weitreichendsten und originellsten Diskussion über das Wesen der griechischen Welt werden. Auch im Vergleich mit dem letztgenannten Werk zeigen diese Vorlesungen sich als außerordentlich originell, weil sie uns die Frage der Tragödie zu ihren Ursprüngen zurückverfolgen lassen und den Ursprung und die Entwicklung des sprachlichen Kunstwerks in Griechenland in ihrer Vollständigkeit thematisieren.
Der Versuch Nietzsches, eine Geschichte der griechischen Literatur zu erarbeiten, wird nicht unkritisch durchgeführt. Nietzsche fragt in den der Vorlesung vorausgegangenen Jahren ausführlich nach der Nützlichkeit des Projektes einer Geschichte der Literatur selbst. In Zusammenhang mit dieser Reflexion stehen zwei der wichtigsten Gedankenlinien seiner Jugendperiode. Einerseits finden wir die Reflexion über die Prinzipien des klassischen Altertums für die Erziehung der Jugend, die Nietzsche in den Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten (1872) und in der Encyklopädie der klassischen Philologie (1871-74) durchführt. Andererseits, sollen wir die Untersuchung über die Bedeutung und das Erbe der Geschichte in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) erwähnen. Die literarisch-historische Reflexion und die pädagogische Auseinandersetzung mit der Moderne werden die Hauptrichtungen sein, in die die komplexe Struktur der Vorlesungen über die Geschichte der griechischen Literatur sich entwickeln wird. Wie kamen die Griechen zu ihrer klassischen Literatur? Können wir modernen Menschen uns heute für fähig halten, eine Literatur zu begründen, die in der Zukunft wieder als ‚klassisch‘ definiert werden kann? Dies sind die zwei Fragen, die nach Nietzsches Meinung den ganzen Fortgang seiner Geschichte der alten Literatur zusammenfassen und rechtfertigen.
Die ästhetische Erfahrung ist in der griechischen Welt ein Phänomen von außerordentlicher Komplexität, dessen unbeugsame Fremdheit im Vergleich mit der modernen Erfahrung spürbar wird, wenn man sie in die Kategorien der modernen Ästhetik und Literaturwissenschaft einzuordnen versucht. ‚Literatur‘, ‚klassisch‘, ‚Originalität‘, ‚Kunstwerk‘, ‚Autor‘ sind Kategorien, die allesamt auf die ästhetische Erfahrung der Welt der Alten nicht angewandt werden können. Die makroskopischste der Inkongruenzen, deren Nietzsche sich bewusst ist, ist die Idee davon, worin die Kultur selbst in der Moderne besteht: in dem Gebrauch des Lesens und Schreibens und der entsprechende Form der Mitteilung und Überlieferung des Wissens. Zwei Auffassungen der Kunst und der Kultur stehen sich gegenüber: die alte, auf die Mündlichkeit und auf das Verhältnis zwischen Werken und gesellschaftlichen Situationen gegründete Auffassung und diejenige des modernen Menschen, die literarisch ist und ihre Bildung auf die Nachahmung des Altertums und der in Texten fixierten, ‚klassisch‘ gemachten Werke der Alten gründet. Mündlichkeit und Schrift, Produktion und Reproduktion, Spontaneität und Manier: zwei Welten im Vergleich, von denen jede ihre Gesetze hat, die aus historischer Notwendigkeit aus einander entstanden.
Was können wir von den Alten lernen? Um diese Frage zu beantworten, untersucht Nietzsche den Prozess der Geburt des ‚Kunstwerkes der Sprache‘ in Griechenland, von der Erfindung des Hexameters als Vers des Gottesdienstes in Delphi über die allerältesten musikalischen Institutionen und die Unterscheidungen der literarischen Gattungen. Er erforscht die verschiedenen Ursprünge der literarischen Gattungen, ihre Mundarten, ihre Metren, ihre Tonarten, untersucht die Themen, die Anlässe, die Komposition und den Stil, bewertet die politischen und gesellschaftlichen Einflüsse und die Rolle der Kunst im Leben der alten Poleis. Aus der strengen Normierung der literarischen Gattungen erscheint deutlich das anti-romantische Bild einer außerordentlich konventionellen, durch unzählige Regeln bestimmten Kunst. Weit entfernt von der heutigen Betrachtung der Künste als Unterhaltung, sieht der Grieche in der Dichtung ein Phänomen von erstrangiger Bedeutung für das Leben in der Polis, ein Phänomen, das eine zivilisatorische Kraft hat und deswegen kontrolliert und einer Gesetzgebung unterworfen werden sollte.
Nietzsche erkennt den Ursprung und das Wesen des Kunstwerks der Sprache in Griechenland im Phänomen des Rhythmus, dessen philologische Analyse er mitsamt einer historischen Rekonstruktion seiner Rolle im Gottesdienst und seiner Wirkung auf die menschlichen Affekte in den Vorlesungen über die griechische Rhythmik (1870-71) anbietet. Ausgehend von dem Studium der komplexen Künstlichkeit der alten Werke und von der Analyse der Rolle des Rhythmus in der kompositorischen Anlage bis hin zu den spätesten literarischen Formen der Redekunst und der philosophischen Literatur legt Nietzsche den Grund für seinen zukünftigen Diskurs über die modernen Formen der philosophischen Prosa. Das Projekts des ‚Großen Stils‘, das als Kernidee seiner Werke ab Menschliches, Allzumenschliches (1878) gilt, lässt sich auf das ästhetische Paradigma des griechischen literarischen Werkes zurückverfolgen. Der strenge Formalismus und die übertriebene Normativität, denen die ganze Ausdrucksfähigkeit des alten Werkes untergeordnet war, nimmt hier allmählich die Form eines ethischen Paradigmas an. Wenn überhaupt zielt Nietzsche auf eine Erneuerung der modernen Prosa im Sinne einer wissenschaftlichen, philosophischen Prosa, einer Prosa der Klarheit und der Deutlichkeit, findet diese ästhetisch-formale Reflexion auch eine unmittelbare Übertragung auf das ethische Niveau. Die unnatürliche Natürlichkeit des ‚Großen Stils‘ zielt durch die Sprache und durch die Schriften auf ein Ethos der Selbstbildung, auf eine Wirkung auf den Charakter und auf das Verhalten, sowohl des Lesers als auch des Autors. Im Gegensatz zu der Vulgata, die Nietzsche als Philosophen der Irrationalität darstellt, konzentriert Nietzsche seine Mühen auf eine Theorie der Selbstausbildung und der Selbstbeherrschung.
Nach vielen Jahren in Deutschland (CMB und TU Berlin), Gross Britannien (Cambridge University und Warburg Institute) und den Staaten (Princeton University) ist Carlotta Santini seit 2018 als CNRS-Forscherin an der Ecole Normale Supérieure in Paris taetig. Als Spezialistin von Friedrich Nietzsche und Mitglied des Vortands der Nietzsche Gesellschaft ist sie für die kritische Ausgabe der Baseler Vorlesungen in Frankreich und Italien verantwortlich.