Heute Nietzsche?
Von Niklas Corall (Paderborn)
Zu runden Geburtstagen einflussreicher Gestalten ist es üblich, die Aktualität ihres Schaffens einzuordnen. Anlässlich des 175. Geburtstags Friedrich Nietzsches wird die Diskussion „Nietzsche heute“ jedoch von der Frage „heute Nietzsche?“ überschattet, von der Frage, ob man heute noch guten Gewissens Nietzsche lesen dürfe. Die politische Landschaft erscheint als beklemmendes Argument gegen sein Denken. Unverantwortlich erscheint jede Philosophie, die narrative Gestaltungsmöglichkeiten eines dem Gesetz der Wahrheit nicht unterliegenden „Schaffenden“ gegenüber dem vernünftigen, demokratischen Diskurs stark macht. Positioniert man sich als Wertschätzer von Nietzsches Denkens, unterliegt man dem Verdacht, Befürworter des post-faktischen Elements zu sein, dem neuen Schlachtfeld politischer Dispute. Schlimmstenfalls erscheint man als Advokat der wieder aufkeimenden politischen Kultur „starker“ werteschaffender Männer oder rassistisch-völkischer Abgrenzungsnarrative. Nicht selten hört man zu Nietzsche, seine Aufweichung rationaler Grundsätze, Wertekontexte und insbesondere der Wahrheit als Basis humanistischen Fortschritts sei eine Wurzel gegenwärtigen Übels.
Doch muss man Nietzsches Werk wirklich als „postfaktische“ Philosophie lesen, oder als Aufweichung demokratischer Grundprinzipien zu Gunsten eines politischen Personenkults? Ob der Autor Nietzsche es so konzipiert hat, ist möglich, jedoch keine philosophische Fragestellung. Interessanter ist eine philosophische Perspektivierung seines Werks, die sondiert, was sich mit oder gegen Herrn Nietzsche für die Gegenwartsphilosophie gewinnen lässt. Seine Auslegung der Gegenwart als einer narrativ gestalteten Wirklichkeit soll als der stets zu reflektierende Problemhorizont moderner demokratischer Gesellschaften verstanden werden, als Verweis auf die Unabschließbarkeit gemeinsamer Aushandlungsprozesse in Hinsicht darauf, was Mensch, Moral und Gesellschaft für uns bedeuten.
Nietzsches „postfaktische“ Philosophie?
Problematisch erscheint der „relativistische“ Nietzsche, der Advokat eines „Alles ist erlaubt!“, der in Anlehnung an seine frühe Skizzierung der Wahrheit als „bewegliches Heer von Metaphern“ konstruiert wird. Das „Heer“ verbildlicht nicht nur die Kontingenz symbolischer Ordnungen, sondern auch den Umstand, dass Wahrheit zur Unterwerfung etwaiger Gegner und zum Schlagen von Schlachten eingesetzt wird, dass Wahrheit niemals jenseits von Macht gedacht werden sollte. Ebenso beruft man sich auf seine späte Analyse des „Willens zur Wahrheit“ als eines nicht reflektierten Glaubens an einen absoluten Wertunterschied, nach welchem der Wahrheit unbedingt ein höherer Wert zukomme als der Täuschung. Da dieser Unterschied jedoch keine lebenspraktische Basis aufweist – schließlich haben sich im irdischen Dasein beide sowohl als förderlich und gefährlich erwiesen – versteht Nietzsche diese Wertsetzung als Residuum eines monotheistischen Gottesglaubens, in dem allein dem „wahren Gott“ neben bloßen Lügengöttern Geltung zukomme. Nietzsche folgert aus dieser Abwertung eines absoluten Wertgegensatzes jedoch weder, dass die Annahme von Wahrheit keinerlei Wert innerhalb menschlicher Gesellschaft zukomme, noch sagt er, dass ohne absolute Wahrheit keine verantwortungsbewusste Art sinnhafter gemeinschaftlicher Aushandlung möglich sei.
Fakten und Tatsachen werden nicht einfach geleugnet oder angezweifelt, sondern Nietzsche verweist stattdessen darauf, dass die Konzepte Wahrheit und Lüge nur dort einen Wert haben, wo erfolgreiches gesellschaftliches Zusammenleben angestrebt wird. Menschliche Gesellschaft sei ohne feste Konvention nachvollziehbarer Auslegung von Sinnesdaten, Verwendung von Begriffen oder Benennung von Phänomenen nicht praktikabel. Erst wenn ein vereinbartes Vokabular wissentlich und willentlich gebraucht oder missbraucht wird, ist die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge sinnvoll. Da jedoch keine Rückbindung an einen objektiven „Wahrmacher“ besteht, bedeute die Wahrheit zu sagen, „nach einer festen Convention zu lügen“. Solange die Generierung von Tatsachen und deren Vermittlung auf einer intersubjektiv nachvollziehbaren Basis verläuft – wenn eine gemeinsame Konvention der „Lüge“ besteht – dann ist es sogar sinnvoll, wertend zwischen einer überzeugenden und einer manipulativen Darstellung der faktischen Lage zu unterscheiden – „postfaktische Falschmeldungen ließen sich also durchaus als gesellschaftsfeindlich kenntlich machen. Auch der eigentliche Nachweis des kontingenten Charakters sozialer Gegenwart basiert bei Nietzsche auf einem Umgang mit historischen „Tatsachen“. Seine Genealogie deutet soziale Wirklichkeit als tatsächliche Historizität, als Konglomerat und lebendigen Effekt wirklicher menschlicher Entscheidungen, verwirklichter oder verworfener moralischer Wertunterscheidungen und sich ablösender hierarchischer Verhältnisse. Nietzsches Historisierung widmet sich kaum der Widerlegung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern problematisiert die sich als exklusiv gebärdenden Deutungshorizonte intransparenter oder metaphysisch verbürgter Wahrheitskriterien, die erklären, was es mit absoluten Essenzen wie Freiheit, Moral, Wahrheit, Mensch – insbesondere „die Frau“ – auf sich hat. Nietzsche verstand diese Begriffe nicht als beliebig oder postfaktisch, sondern jederzeit als „präfaktisch“, als Problemhorizont und Aufgabenstellung verantwortungsschwerer und notfalls agonistischer Aushandlungsprozesse.
Nietzsches Denken als Verabschiedung demokratischer Ideale?
Es ist bedenkenswert, dass die These, eine symbolische Ordnung habe keine objektive Ordnung, die ihrer entspricht, als Keim einer Bedrohung moderner Demokratie verstanden wird, als Feind der politischen Möglichkeit der Selbstbestimmung einer menschlichen Gemeinschaft. Ein Verständnis der Verhandelbarkeit und Gestaltbarkeit sozialer und politischer Verhältnisse und Deutungshorizonte, erscheint der demokratischen Grundidee durchaus näher zu sein als das gegenwärtig an seine Grenzen stoßende Narrativ vom „Ende der Geschichte“ und daraus resultierender „Sachzwänge“. Nietzsches Denken wird genau dort kritisch, wo sich politische Repräsentation als technokratische Verwaltung solcher Sachzwänge oder als alternativlose Verwirklichung natürlicher, wissenschaftlicher oder rationaler Ordnungen gebärdet. Die „Wahrheitskritik“ kritisiert hier ein dem modernen Bürger nahegelegtes demokratisches Selbstverständnis, das diesem erlaubt, die gestaltende Verantwortung für menschliche Gesellschaft von sich zu weisen und sich stattdessen einem technokratisch verwalteten, historisch verankerten Prozess vermeintlich humanistischen Fortschritts hinzugeben. Nietzsches Vorstellung der Menschheit als einer beständig zu aktualisierenden und niemals vollständig zu realisierenden Zukunftsvorstellung eröffnet im Gegensatz dazu eine Perspektive, in welcher die demokratische Gemeinschaft die Verantwortung für ihr Handeln wieder selbst übernehmen muss. Ein Angriff auf die demokratische Gesellschaft stellt Nietzsches Modell nur für diejenigen dar, die von einem festen Verständnis des Menschen, der Gesellschaft und/oder des Wirtschaftssystems ausgehen, bei dem nur noch letzte Stellschrauben zu fixieren sind.
Nietzsche beschreibt eine Verantwortung des Menschen zur konstruktiven und kritischen Mitgestaltung symbolischer Ordnung und eröffnet uns eine Perspektive darauf, was es heute bedeutet, eine demokratische Gesellschaft mündiger Bürger zu festigen. In den letzten etwa 20 Jahren war die Antwort hierauf, den politischen Diskurs der „Mitte“ als alternativlos darzustellen und vor Bedrohungen zu schützen. Insbesondere wirtschaftsbezogene Systemkritik von Links und poststrukturalistische philosophische Kritik wurden als jenseits dieses vernünftigen Diskurses deklariert. Dass im Zuge offenbarer systemischer Schwierigkeiten und nach Ausgrenzung real zu diskutierender Alternativen nun totgehoffte völkisch-rassistische Verschwörungstheorien Aufwind erhalten, ist traurig, aber nicht verwunderlich. Man verweigerte schließlich einen potenziell heilsamen kritischen Diskurs über die reale Demokratie und überließ ihn den Feinden der Demokratie um fortan jede Kritik am bestehenden Apparat als Gefahr für die nächste Schicksalswahl zwischen Vernunft und Faschismus zu stilisieren. „Heute Nietzsche“ kann argumentative und suggestive Waffen in falsche Hände legen, schlimmer jedoch wäre es, wenn auch weitere Generationen nicht mehr in der Lage sind, für ihre Werte politische Dispute zu führen und jede inhaltliche Kritik als außerhalb des demokratischen Diskurses gesehen wird. Soll demokratische Verantwortung gestärkt werden – und die Hoffnung besteht, dass trotz der unverhältnismäßigen medialen Präsenz ihrer Gegner die demokratische Leitkultur überwiegt – so ist es wichtig, demokratische Prozesse nicht als schlichte Bestätigung eines objektiv bestimmbaren sozialen und politischen Wesens zu verstehen, sondern als Aushandlungsprozesse, die Teil unserer ethischen Verantwortung als mündige Bürger einer Gesellschaft darstellen.
Nietzsches Philosophie lässt sich als ein Aufruf dahingehend lesen, Verantwortung nicht auf „die Wahrheit“ oder „das Wesen des Menschen“ abzuwälzen. Er macht geltend, dass Moral, ethischer Standard, soziale Gemeinschaft und symbolische Ordnungen in unserer Verantwortung liegen und keine eindeutig zu beantwortende Frage von Wahrheit und Vernunft darstellen. Die „Aufweichungen“ sollten als Möglichkeit verstanden werden, schließlich brachte erst die „Aufweichung“ dessen, was der „Perverse“ oder „die Frau“ bedeuten kann, eine Selbst- und Mitbestimmungsperspektive für einen großen Anteil zuvor entmündigter oder marginalisierter Menschen. Angst vor der Aufweichung bestimmter Festlegungen, Wertschätzungen und Traditionen muss nur bestehen, wenn der politische Bürger als passiver Spielball machtpolitischer Manipulationen verstanden wird. Wenn dies die Sorge ist, so wird der Auftrag noch wesentlich drängender, den Bürger wieder zur eigenständigen Meinungsbildung angesichts politischer Dispute zu emanzipieren. Versteht man den Bürger jedoch als Träger demokratischer Verantwortung, so sind die beständige Aktualisierung von Aushandlungsprozessen, die Thematisierung von Marginalisierungen durch symbolische Ordnungen und die Problematisierung systemischer Teile unseres kulturellen Selbstverständnisses ein Zeichen von starker Demokratie und gerade die Absage an „starke“ Männer, auf denen man(n) sich in Zeiten der Krise ausruhen könne.
Niklas Corall ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Philosophie an der Universität Paderborn.