Wille zur Macht, Wahrheit und Moral. Große – und aktuelle – Themen der Philosophie Nietzsches

von Beatrix Himmelmann ( Tromsø)


Nietzsche ist heute ein höchst lebendiger Denker; weltweit finden seine Ideen ein Echo. Er gehört zu den meist zitierten und diskutierten Autoren der abendländischen philosophischen Tradition. Warum ist das so? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Nietzsche schrieb, philosophische Abhandlungen und Aphorismen, aber auch literarische Texte wie die Dionysos-Dithyramben, deutete wenig auf eine derart durchschlagende Wirkung. Nietzsche selbst fühlte sich oft verkannt. „Ich selber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren“, so schätzte er die eigene Stellung in der späten Schrift Ecce Homo ein. Der weit reichende Einfluss seines Denkens sollte sich tatsächlich erst nachträglich entfalten; er setzte spätestens mit der Jahrhundertwende (Nietzsche starb im August 1900) ein und verstärkte sich mit der Publikation unveröffentlichter Manuskripte aus dem Nachlass. Zu erwähnen sind besonders die späten fragmentarischen Notizen, die alle großen Themen der Philosophie Nietzsches behandeln und die zuerst 1901 unter dem – freilich irreführenden – Titel Der Wille zur Macht erschienen.

Warum aber avanciert Nietzsche zu einem der wirkmächtigsten Denker im 20. Jahrhundert und darüber hinaus? Wohl vor allem, weil er als äußerst scharfsichtiger Kritiker hervortritt und damit dem Krisenbewusstsein Ausdruck gibt, das die Moderne im 20. und 21. Jahrhundert mit ihren Brüchen und den Katastrophen der beiden Weltkriege wie ein Schatten begleitet. Nietzsche stellt geläufige Begriffe der Moral, der Religion, der Politik, der Wahrheit und ihrer Wertschätzung, vertraute Kategorien wie „Ich“ und „Selbst“, mit Hilfe derer wir uns als menschliche Subjekte thematisieren, in Frage. Damit ist er nicht zuletzt hier und heute wieder einmal hochaktuell. Sehen wir nicht, wenn wir über die gegenwärtige Weltordnung nachdenken, dass der Wert der Wahrheit unverblümt in Zweifel gezogen wird, dass die Idee allgemeiner Menschenrechte von der Hauptbühne verschwindet und in den Hintergrund gerät, dass „grosse Politik“ als deal-making betrieben wird, für das gar kein rechtlicher geschweige denn moralischer Rahmen nötig scheint?       

Wollte man einen Hauptgedanken identifizieren, der Nietzsches Beiträge zu den genannten Themen durchzieht, so ist es der Gedanke des „Willens zur Macht“. In allem, nicht zuletzt in Moral, Recht und Politik sieht er diesen Willen wirksam. Nietzsche denkt Macht dabei nicht unbedingt als krude Dominanz oder gar Gewalt. Die Grundidee ist, dass jeder Mensch in sich selbst und in seinen Relationen zu den Anderen ein dynamischer Zusammenhang gegensätzlicher Kräfte oder Mächte ist. So kommt er nicht umhin, sich selbst und anderes und die Verhältnisse zwischen ihnen als ein Gefüge wechselnder „Rangordnungen“ zu begreifen, in Gestalt derer die verschiedensten Kräfte sich je und je neu organisieren. Jede Einheit und selbst das angeblich unteilbare Individuum ist nach Nietzsches Analyse „dividuum“ (MA I 57), das heißt geteilt und plural verfasst. Je mehr Spannungen solche Einheiten aushalten und zu integrieren vermögen, desto stärker, perspektiv- und facettenreicher zeigen sie sich. Nietzsche begrüßt den Antagonismus der Kräfte, der immer zu fördern und keinesfalls zu unterdrücken sei, als Bedingung für die Entwicklung und Produktivität von Individuum und Gesellschaft.  Nur an Herausforderungen, so ist er überzeugt, können sie wachsen und ihr Potential entfalten. Dies gilt für alle Lebensbereiche, es ist Ausdruck der Lebendigkeit selbst.

Diese grundlegenden Überlegungen Nietzsches bilden den Ausgangspunkt für die Kritik, die er an überkommenen Vorstellungen von Moral, Recht, Politik, Erkenntnisstreben und Religion übt. Wie stellen sie sich dar, so fragt er, wenn wir sie „unter der Optik des Lebens“ betrachten? (GT,Selbstkritik 4) Nietzsche findet im Zuge seiner Analysen heraus, dass sie meistenteils und uneingestanden auf einem Dualismus, genauer: einer Zweiweltenlehre, beruhen. Auf der einen Seite steht die Welt unserer Erfahrung in ihrer Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit, ihrer Vergänglichkeit und Unvollkommenheit. Sie ist ein Geflecht verschiedenster Kräfte oder Mächte, das in ständiger Veränderung begriffen ist. Alles Einzelne, was es auch sei, Dinge, Menschen, ihre Gedanken und Taten oder sogenannte Werte, steht in Relation zu allem anderen und gewinnt erst dadurch seinen momentanen und stets vorläufigen Sinn und Stellenwert. Auf der anderen Seite, so Nietzsche, arbeitet zum Beispiel die Moral mit fixen und sogar absolut geltenden Standards wie „gut“ und „böse“. Denn wenn wir Akteure und ihre Handlungen als moralisch gut oder böse beurteilen, behaupten wir nicht, dass wir damit etwas über ihren Sinn und Wert im Hinblick und mit Rücksicht auf jene situativ bestimmten Kräfteverhältnisse sagen, in die Menschen und Dinge jederzeit eingebunden sind. Vielmehr urteilen wir dann über diese Akteure und ihr Tun und Lassen nach Maßstäben, die ganz unabhängig von den jeweiligen Macht- oder Kräfteverhältnissen zu gelten scheinen. Bestimmte Handlungsweisen, so meinen wir, seien an sich oder per se und in diesem Sinne absolut und unter allen Umständen, eben moralisch „gut“ oder „böse“.

Nietzsche wendet sich gegen solche in seinen Augen starren Gegensätze und empfiehlt, „jenseits von Gut und Böse“ zu denken. Zwar kann die Vernunft eine „moralische Ordnung der Dinge“ nach Kategorien von Gut und Böse entwerfen und ihre Durchsetzung in der Welt unserer Erfahrung fordern. Sehen wir aber nicht, fragt Nietzsche, dass einer solchen Ordnung „durch Natur und Geschichte beständig widersprochen wird“? (M, Vorrede 3) Sehen wir nicht die unüberbrückbare Kluft, die sich zwischen der so gedachten Moral und der Wirklichkeit in Natur und Geschichte öffnet? Wird die letztere nicht im Auftrumpfen einer Moral verneint, welche die transitorischen und durch den Zufall mitbestimmten Konstellationen, die diese Wirklichkeit ausmachen, verkennt, wenn sie mit absoluten Verdikten operiert? Die „sogenannte ‚sittliche Weltordnung‘“ scheint Nietzsche zuletzt nur das Produkt der „Feigheit des ‚Idealisten‘“ zu sein, „der vor der Realität die Flucht ergreift“ (EH,Schicksal 3).

„Bleibt der Erde treu!“, lautet deshalb eine der Losungen Zarathustras (Z I, Vorrede 3), des Protagonisten jenes Buches, das Nietzsche selbst unter all seinen Werken hervorhebt. Transzendenz oder Überschreitung der empirischen Lebenswelt in jedweder Form, sei es der Gedanke an den christlichen Gott („Gott ist tot“), sei es die Idee von Recht und Gerechtigkeit, an denen sich die Lebensverhältnisse hier und jetzt sollen messen lassen, wird von ihm verworfen. Solche Ideen und Gedanken bilden für Nietzsche eine obsolete „Hinterwelt“ zu der einen Welt der Erfahrung, die wir neben anderen Lebewesen bewohnen. Wir sind die Tiere, die danach fragen, wer sie sind, und deren Existenz im Vergleich zum Dasein anderer Tiere „nicht festgestellt“ (JGB 62) ist. Darin liegt Reiz und Gefährdung zugleich.  

Keine Lösung ist für Nietzsche, unsere Leiblichkeit in ihrer Vielstimmigkeit und Komplexität zugunsten einer ihr gegenübertretenden Vernunft kleinzureden und kleinzumachen. „Wir sind keine denkenden Frösche, keine Ojektivir- und Registrier-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden – wir müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären“, schreibt er in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft. Müssen wir aber nicht unsere Gedanken immer auch am Probierstein, wie Kant sagen würde, der Wahrheit prüfen, wenn wir uns nicht nur über uns selbst, sondern mit Anderen über die Welt verständigen wollen?

„Was ist Wahrheit?“, diese Pilatus-Frage nimmt Nietzsche immer wieder auf. Er unterzieht unsere Einschätzung des Gegensatzes zwischen Wahrheit und Lüge eingehender Untersuchungen. Der „Wert der Wahrheit“ (GM III 24) wird ihm zum Problem, weil doch die Täuschung durchaus zu den Bedingungen eines gelingenden Lebens gehören könnte. Die Wahrheit kann hässlich sein, wenn sie Dinge und Menschen in ihrer Nacktheit vorführt. Andererseits zeichnet Nietzsche die „Redlichkeit“ als die zentrale Tugend aus. Sie ist die Tugend der „freien Geister“, die vor den Realitäten des Lebens gerade nicht die Augen verschließen und sich in einen erhabenen „Ideenhimmel“ flüchten, sondern in die physiologischen und psychologischen Unter- und Abgründe des Menschseins blicken, die Nietzsche mittels großangelegter genealogischer Studien freizulegen versucht (vgl. GM). Sie lassen unter anderem sehen, dass unsere Erkenntnis der Dinge immer auch eine Interpretation der Dinge und ihres jeweiligen Sinns ist, die der Logik des Willens zur Macht folgt.  

Sehr interessant ist, dass der späteste Nietzsche über den Gedanken des Willens zur Macht hinauszudenken sucht – unter Beibehaltung der wesentlichen philosophischen Einsichten, die ihn als systematischen Leitgedanken so attraktiv gemacht hatten. Weiterhin wendet Nietzsche sich gegen jede Form einer Zweiweltenlehre und alle mit ihr verbundenen unbedingten Antithesen, die ausschließend wirken und ein freies Spiel aller Lebenskräfte zu unterminieren drohen. Zuletzt avisiert Nietzsche im Antichrist und im Ecce Homo, den letzten zur Publikation bestimmten Werken, die „frohe Botschaft“ einer Lebenspraktik, die der rückhaltlosen Bejahung des Lebens in allem und jedem fähig ist. Sie scheidet auch das Hässliche und Böse nicht aus; sie verneint nicht mehr. Es ist eine Stärke aus Schwäche, die Nietzsche gegen die Bibel und die mit Paulus beginnende Geschichte des Christentums an dem gekreuzigten Jesus von Nazareth exemplifiziert: „Er widersteht nicht, er vertheidigt nicht sein Recht, er thut keinen Schritt, der das Äusserste von ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus …“ (AC 35) Das ist amor fati in letzter Konsequenz – jenseits von Gut und Böse und jenseits des Willens zur Macht.  


Beatrix Himmelmann ist Professorin für Philosophie an der Arktischen Universität Norwegens in Tromsø. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Werk und Wirkung Nietzsches.


Siglen:

AC = Der Antichrist; EH = Ecce Homo; GM = Zur Genealogie der Moral; GT= Die Geburt der Tragödie; JGB = Jenseits von Gut und Böse; MA = Menschliches, Allzumenschliches; M = Morgenröte; Z = Also sprach Zarathustra.