Historizität und Vernunft. Annäherungen an Kants Philosophie der Geschichte

von Rudolf Meer (Graz)

Wird im Rahmen der klassischen Deutschen Philosophie von einer Philosophie der Geschichte gesprochen, denkt man allererst an G. W. F. Hegels groß angelegtes Projekt der Entfaltung der Vernunft oder an K. Marx’ Historischen Materialismus und weniger an das oft als ahistorisch bezeichnete Projekt der Kritik der reinen Vernunft. Dabei wird allerdings leicht übersehen, dass bereits I. Kant auf der Basis seiner kopernikanischen Wende der Denkungsart Leitideen zu einer Philosophie der Geschichte entwickelt. Diese zeichnet sich besonders durch ihre regulative und hypothetische Funktion aus und ermöglicht aufgrund ihrer undogmatischen Herangehensweise eine interessante Opposition zu den obig genannten Konzepten.


Einer Denktradition der Philosophie der Frühen Neuzeit verbunden, stellt Kant seine Philosophie der Geschichte zumeist in Bezug auf die Astronomie dar. Zentrale Passagen finden sich dazu u. a. in der Kritik der reinen Vernunft, im Streit der Fakultäten als auch in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.

1          Die ersten Gedanken des Kopernikus

Mit der Kritik der reinen Vernunft nimmt Kant für sich in Anspruch, eine Wende der Denkungsart geleistet zu haben und parallelisiert diese mit den „ersten Gedanken“ (B XVI) des Kopernikus:

Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntniß derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken[1] des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. (B XVI)

Kant nimmt damit in der Vorrede der Kritik der reinen Vernunft auf Kopernikus’ De revolutionibus orbium coelestium libri von 1543 Bezug[2], in dem dieser die Auffassung vertritt, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems steht und die Erde einer der um die Sonne kreisenden Planeten ist. Kant rekurriert dabei allerdings explizit auf die „ersten Gedanken“ (B XVI) des Kopernikus, nach denen dieser – der Analogie folgend – die Sterne (z. B. die Sonne) in Ruhe gelassen und die Bewegung in der Erde lokalisiert habe[3]: Die Bewegung des Sternheeres wird demnach auf die Bewegung der Zuschauerin bzw. des Zuschauers zurückgeführt. Obwohl sich also die Sonne dem Augenschein nach bewegt, steht sie doch still und obwohl die Betrachtenden dem Augenschein nach stillstehen, drehen sie sich doch aufgrund der Erdrotation. Der erste Gedanke des Kopernikus besteht demnach darin, dass nur diejenige Bewegung der Sterne astronomisch erkannt werden kann, die von der Betrachterin bzw. vom Betrachter durch Eigenbewegung erzeugt wird. Damit schreibt Kopernikus in ein einheitliches Planetensystem eine Dualität von Eigen- und Fremdbewegung ein.

Die von Kant in Analogie auf die ersten Gedanken des Kopernikus versuchte „Hypothese“ (B 22) der Kritik der reinen Vernunft schreibt parallel dazu in die Vernunft eine Dualität ein – jene zwischen Erscheinungen und Dingen an sich –, aus der systemintern die Differenzierung von Erkennen und bloßem Denken (B XXVI) entsteht. In Analogie zur Methode des Kopernikus handelt die Kritik der reinen Vernunft demnach nicht von „Gegenständen, sondern […] unserer Erkenntnisart von Gegenständen“ (B 25) – diese erlaube es wiederum, apriorische Bedingungen vor der Erkenntnis konkreter Gegenstände festzulegen und dadurch apodiktische Gewissheit zu erlangen.

2          Apodiktizität und Historizität

Die von Kant rezipierte Annahme der Eigenbewegung der Erde vor der Fremdbewegung führt dazu, dass die Beobachterin bzw. der Beobachter nicht mehr einen unbedingten Standpunkt in der Naturbetrachtung einnehmen kann. Diesem Faktum trägt Kant in der Kritik der reinen Vernunft Rechnung, indem er in der Transzendentalen Dialektik die rationale Kosmologie demontiert und in der Transzendentalen Analytik die Möglichkeit von Naturwissenschaft ausgehend von den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung (des Menschen) entwickelt. Die auf dieser Basis vollzogene kopernikanische Wende der Denkungsart ermöglicht es allerdings, die Gegenstände der Erkenntnis – ihrer Möglichkeit nach – a priori zu bestimmen und Wissenschaft als eigentliche Wissenschaft, d. i. mit apodiktischer Gewissheit, zu etablieren.

Obwohl der Mensch mit Blick auf das Feld möglicher Erfahrung nicht den Standpunkt des Unbedingten einnehmen kann, ist ihm dieser aber doch aufgegeben: Da die Erscheinungen nur empirische Synthesen bilden und daher nur im Felde möglicher Erfahrung gegeben seien, habe dies zur Konsequenz, dass mit dem Bedingten nicht gleich die Synthesis der empirischen Bedingungen mitgegeben, sondern bloß aufgegeben sei. Aus diesem Grund seien nicht alle Bedingungen (als absolute Totalität der Reihen) schon mit dem Bedingten mitgegeben, sondern nur als „Regressus in der Reihe aller Bedingungen […] aufgegeben“ (A 498/ B526).

Dieses Aufgegebensein eröffnet wiederum die Möglichkeit, das Unbedingte im Zuge des „hypothetischen Gebrauchs der Vernunft“ (A 647/B 675) in Form einer eigenen Gesetz­mäßigkeit in die Naturforschung zu integrieren. In Form eines Als-Ob wird dabei von mehreren besonderen Fällen im Feld möglicher Erfahrung auf die Allgemeinheit der Regel und aus dieser wieder auf alle Fälle, auch jene, die nicht im Feld möglicher Erfahrung gegeben sind, geschlossen (A 647/B 675). Damit wird auf der Basis der kopernikanischen Wende der Denkungsart hypothetisch bzw. heuristisch über die durch die Grundsätze des Verstandes konstituierten Gegenstände hinausgehend auf ein Unbedingtes geschlossen, um von dort aus die gegebenen Fälle erneut zu bestimmen. „Die Vernunft setzt die Verstandeserkenntnisse voraus, die zunächst auf Erfahrung angewandt werden, und sucht ihre Einheit nach Ideen, die viel weiter geht als Erfahrung reichen kann.“ (A 662/B 690) In dieser Weise wird eine absolute Perspektive in einer kritischen Form in die Naturforschung integriert.

Diese Perspektive ist für die Naturforschung wichtig, um wissenschaftliche Leitprinzipien und den an den Wandel dieser Prinzipien gebundenen historischen Fortschritt miteinzubeziehen. Und tatsächlich hat Kant im Anschluss an die Kritik der reinen Vernunft die Systematik regulativer Prinzipien im Rahmen mehrerer Arbeiten zur Philosophie der Geschichte erprobt.

So heißt es in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte wie folgt:

Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden, und wollen es dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der im Stande ist, sie darnach abzufassen. So brachte sie einen Kepler hervor, der die eccentrischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf, und einen Newton, der diese Gesetze aus einer allgemeinen Naturursache erklärte. (IaG, AA 08: 18)

Kants Interesse gilt dabei nicht der geschichtswissenschaftlichen Methodik oder der Darstellung von Fakten. Sein Ziel ist vielmehr die Generierung eines „Leitfaden[s] a priori“ (IaG, AA 08: 30), der zwei Aufgaben zu erfüllen hat: Er soll einerseits Auswahlkriterien geben, „um diese Menge des historischen Wissens, die Fracht von hundert Kameelen, durch die Vernunft zweckmäßig zu benutzen“ (Anth, AA 07: 227), da die Historiographie ansonsten unter der „Last der Geschichte“ (IaG, AA 08: 30) ersticke. Andererseits beabsichtigt Kant mit diesem Leitfaden einen „regelmäßigen Gang“ (IaG, AA 08: 17) zu entdecken, an dem die „stetig fortgehende, obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlage“ (IaG, AA 08: 17) der menschlichen Gattung sichtbar wird. Die Philosophie der Geschichte handelt daher von regulativen Ideen, die uns „zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen“ (IaG, AA 08: 29). Im Sinne der kopernikanischen Hypothese spricht Kant daher in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte von einem „Versuch“ (IaG, AA 08: 18, 29, 30, 31) bzw. vom „Wählen“ (IaG, AA 08: 30) eines „besonderen Gesichtspunkt[es] der Weltbetrachtung“ (IaG, AA 08: 30). Damit macht er die Astronomie zum Paradigma, an dem sich die Philosophie der Geschichte zu orientieren habe.

Im Streit der Fakultäten heißt es, diese Parallele zwischen Geschichte und Planetenbewegung wieder aufnehmend, wie folgt:

Vielleicht liegt es auch an unserer unrecht genommenen Wahl des Standpunkts, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen, daß dieser uns so widersinnisch scheint. Die Planeten, von der Erde aus gesehen, sind bald rückgängig, bald stillstehend, bald fortgängig. Den Standpunkt aber von der Sonne aus genommen, welches nur die Vernunft thun kann, gehen sie nach der Kopernikanischen Hypothese beständig ihren regelmäßigen Gang fort. Es gefällt aber einigen sonst nicht Unweisen, steif auf ihrer Erklärungsart der Erscheinungen und dem Standpunkte zu beharren, den sie einmal genommen haben: sollten sie sich darüber auch in Tychonische Cyklen und Epicyklen bis zur Ungereimtheit verwickeln. – Aber das ist eben das Unglück, daß wir uns in diesen Standpunkt, wenn es die Vorhersagung freier Handlungen angeht, zu versetzen nicht vermögend sind. (SF, AA 07: 83)

Das Ziel einer Philosophie der Geschichte ist demnach die Suche nach einer Ordnungsstruktur, d. i. nach einer Perspektive, aus der die Geschichte sinnvollerweise betrachtet werden kann. Dabei sei es mit dem „Lauf menschlicher Dinge“ (SF, AA 07: 83) ebenso bestellt wie mit der Bewegung der Planeten: Werden letztere von der „Erde aus gesehen“ (SF, AA 07: 83), scheint deren Bewegung lediglich chaotisch – „bald rückgängig, bald stillstehend, bald fortgängig“ (SF, AA 07: 83). Werde dagegen der „Standpunkt […] von der Sonne aus genommen“ (SF, AA 07: 83), gehen sie, der kopernikanischen Hypothese folgend, beständig ihren regelmäßigen Gang. Diese Überlegung ist allerdings nur unter Annahme des ersten Gedankens des Kopernikus entwickelbar. Nur wenn die Eigenbewegung der Erde der Fremdbewegung der Sterne vorhergeht, kann hypothetisch bzw. heuristisch auf einen unbedingten Standpunkt geschlossen werden, der dann als zweite Perspektive eine systematische Metareflexion ermöglicht.

Erst auf der Basis der Erdrotation kann Kopernikus hypothetisch die Bewegung der Erde um die Sonne als beständigen Fortgang erklären. Das dadurch ermöglichte neue Weltbild der Heliozentrik erlaubt es wiederum, sich aus den Verwicklungen in „Tychonische Cyklen und Epicyklen“ (SF, AA 07: 83) zu befreien. Nur wenn „die Sterne in Ruhe“ (B XVI) gelassen werden und die Erde in Bewegung gedacht wird, kann über die erste Bewegung hinaus in kritischer Form eine zweite Bewegung, jene der Erde um die Sonne, argumentiert werden.

3          Resümee

Kants Philosophie der Geschichte ermöglicht es, die Perspektive des Absoluten als ein regulatives Prinzip neben die Perspektive des Bedingten zu stellen. Damit gelingt es ihm, Naturwissenschaft als rationale und eigentliche Wissenschaft zu etablieren und gleichzeitig in ihrem historischen Wandel zu betrachten.

Kants Konzeption einer Geschichte der Philosophie ist somit weder dogmatisch noch bloß auf das Empirisch-Faktische reduziert. Er weist alle überzogenen spekulativen Ansprüche zurück, etabliert aber gleichzeitig eine selbstreflexive Struktur unseres Wissens: Diejenigen, so Kant, die steif auf „ihrer Erklärungsart der Erscheinungen und dem Standpunkt, den sie einmal eingenommen haben, beharren“ (SF, AA 07: 83), werden nicht die Einsichten erlangen, welche die kopernikanische Hypothese ermöglicht.


[1] In der von F. Hartknoch herausgegebenen Kritik der reinen Vernunft von 1781 heißt es „den ersten Gedanken“. B. Erdmann revidiert diese Formulierung allerdings 1878 in seiner Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft zu „dem ersten Gedanken“. Für eine detaillierte Analyse hierzu siehe Schönecker/Schulting/Strobach, Analogie, 502-505. Hier wird dem Wortlaut der Akademieausgabe gefolgt.

[2] Kopernikus, Nikolaus: De revolutionibus orbium coelestium, libri VI. Nürnberg: 1543.

[3] Kants Analogie zu Kopernikus wurde in der Philosophiegeschichte vielfach missinterpretiert – exemplarisch steht dafür B. Russell, der behauptet, dass Kant damit den Menschen an die Stelle der Sonne setze (Russell, Bertrand: Human Knowledge. It’s Scope and Limits. New York: 1948, XI).

Dr. Rudolf Meer arbeitet als Universitätsassistent an der Karl-Franzens-Universität Graz, Arbeitsbereich Geschichte der Philosophie.