Das Auge singt mit – Für eine Genealogie der Popkultur
Von Volkmar Mühleis (Brüssel)
K-Pop, das ist in vielerlei Hinsicht eine perfektionistische Überspitzung seit den sechziger Jahren bekannter Schemata im Popbereich: Das Phänomen der Girl- und Boygroups seit Hitfabriken wie Motown, das Spiel mit Genderrollen seit den Beatles, wenn sie mit Pilzkopf und auf Beatle-Boots mit zumindest höheren Absätzen als üblich für Männer aufgetreten sind. Modisch reicht dieses Spiel zurück bis Coco Chanel, als die junge Dame mit Bubikopf und im stracken Kostüm erschien. Pop ist immer auch eine Fortsetzungsgeschichte bereits gestrickter Muster, Abweichung und Variation prämieren hier vor Autonomie und Innovation. Rabea Krollmann veröffentlichte im vergangenen Jahr einen markanten Seitenblick auf eine dieser perfektionistischen Überspitzungen im K-Pop, das Cross-Dressing.
Mit Cross-Dressing bezeichneten Transvestiten und Transsexuelle in den USA seit den siebziger Jahren das Tragen der Kleidung eines anderen Geschlechts, heute ist der Begriff allgemein verbreitet. Der Vergleich mit dem biologischen Geschlecht kann dabei vermieden werden, wenn das Auftreten in diesen anderen Kleidern allein im Vordergrund steht. Das ist bei K-Pop nicht der Fall, wie die Soziologin darlegt. Aus der Camp-Ästhetik wird zwar das Spiel mit den Geschlechtern übernommen, jedoch in einen konformistischen Unterhaltungssport überführt. Denn K-Pop ist, schaut man auf die Entwicklung des Genres seit den neunziger Jahren, inzwischen der Markenname und die Ausdifferenzierung für ein popkulturelles Phänomen, das in Seo Taiji seinen Trendsetter kannte, als er zwischen 1992 und 1996 Hip-Hop mit traditionell koreanischer Musik mischte, mit Techno und Heavy Metal.[i] Nach einer Krise des Trends um die Jahrtausendwende haben südkoreanische Musikunternehmer seinen neuen Mix dann aufgegriffen und industriell organisiert.
Bands werden heute aus speziell dafür ausgebildeten Kandidaten und Kandidatinnen öffentlich gecastet und beworben, mit austauschbaren Namen, in Formationen über den Rahmen von früher zumeist vier Mitgliedern weit hinaus, so dass eindrucksvolle Gesangschoreografien entstehen. Kritik und Individualität verblassen, Sinnesflut und Harmonisierung stehen auf dem Programm. Derart dass, so Krollmann, in dieser Überspitzung tatsächlich selbst die Musik in den Hintergrund tritt (wie sie im Rahmen eines DFG-Forschungsprojekts festhält): „In der Darstellung von Cross-Dressing in der K-Pop Szene beschreiben die Teilnehmerinnen ausschließlich ihre visuellen Eindrücke.“[ii] Auch wenn eine Gruppe aus jungen Männern in stereotypen Frauenkleidern auftretend die Stimmlage veränderten, sich ebenso gesanglich dem vermeintlich Weiblichen anzunähern versuchten, hatte das kaum Einfluss auf die vornehmlich visuelle Wahrnehmung ihres Auftritts. Man fühlt sich an die kreischenden Beatles-Fans erinnert, die nachweislich die Musik bei Konzerten nur rudimentär noch erfahren konnten, es ihrer Begeisterung und Hysterie aber keinen Abbruch tat, im Gegenteil. Die Musiker mögen frustriert gewesen sein – wollten sie doch nicht nur bekannt, vielmehr Musiker sein –, die Konsequenz im System K-Pop ist dabei nur naheliegend, sprich die Performance von Performern bestimmen zu lassen, ohne Referenz an das Eigentliche mehr. Pop im synästhetischen Spiegelpalast.
In seiner voluminösen Grundsatzschrift Pop – Geschichte eines Konzepts wies Thomas Hecken nachdrücklich darauf hin, dass das Bunte mit Pop verwickelt ist, das Glanzpapier mit der Sache.[iii] Die deutsche Poptheorie – ob journalistischer oder wissenschaftlicher Art – tut sich nach wie vor schwer damit, Frankfurt geschult, infantile Freude als Beweggrund von Pop von der Kindheit bis ins hohe Alter anzuerkennen, denn genau darin unterscheidet sich Pop von kritischen Disziplinen. Nichts erscheint einerseits so industriell ausgebeutet wie die Naivität von Kindern und Jugendlichen und andererseits so eigendynamisch über die kapitalistischen Fangnetze hinaus, folgt man etwa den Beobachtungen der Soziologin Gabriele Klein, die 2010 bereits darauf hinwies, wie Rezipientinnen globale Pop-Angebote sich selbst lokal auf den Leib schneidern, das Abweichen und Variieren kein Vorrecht der Produzenten ist, im Pop vielmehr allgemeine Praxis (entgegen etwa der Trennung in klassische Bühnenkunst und nurmehr lauschendes Publikum). Im Fall von K-Pop geht die Rechnung des emanzipatorischen self-empowerment auf Seiten der Nutzerinnen und Nutzer jedoch nicht so ohne weiteres auf, wie Krollmann feststellt: Cross-Dressing etwa wird weder von den Gruppen noch ihren Fans in den Alltag übertragen. Das biologische Geschlecht bleibt der sichtbare Hintergrund zum Rollenspiel, im Unterschied zu Praktiken der Travestie unter Transsexuellen zum Beispiel. Die traditionelle Geschlechterdichotomie, so Krollmann, wird auf die Art „noch unterstützt“.
Bleibt die Frage, wie Infantilität in der Popkultur zu bewerten ist und welche ‚abweichenden‘, sprich kritischen Spielräume bleiben. Beides muss zusammen gesehen werden, will man verstehen, warum kritische Vorreiter in der Popkultur wie Lester Bangs zugleich nichts auf den Hochglanzpop von Abba kommen lassen wollten. Von Kindesbeinen an wird man popkulturell angesteckt, durch die Medien, im Eltern- und Freundeskreis, und diese Ansteckung wirkt stimulierend, mitreißend, begeisternd, geht in die Kindesbeine, lädt ein zum Hüpfen und Tanzen, und diese Energie schwingt immer mit, wenn in der Pubertät Kritik die Oberhand gewinnt, Krisen im Erwachsensein überwunden werden wollen. Pop als Unterhaltung war schon lange da, bevor Differenz und Coolness einsetzten, Distinktion und Hierarchie. Darin bleibt er auch einem Gleichheitsversprechen treu – auf der Tanzfläche sehen wir uns wieder!
Infantilität bestimme die vier Ideale des Kapitalismus, meinte Max Scheler, und daran hat der Philosoph und Stimmperformer Ralf Peters im Rahmen seiner künstlerischen Kritik des Kapitalismus erinnert: Das erste infantile Ideal sei Größe, das zweite Schnelligkeit, das dritte Machtgefühl und das vierte Neuigkeit.[iv] Eine Kritik dieser Ideale steht vor der Frage, wie sie das, was Friedrich Schiller einst Spieltrieb nannte und ästhetisch wie für das Leben als bedeutsam ansah, mit sich zusammen denkt. Seo Taiji war die popkulturelle Quadratur des Kreises gelungen: mit kritischer Innovation sogar das Publikum begeistern zu können, einen Trend zu initiieren, der heute als globales Marktprodukt fungiert, allem Anschein nach ohne kritischen Mehrwert. In der Kindlichkeit steckt aber nicht nur Spaß, sondern auch Unwillen und Rebellion, Vorformen also artikulierter Kritik. Eine Genealogie der Popkultur, die auch diesen Vorformen und ihren (Aus-) Wirkungen gerecht wird, muss noch geschrieben werden – mit Hammer und iPhone.
Volkmar Mühleis (*1972) lehrt Philosophie und Ästhetik an der LUCA School of Arts in Brüssel und Gent.
Derzeit arbeitet er an einer Phänomenologie der Popkultur. Zuletzt erschienen von ihm das ‚Tagebuch
eines Windreisenden‘ (Passagen) und ‚Abschied von Morrissey – Ein Essay über Kunst und Moral‘ (Athena).
Er ist Mitglied diverser Fachgesellschaften und freier Mitarbeiter der Philosophischen Rundschau.
Quellenverzeichnis
Gabriele KLEIN, Popkulturen als performative Kulturen – Zum Verhältnis von globaler Imageproduktion und lokaler Praxis, in: populäre kultur – die herausforderung der cultural studies, hg. v. Udo Göttlich, Winfried Gebhardt u. Clemens Albrecht, Köln, 2010.
Rabea KROLLMANN, Cross-Dressing in der K-Pop Szene – Das Spiel mit den Sinnen, in: Der soziale Sinn der Sinne – Die Rekonstruktion sensorischer Aspekte von Wissensbeständen, hg. v. Paul Eisewicht, Roland Hitzler u. Lisa Schäfer, Wiesbaden 2021.
Ralf PETERS, Künstler sein im Kapitalismus – Zur Selbstpositionierung Kunstschaffender in einer ökonomisierten Lebenswelt, Oberhausen, 2018.
[i] Zur Geschichte des K-Pop s. KPOP History in 20 Minutes – From Seo Taiji to BTS, von DKDKTV, 2020, auf https://www.youtube.com/watch?v=kPS4tCHT6SA (letzter Aufruf: 3. Mai 2022).
[ii] Rabea KROLLMANN, Cross-Dressing in der K-Pop Szene – Das Spiel mit den Sinnen, in: Der soziale Sinn der Sinne – Die Rekonstruktion sensorischer Aspekte von Wissensbeständen, hg. v. Paul Eisewicht, Roland Hitzler u. Lisa Schäfer, Wiesbaden 2021, 213. Hierbei handelt es sich um das DFG-Forschungsprojekt Szenen – Ein prototypisches Feld zur (Neu-) Verhandlung von Geschlechterarrangements, das von 2015 bis 2019 stattfand, von den Soziologen Michael Meuser und Arne Niederbacher geleitet.
[iii] Vgl. Thomas Hecken, Pop – Geschichte eines Konzepts 1955-2009, Bielefeld, 2009, 19.
[iv] Vgl. Max Scheler, Ethik und Kapitalismus – Zum Problem des kapitalistischen Geistes, hg. v. Klaus Lichtblau, Wiesbaden, 2010.