Gerotechnologie – wo endet die Selbstbestimmung?

Von Franziska Sonnauer (Universitätsklinik Erlangen)


Zunehmende Digitalisierung, höheres Lebensalter und „Pflegemangel“ sind Treiber für eine stärkere Anwendung intelligenter Technologien im eigenen Wohnzimmer. Wie wollen wir altern und mit unserem eigenen Unterstützungsbedarf umgehen? Bedeutet Technologieeinsatz ein Mehr an Selbstbestimmung oder besteht die Gefahr von Fremdbestimmung? Die Antwort auf diese Fragen sollte nicht als Dichotomie, sondern als Kontinuum verstanden werden. Der Übergang („Kipp-Punkt“) zwischen Selbst- und Fremdbestimmung erfordert und eröffnet ethische Analysen.

Wie wird das Älterwerden von Morgen aussehen? Könnte sich intelligente Technologie als „trojanisches Pferd“ in unseren eigenen Wohnzimmern erweisen und mehr der Kommerzialisierung oder Kontrolle dienen, anstatt den Menschen mehr Selbstbestimmung und Freiheit zu ermöglichen? Schon heutzutage, doch sicherlich auch in der näheren Zukunft, ist von einem zunehmenden Einsatz von Technologien auszugehen, um einen höheren Unterstützungsbedarf – vor allem, doch nicht ausschließlich im Alter – zu adressieren. Begrifflichkeiten wie Ambient Assisted Living, Ambient Intelligence oder Gerotechnologie subsumieren Anwendungen, die datenübertragenden und  -verarbeitende Eigenschaften haben. Konkreter formuliert sind das beispielsweise Sturz- und Bewegungsmelder oder Wearables zur Erfassung von Körperdaten. Algorithmen können Auffälligkeiten, etwa in den täglichen Bewegungsabläufen, erkennen und diese auch an ein externes Helfernetzwerk weiterleiten oder einen Alarm auslösen. Neben den „Heerscharen“ von externen Helfernetzwerken bedarf es an technischen Serviceteams, die in Zukunft in den Wohnzimmern älterer Menschen wiederholt diese Techniken installieren, reparieren, erklären oder „warten“. 

Wird das Wohnzimmer zum medizinisch-pflegerischen Hightech-Standort und wer bestimmt wie wir damit leben? In Anbetracht der Vielfalt des Marktes, möglichem ökonomischen Druck von Seiten des Gesundheitssystems, mangelnder Verfügbarkeit menschlicher Pflege und dem Aussterben von „klassischen“ Mehrgenerationenhäusern ist es nicht banal diese Fragen zu stellen. Denn auch wenn intuitiv die Antwort lautet, dass die betroffene Person selbst entscheiden sollte, wie sie leben möchte, ist möglicher Druck von Seiten anderer Interessensgruppen nicht von der Hand zu weisen.

In den Debatten um den Technologieeinsatz werden vielfache Risiken und Potenziale für die Selbstbestimmung des Menschen durch (intelligente) Technologien und deren soziotechnische Einflüsse benannt. Man könnte es als eine Verwirklichung von Selbstbestimmung verstehen, wenn Technologien dazu beitragen, das Leben in den eigenen vier Wänden wie gewünscht fortführen zu können, anstatt eines Wohnortwechsels, etwa in ein Pflegeheim. Der Erhalt der eigenen Gesundheit und Früherkennung kritischer Gesundheitszustände kann ein wichtiger Wert sein. Andererseits fällt in Debatten um den Einsatz in privaten Lebensräumen auch der Begriff „Überwachungstechnologie“; Diskriminierung durch intelligente Algorithmen wird als mögliches Risiko verstanden ebenso wie Konsequenzen, die sich aus Fehlalarmen ergeben können. Eingriffe in die Privatsphäre, mangelnde Möglichkeiten, eine informierte Entscheidung für derartige Technologien zu treffen und ein Bedürfnis Angehöriger nach mehr Sicherheit können darüber hinaus zu Einschränkungen individueller Selbstbestimmung führen.

Doch ab wann ist die individuelle Selbstbestimmung derart eingeschränkt, dass von Fremdbestimmung gesprochen werden kann? Dies kann an dem Punkt der Fall sein, an dem der eigene Wille überwunden wird, beispielsweise durch Täuschung oder Zwang. Denkbar ist, dass die Einschränkungen durch Technologien solche Ausmaße annehmen. Beispielsweise indem (intelligente) Technologien beim Auftreten ungewöhnlicher Aktivitäten Wohnungstüren schließen oder Menschen ihre eigenen Lebensgewohnheiten aus Angst, Auffälligkeiten beim Sensor zu erzeugen, stark umstellen.

Die bloße Nennung zuvor angedeuteter Potenziale und Risiken für die Selbstbestimmung eines Menschen durch technologische Anwendungen oder deren Auswirkungen suggeriert, dass eine Einteilung von technologischen Besonderheiten entsprechend bestimmten Charakteristika möglich wäre in „zuträglich“ oder „nicht zuträglich“ für die Selbstbestimmung des Menschen. Dadurch kann jedoch der vermeintliche Widerspruch nicht aufgelöst werden, dass für die eine Person eine kontinuierliche „24-Stunden“ Überwachung zu Hause Ausdruck der Selbstbestimmung ist und für eine andere Person das gleiche Szenario Erleben von Fremdbestimmung bedeutet. Es ist daher lohnend, sich nicht nur mit Beispielen für den Ausdruck von Selbst- oder Fremdbestimmung beim Technologieeinsatz auseinanderzusetzen, sondern auch eine Vorstellung zum Übergang zwischen Selbst- und Fremdbestimmung zu entwickeln. Das ist notwendig, um einen selbstbestimmten Einsatz (intelligenter) Technologien zur Gesundheitsversorgung im eigenen Wohnzimmer sicherzustellten. Der Übergang wird im Folgenden als „Kipp-Punkt“ bezeichnet und aus der Analyse dieses Kipp-Punkts leiten wir ab:

  • Die Perspektive der betreffenden Person selbst ist notwendig, um überhaupt einen Zugang zum „inneren“ Kipp-Punkt und zum Erleben der Person zu haben. Allein von außen können nur Extremzustände beurteilt werden. So kann von Fremdbestimmung ausgegangen werden, wenn eine Person aufgrund eines durch die Technologie ermittelten gesundheitlichen Risikozustandes zu Hause festgehalten werden würde, obwohl sie in vollem Bewusstsein um den Zustand dennoch lieber nach draußen gehen würde. Genau am Übergang zwischen Selbst- und Fremdbestimmung ist es nicht möglich dies „von außen“ festzulegen, wie eine Person das innerlich wahrnimmt.
  • Durch die Annahme eines Kipp-Punktes ergibt sich gleichzeitig auch, was eine Person als selbstbestimmt und was als fremdbestimmt erlebt. So kann alles „jenseits“ des Kipp-Punktes als fremdbestimmt bezeichnet werden, was auch subtilere Formen der Fremdbestimmung erkennen lässt.
  • Die dichotome Frage, ob eine Technologie der Selbstbestimmung eines Menschen dienlich ist oder nicht wird deutlich verändert. Sie wird zur Frage inwieweit sich eine Person durch die Technologienutzung als selbstbestimmt erlebt. Hierzu ist es notwendig, den inneren Kipp-Punkt als „veränderlich“ anzusehen. So ist denkbar, dass eine Person bei unzureichender Technikkompetenz den Einsatz einer (intelligenten) Technologie zu Hause zunächst als Überforderung und Kontrollverlust erlebt, doch der innere Kipp-Punkt durch Kompetenzerwerb „verschoben“ wird und damit die Technologie als unterstützend empfunden werden kann.

Die Annahme eines innerlichen, veränderlichen Kipp-Punktes liefert Argumente dafür, die Perspektive (älterer) betroffener Personen in den Mittelpunkt zu stellen – nur unter Einbezug dieser Perspektive kann vermieden werden, dass (intelligente) Technologien zu Hause zur ungewollten „Zwangsmaßnahme“ in der Gesundheitsversorgung werden. In diesem Kontext ist auch interessant zu überlegen welche Rolle nahestehenden Personen hierbei zukommt – denkbar ist, dass nahestehende Personen sowohl Druck ausüben können (z.B. durch Zuneigung oder Versagen von Unterstützung im Falle einer (nicht) Nutzung von intelligenten Unterstützungssystemen), andererseits aber auch im Sinne einer Ausweitung der individuellen Selbstbestimmung („relationale Autonomie“) eine wichtige unterstützende Rolle einnehmen. Geht man davon aus, dass der innere Kipp-Punkt veränderlich ist, so wird auch die Frage aufgeworfen, wie auf individueller und gesellschaftlicher Ebene Bedingungen geschaffen werden können, die möglichst viele Menschen unterstützen einen Einsatz – intelligenter oder auch „trojanischer“ – Technologien zu Hause als selbstbestimmt zu erleben.


Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Artikel der in Ethik in der Medizin veröffentlicht wurde.


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Franziska Sonnauer ist Assistenzärztin in der Psychiatrischen und Psychotherapeutischen Klinik der Universitätsklinik Erlangen. Sie studierte Psychologie und Humanmedizin und beschäftigt sich im Rahmen ihrer Promotion an der Professur für Ethik in der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg mit ethischen Aspekten neuartiger Technologien bei der häuslichen Gesundheitsversorgung für ältere Menschen. Sie ist Mitglied des von der Kraft-Stiftung (München) geförderten Graduiertenkollegs „Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere“ (Leitung: Prof. Dr. A. Frewer). Institutswebsite, Graduiertenkolleg: https://www.grk.menschenrechte-und-ethik.med.fau.de/