18 Jun

II: Was „Sex haben“ bedeutet

von Peter Wiersbinski (Regensburg)


Eine gute Erklärung dessen, was wir mit den Worten „Sex haben“ bezeichnen, muss zwei Dinge leisten: sie muss zum einen verständlich machen, wie es kommt, dass die verschiedenen Arten von Interaktionen und Praktiken, die wir zurecht so nennen, so rein gar nichts gemeinsam zu haben scheinen. Denn keine Eigenschaft, die uns im Zuge einer Erklärung des Begriffs einfallen könnte – „für Fortpflanzung offen“, „aus Liebe vollzogen“, „auf Orgasmus ausgerichtet“, „unter gegenseitiger Stimulation der Sexualorgane“ und so weiter–, trifft auf alles zu, was zurecht als „Sex haben“ bezeichnet wird. Und viele der Eigenschaften, die uns einfallen, treffen auch auf anderes als Sex zu. Zum anderen muss eine gute Erklärung von „Sex haben“ aber auch verständlich machen, weshalb alle diese so unähnlichen Interaktionen, die äußerlich wie völlig verschiedene Tätigkeiten aussehen, doch wenigstens das miteinander teilen: dass sie Weisen sind, miteinander Sex zu haben. An der Aufgabe, beides unter einen Hut zu bringen, kann man leicht verzweifeln.[1]

Ich glaube, dass der Weg zu einer Lösung dieser Aufgabe[2] mit einer Erkenntnis beginnen sollte, die Sigmund Freud zuerst formuliert hat – einer im besten Sinne philosophischen, nämlich zugleich allbekannten und unerhörtem, zugleich trivialen und rätselhaften Erkenntnis. In der ersten seiner drei Abhandlung zur Sexualtheorie stellt Freud fest, dass die Handlungen, die die sexuellen Abirrungen ausmachen, zugleich ein normaler Teil der normalen Sexualität sind. „Am normalsten Sexualvorgang“, so Freud, sind bereits „jene Ansätze kenntlich, deren Ausbildung zu den Abirrungen führt, die man als Perversionen beschrieben hat.“[3] Allbekannt ist dieser Umstand, weil den meisten, die überhaupt Sex haben, schon immer klar ist, dass Handlungen wie Küssen, Betasten und Streicheln nicht allein für das, was Freud als den „normalen Sexualvorgang“ bezeichnet, den heterosexuellen „Akt der Begattung“ nämlich, nicht unbedingt notwendig sind. Sondern sie gehen sogar da, wo so ein Akt tatsächlich stattfindet, ständig in einer über das für Erektion und Lubrikation wenigstens Förderliche weit hinaus und werden in einer sich nutzlos verselbständigenden, die Vereinigung der Genitalien verdrängenden Art und Weise praktiziert. Von der sexuellen Begeisterung für Brüste oder Anus, der Fetischisierung von Kleidungsstücken oder dem sadistischen und masochistischen Rollenspiel ganz zu schweigen. Diese Dinge sind völlig gewöhnlich und zugleich aus der Sicht des Ziels der Vereinigung der Genitalien völlig entbehrlich. Weshalb sie ja auch „Abirrungen“ sind.

Das Unerhörte liegt nun aber nicht darin, dass die Leute dem ernsten und erhabenen Ziel des Vorgangs so wenig Achtung zollen. Das Unerhörte und Rätselhafte liegt in der Definition des Sexhabens, die unausgesprochen in Freuds Erkenntnis enthalten ist: Am normalsten Sexualvorgang sind bereits die Abirrungen zu erkennen – die Abirrungen von diesem normalsten Sexualvorgang nämlich. Das Normale, heißt das, ist in der Sexualität nicht zu trennen vom Unnormalen, beide bilden eine Einheit. Der normale Sex ist der vom normalen Sex abweichende, abirrende Sex.

Warum ist das eine unerhörte Feststellung? Freud selbst ist der Ansicht, dass er eine soziologische und medizinische Erkenntnis formuliert: der vom normalen abweichende Sex ist der bei weitem häufigste, ja ubiquitäre Sex, und er ist psychiatrisch unbedenklich. Wenn das alles wäre, dann wäre seine implizite Definition als Definition durchaus akzeptabel. Denn dann hätten wir es mit einer Äquivokation des Wortes „normal“ zu tun: das, wovon die sexuellen Abirrungen abirren, wäre der normale Sex im ontologischen, die wahre Natur des Sex betreffenden Sinne, während der Sex, dessen Teil die Abirrungen sind, der normale Sex im statistischen und medizinischen Sinne wäre. Aber diese Deutung von Freuds Erkenntnis kann nicht richtig sein. Das sieht man schon daran, dass der gemäß dieser Deutung ontologisch normale Sex − der reine, animalische, von allen liebevollen und leidenschaftlichen Abirrungen gereinigte Akt der Begattung − eine eher unmenschliche Praktik wäre. Wenn solcher Sex unter Menschen überhaupt vorkommt, dann entweder nur als Ausdruck extremer Entfremdung und Verachtung, als Vergewaltigung zum Beispiel, oder aber als Spiel mit der Assoziation solcher Verachtung. Und damit wäre solcher Sex auch schon nicht mehr rein und animalisch, sondern aufgeladen mit Motiven und Bedeutungen, die nur Menschen haben können. Normal, auch und gerade im ontologischen Sinne, ist der von abweichenden und abirrenden Handlungen durchzogene, zerfaserte Sex oder auch der allein aus diesen Abirrungen bestehende Sex. Es liegt also keine Äquivokation des Wortes „normal“ vor. Und das ist unerhört – philosophisch unerhört. Denn damit nimmt Freuds Bestimmung des Sex eine unmögliche definitorische Form an. Diese Form ist: Das normale X ist das, was vom normalen X abweicht, was also nicht X ist. Das ist nicht nur eine zirkuläre Begriffsbestimmung, weil das, was definiert werden soll, in der Definition selbst vorkommt. Sondern es handelt sich darüber hinaus auch noch um eine sich selbst aufhebende Bestimmung, die X als das bestimmt, was nicht es selbst ist. Wie könnte das eine erhellende Auskunft über X sein? Das eigentlich Rätselhafte an Freuds Erkenntnis ist aber, dass wir trotz der absurden Form seiner Definition nicht umhinkommen, zuzugeben, dass sie eine erhellende Auskunft ist – zumindest dann, wenn das X, das wir verstehen wollen, der menschliche Sex ist. Freud legt sich auf eine sinnvolle, verstehbare These fest. Anders, als ihre logische Form es nahelegt, ergibt sie also Sinn. Aber wie ist das möglich? Und welchen Sinn ergibt sie?

Aus meiner Sicht spiegeln sich in der defekten logischen Form der Freudschen Erkenntnis zwei Tatsachen wieder. Die Definition hebt sich selbst auf, weil Sex haben etwas in sich Widersprüchliches, mit sich selbst Unvereinbares ist, und sie ist zirkulär, weil Sex haben eine reflexive, auf sich selbst bezogene und sich zu sich selbst verhaltende Tätigkeit ist. Worin genau der Widerspruch besteht und worin die Reflexivität, das lässt sich aus Freuds Erkenntnis allein nicht entnehmen. Und vielleicht lässt es sich auch gar nicht restlos aufklären. Mein Vorschlag für eine Deutung dieser Verhältnisse – und damit mein Vorschlag für eine Erklärung dessen, was der Begriff „Sex haben“ bedeutet – lautet, dass Sex zu haben eine Tätigkeit ist, die das Potential zu einer bestimmten Erfahrung enthält, nämlich zu der Erfahrung, ungetrennt von einem konkreten anderen Menschen zu sein, und vermittels der Erfahrung dieses konkreten Ungetrenntseins zu der weiteren Erfahrung, ungetrennt zu sein von allem, was ist. Diese Erfahrung der Kontinuität, die das Sexhaben nicht geradewegs verschafft, sondern auf die es eine Aussicht eröffnet, oder die es verspricht, ist eine in sich widersprüchliche Erfahrung. Wir sehnen uns nach ihr und suchen sie, weil diese Kontinuität die Erlösung von den Attributen unserer Endlichkeit bedeutet, von Verlorenheit, Trostlosigkeit, Krankheit und Vergänglichkeit. Aber wir fliehen sie auch, denn sie stellt unsere Existenz infrage, unser Dasein als das, was wir sind und sein müssen, insofern wir überhaupt existieren: sterbliche, schwache, voneinander getrennte und unteilbare Wesen. Deshalb ist Sex haben nie einfach nur Sex haben – es ist nie ein einfaches, selbstgewisses Suchen dieser Erfahrung des Ungetrenntseins –, sondern es ist eine in sich widerspruchsvolle, zugleich suchende und fliehende Tätigkeit und damit eine, die sich zu sich selbst – zu der Erfahrung, auf die sie die Aussicht eröffnet – verhält. Diese – zugegebenermaßen selbst sehr erklärungsbedürftige – Erklärung ist ein Echo verschiedener philosophischer Theorien über Sexualität und Erotik, aber ihr nächstes Vorbild sind die Überlegungen George Batailles in L’Erotisme. „Wir sind diskontinuierliche Wesen“, sagt Bataille da, „Individuen, die getrennt voneinander in einem unbegreiflichen Abenteuer sterben, aber wir haben Sehnsucht nach der verlorenen Kontinuität. […] [B]ei allen Menschen bestimmt diese Sehnsucht die […] Erotik“, wobei Batailles „Erotik“, zumindest in ihrer grundlegenden Form, der „Erotik der Körper“, nichts anderes ist als die besondere menschliche Sexualität.[4]

Diese Bestimmung des Begriffs „Sex haben“ ist, wie gesagt, selbst erklärungsbedürftig. Aber mir scheint, wenn man sie verständlich, oder wenigstens verständlicher machen kann, dann eröffnet sie die Aussicht auf eine Erklärung des Sexhabens, die sowohl die Einheitlichkeit als auch die verwirrende Vielfalt und Wandelbarkeit des Phänomens zusammenhalten kann. Das, was allen sexuellen Interaktionen gemein ist – was sie zu sexuellen Interaktionen macht –, ist die Aussicht auf die Erfahrung des Ungetrenntsein. Und das, was sexuelle Interaktionen so vielgestaltig werden lässt, ist die Ambivalenz dieser Erfahrung und des Umgangs mit ihr.

Wie kommen sexuelle Interaktionen dazu, das Potential zu einer Erfahrung des Ungetrenntseins zu enthalten? Im Zentrum meiner Erklärung dieses Zusammenhangs steht die Idee, dass das, was „Sex haben“ für Menschen bedeutet, auf einer Auslegung des biologischen Sinns der menschlichen Sexualität beruht, und zwar auf einer Auslegung, die zugleich imaginär und notwendig ist. Dieser biologische Sinn ist der Aspekt unserer Sexualität, der die größte Ähnlichkeit mit dem Sexualverhalten anderer Säugetiere besitzt und dem der heterosexuelle, penetrativ-vaginale und für Zeugung offene Geschlechtsverkehr am nächsten kommt. Was es für die Ethik der Sexualität bedeutet, dass im Zentrum meiner Antwort auf die Frage, was „Sex haben“ bedeutet, eine Auslegung dieser seltenen, in jeglicher Hinsicht verzichtbaren und außerdem für homosexuelle Menschen irrelevanten Form sexueller Interaktion steht, darauf gehe ich am Ende des Beitrags ein. Zuerst muss ich aber etwas dazu sagen, was der Inhalt dieser Auslegung ist, und was es heißt, dass sie „imaginär“ und „notwendig“ ist.

Die Auslegung setzt sich aus zwei Motiven zusammen, die Bataille mit seiner Wendung von der „Sehnsucht nach Kontinuität“ zusammenfasst. Beide tauchen in der eher schmalen Geschichte des philosophischen Nachdenkens über Sexualität und Liebe immer wieder auf (was nicht verwunderlich ist, wenn sie wirklich Teil einer notwendigen Auslegung sind). In dem Text, mit dem dieses Nachdenken in systematischer Form beginnt, in Platons Symposion, finden sich beide. Das eine ist das Motiv der Teilhabe an der göttlichen Unendlichkeit durch Fortpflanzung, das andere ist das der Verschmelzung mit dem begehrten Gegenüber, über das sich die Rede des Aristophanes lustig macht. „Kontinuität“ ist nicht bloß eine nützliche Zusammenfassung und Überschrift für beides, sondern diese beiden Motive können nur zusammen verstanden werden. Die Form der Kontinuität, von der das zweite handelt, ergibt sich aus der Form der Kontinuität, von der das erste handelt, und umgekehrt.

Das erste Motiv besteht in der Vorstellung, dass der Grund von „Liebe“ und „Verlangen“ bei Tieren und bei den Menschen, die für Zeugung und Schwangerschaft offenen Sex haben, in dem Bestreben liegt, „so weit wie möglich fortzudauern und ewig zu sein.“[5] Das Bestreben der beiden Individuen, die da Sex haben, ist also, vermöge dieses Aktes ihre zeitliche Endlichkeit, die Vergänglichkeit ihrer Existenz zu überwinden, nie zu sterben, sondern ewig fortzudauern. Mit dieser Auskunft verbindet sich bei Platon – ebenso wie bei Aristoteles, Thomas von Aquin und Hegel, die seine Idee ohne größere Modifikationen übernehmen –, sogleich die Einschränkung, dass dieses Bestreben nicht erfüllbar ist. Oder zumindest kann es nicht das erreichen, auf was es ausgerichtet ist, sondern nur etwas Ähnliches oder Verwandtes, nämlich das Fortdauern der Spezies, der die Individuen angehören, über den Tod dieser Individuen hinaus: „[A]uf diese Weise erhält sich alles Sterbliche, nicht etwa dadurch, daß es schlechterdings immer dasselbe bleibt […], sondern dadurch, daß das Abgehende und Veraltende stets ein anderes Neues, von gleicher Art mit sich selbst, zurückläßt.“[6] Das Individuum dauert vermöge der Fortpflanzung, wie Aristoteles es ausdrückt, „nicht als es selbst, sondern wie es selbst.“[7]

Tatsächlich stiftet die Fortpflanzung nicht nur eine Kontinuität der Art nach, sondern auch eine individuelle, die konkreten Exemplare betreffende Kontinuität. In gewisser Weise setzen sich diejenigen, die zeugen, in dem fort, was gezeugt wird. Kinder tragen sowohl augenfällige als auch mit wissenschaftlichen Methoden nachweisbare Züge ihrer Eltern an und in sich. Aber die Kontinuität, nach der wir uns laut Bataille sehnen und die laut Platon in der Fortpflanzung angestrebt wird, ist das Sich-Fortsetzen der Existenz des Individuums, das zeugt, nicht das Weiterbestehen von einigen seiner Merkmale und Eigenschaften in einem anderen Individuum. Wenn man so will, stellt die biologische Wirklichkeit der Fortpflanzung einen ironischen Kommentar zu dieser Sehnsucht nach Kontinuität dar, eine Enttäuschung. Das bedeutet aber, dass die Vorstellung vom biologischen Sinn des Sexhabens, die in der Zeugung eine Überwindung der Sterblichkeit sieht, eine überschwängliche, über die bloßen biologischen Fakten hinausgehende und imaginäre Auslegung ist. Und zwar in zwei Hinsichten. Zum einen behandelt sie das biologische Vermögen, das bloß den Fortbestand der Gattung oder einiger Eigenschaften des Individuums sichern kann, als ein Vermögen zum Fortbestehen des Individuums selbst. Und damit behandelt sie es in gewisser Weise als ein Bild − eine Metapher oder ein Gleichnis – für etwas anderes. Damit ist nicht gesagt, dass diese Auslegung irrig und unwahr ist und dass jede Erfahrung, die auf ihr beruhte, eine bloß eingebildete Erfahrung sein muss. Es ist lediglich gesagt, dass die Wirklichkeit, die sie beschreibt, keine rein biologische Wirklichkeit sein kann. Wenn es aber eine Wirklichkeit gibt, die von dieser Auslegung erfasst wird, dann wird sie auch in ihr nicht buchstäblich und denotierend beschrieben, sondern – und das ist die zweite Hinsicht des Imaginären – auch die Auslegung ist lediglich ein Bild, eine Metapher dieser Wirklichkeit.

Das zweite Motiv ist das der Verschmelzung der beiden, die da Sex haben – das Motiv der Herbeiführung einer Kontinuität zwischen zwei Menschen, die bereits existieren. Diese Sehnsucht thematisiert im Symposion die Rede des Aristophanes mit dem Mythos von den Kugelmenschen. Aber aus meiner Sicht ist ein anderer Text aufschlussreicher, um das Motiv zu verstehen, nämlich Kants Ausführungen über die „Pflicht gegen seinen Körper in Ansehung der Geschlechter Neigung“. Kant spricht, wie der Titel es sagt, über Pflichten, also über die Sexualmoral. Aber indirekt sagt er auch etwas über die Natur der Tätigkeit, die das Sexhaben ist. Er geht davon aus, dass die „Geschlechts-Neigung“, also das Streben, das sexuellen Interaktionen zugrundeliegt, keine von einem anderen Wollen abgeleitete, instrumentelle Neigung ist, sondern eine genuine. Sie sei, so Kant, die einzige Neigung die wir kennen, deren Objekt ein anderer Mensch ist. Ihr Objekt ist, wohlgemerkt, nicht, dass die andere Person etwas Bestimmtes tut oder zulässt, zum Beispiel: mit gewissen Stellen ihres Körpers meinen Körper an gewissen Stellen zu berühren. Sondern das Objekt dieser Neigung ist eine Substanz: der andere Mensch selbst. Weiter nimmt Kant an, dass die Erfüllung dieser Neigung, also der Genuss des anderen Menschen, einer Behandlung dieses anderen Menschen als eine Sache gleichkäme. Eine Behandlung als Sache steht aber im Widerspruch zu dem, was dieser andere Mensch ist: ein autonomes, sich selbst bestimmendes Wesen – ein Zweck an sich, nicht ein Zweck für eine/n andere/n. Und ein solcher Widerspruch ist für Kant bekanntlich das, was das Schlechte, moralisch Verbotene ausmacht. Daraus leitet Kant ab, dass die einzige Weise, wie es moralisch erlaubt sein kann, Sex zu haben, in einem Verhältnis zwischen zwei Menschen besteht, durch das es ausgeschlossen ist, dass einer den anderen als Sache behandelt. Dieses Verhältnis ist laut Kant, dass die beiden Personen zu einer einzigen Person werden, mit einem einzigen Geist und einem einzigen Willen – ein Erfordernis, das Kant in der Ehe erfüllt sieht, denn die Ehepartner seien dank des Ehevertrags nurmehr ein und dieselbe Person.

Zumindest dieser letzte Übergang in Kants Argument scheint ganz offen einen Fehler zu enthalten, nämlich eine Äquivokation. Dass zwei kraft des bürgerlichen Gesetzbuches und der standesamtlichen Zeremonie eine rechtliche Person werden, heißt ja nicht, dass sie im Hinblick auf ihre zeitliche und räumliche Identität ein und dieselbe Person werden. Genau so ein metaphysisches Einswerden muss Kants Argument aber verlangen, um jede Möglichkeit der gegenseitigen Instrumentalisierung auszuschließen. Und genau so ein Einswerden ist auch gemeint, wenn Bataille von der Sehnsucht nach Kontinuität spricht. Der von Kant angestrebte Schluss lässt sich aber erreichen, wenn wir das andere, erste Verständnis der Sehnsucht nach Kontinuität – des Verlangens nach der Fortdauer der eigenen Existenz – in das Argument investieren und es von vornherein nicht als ein moralisches, sondern als ein (imaginäres) metaphysisches Argument lesen. Der „Genuss“, auf den die „Geschlechts-Neigung“ aus ist, wäre dann nicht direkt der andere Mensch, sondern zunächst die Fortdauer der eigenen Existenz, die durch den Sex mit der anderen Person erreicht werden kann. Aber auf diesen Genuss sind beide Partner/innen aus. Beide wollen durch die andere oder den anderen ewig werden. Da die biologischen Verhältnisse aber nun einmal so sind, wie sie sind, lässt sich diese Fortdauer nur erstreben, indem beide zusammen sich in dem Wesen fortsetzen, das sie zeugen. Und das heißt, beide werden in diesem Wesen, in dem sie beide fortdauern wollen, eins – ein und dasselbe Wesen.

Das zweite Motiv ist offenkundig eine nicht weniger überschwängliche, nicht weniger imaginäre Auslegung der biologischen Verhältnisse, in denen nicht zwei Menschen, sondern – wenn „alles gut“ oder „etwas schief geht“ – nur Eizelle und Samenzelle miteinander verschmelzen. Und diese biologische Verschmelzung ist nichts, was sich in der Tätigkeit des Sexhabens erfahren lässt, sie ist kein Teil der Erfahrung, die wir darin suchen und fliehen. Zudem gehen die beiden Individuen, die miteinander Sex haben, nach dem Akt als die auseinander, als die sie zusammengekommen sind. Aber trotzdem könnte es sein, dass sich in der sexuellen Interaktion eine Kontinuität erfahren lässt, wie sie das zweite Motiv beschreibt. Dann nämlich, wenn diese Kontinuität durch das Motiv bildhaft, metaphorisch bezeichnet wird und wenn es offen lässt − wenn es der sexuellen Erfahrung selbst überlässt, zu bestimmen −, worin das tertium comparationis besteht.

Die Motive dieser Auslegung sind aus meiner Sicht notwendige Vorstellungen von der menschlichen Sexualität. Sie ergeben sich aus der Struktur der Tätigkeit, die sie zu verstehen versuchen. Sie sind nicht an individuelle psychische Dispositionen gebunden, sondern sie prägen den Umgang aller Individuen mit ihrer Sexualität – wobei es gleich ist, ob sie in den Phantasien und Gedanken dieser Individuen vorkommen oder nicht. Und sie hängen auch von keinem bestimmten kulturellen Kontext und von keiner historischen Epoche ab, obwohl sie in verschiedenen kulturellen, religiösen und künstlerischen Traditionen auf ganz unterschiedliche Weise dargestellt werden und obwohl sie sich in Sexualpolitiken niederschlagen können, die einander geradewegs entgegengesetzt sind.

Wenn meine Interpretation der Freudschen Erkenntnis auf dem richtigen Weg ist, dann deutet sie einen Ausweg aus dem Dilemma an, das ich eingangs beschrieben habe. Sie macht zum einen verständlich, was allen sexuellen Interaktionen gemeinsam ist, und erklärt zum anderen, weshalb die Interaktionen, die wir zurecht mit dem Begriff „Sex haben“ bezeichnen, so wenig gemeinsam haben müssen. Die Einheit des Sexhabens wird gestiftet durch das Versprechen der Erfahrung der beiden Aspekte von Kontinuität, die im Motiv der Fortdauer und im Motiv der Verschmelzung zum Ausdruck kommen. Das sexuelle Begehren ist zuerst und im Grunde die Sehnsucht nach dieser Erfahrung. Die Uneinheitlichkeit und Vielgestaltigkeit des Sexhabens erklärt sich aus der Ambivalenz dieser Erfahrung und aus der Widersprüchlichkeit des Strebens nach ihr. Sex zu haben ist nicht einfach Ausdruck einer Sehnsucht, unendlich zu werden und eins zu werden mit dem Gegenüber, es ist zugleich und unausweichlich auch Ausdruck einer Angst: der Angst, sich im Gegenüber und in der Unendlichkeit zu verlieren, gar nicht mehr selbst zu sein. Und mit dieser Angst geht der ebenfalls genuin sexuelle Wunsch einher, sich gegenüber der Kontinuität, die der Sex in Aussicht stellt, als sterbliches und getrenntes Individuum zu behaupten. Die „Abirrungen“, die den menschlichen Sex nach Freuds Erkenntnis ausmachen, sind zu erklären als Versuche des Umgangs mit diesem in sich konflikthaften, sich gegen sich selbst wendenden Begehren. Diese Versuche des Umgangs können bestimmte sexuelle Praktiken sein, die die beiden Motive in variierenden Graden der Ausdrücklichkeit thematisieren und inszenieren und für die sich die Partner/innen mehr oder weniger frei entscheiden. Es können aber auch sexuelle Vorlieben und Orientierungen sein, Entscheidungen für eine/n Partner/in des gleichen oder des anderen Geschlechts etwa, oder für eine nicht-binäre Person, wie frei eine solche „Entscheidung“ auch immer sein mag.

Diese Bestimmung des Begriffs „Sex haben“ ist heterozentristisch, weil ihr Ankerpunkt der biologische Sinn von Sex ist, der von Gegengeschlechtlichkeit zwar sexualpolitisch und medizinisch, aber nicht begrifflich getrennt werden kann. Aber sie ist nicht heteronormativ. Sie ist deshalb nicht heteronormativ, weil sich aus meiner Erklärung ohne viele weitere zusätzliche Annahmen gar keine Thesen darüber ableiten lassen, welche Arten von Sex und welche Sexualitäten moralisch respektabel sind und welche nicht. Es handelt sich zwar um eine ethisch gehaltvolle Erklärung, weil sie verständlich macht, wie existenziell und bedeutsam die Einsätze sind, die mit dem sexuellen Begehren auf dem Spiel stehen. Aber sie enthält keine moralische Auf- oder Abwertung der Heterosexualität gegenüber irgendeiner anderen Sexualität. Im Gegenteil: gemäß meiner Erklärung ist klar, dass dem aus welchem Grund auch immer nicht für Fortpflanzung offenen Sex gegenüber dem für Fortpflanzung offenen Sex nichts fehlt. Alles, was Sex überhaupt fehlen kann, fehlt schon dem für Fortpflanzung offenen Sex, und alles, was dieser Sex erreichen kann, kann auch der nicht für Fortpflanzung offene erreichen. Denn Sex ist nicht auf Fortpflanzung ausgerichtet, sondern auf die Erfahrung von Kontinuität, die ihrerseits nicht auf reproduktivem Sex beruht, sondern auf der imaginären Auslegung des reproduktiven Sex. Die Erfahrung von Kontinuität bedarf der Idee der Fortpflanzung lediglich als eines Ausgangspunktes für ihre Imagination. Und mehr als eine Erfahrung im Modus des Imaginären gibt es auch für Heteros nicht. Deswegen ist homosexueller Sex, oder Sex, bei dem sich gegengeschlechtliche cis-Partner/innen gegenseitig masturbieren, oder verhüten, oder Sex bei dem sich zwei nur leidenschaftlich küssen und streicheln, oder einander virtuos quälen und Schmerzen oder Erniedrigungen zufügen, nicht weniger nah dran am eigentlichen Ziel des Sexhabens. Sondern diese verschiedenen Weisen, Sex zu haben, verhalten sich lediglich anders zu diesem zugleich ersehnten und gefürchteten Ziel.


Peter Wiersbinski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Universität Regensburg. Er arbeitet zur Zeit über Metaethik (vor allem moralischer Relativismus) und die Philosophie der Sexualität.


[1] Siehe meinen Beitrag auf diesem Blog vom 9. Mai 2019: „I. Was bedeutet ‚Sex haben‘?

[2] Ich entwickle im Folgenden lediglich notwendige Bestimmungsstücke des Begriffs „Sex haben“, und auch diese nur in Umrissen. Die Bestimmungen, die ich nenne, verbinden Sex zumindest teilweise mit der (romantischen, leidenschaftlichen oder partnerschaftlichen) Liebe und mit bestimmten religiösen und insbesondere mystischen Erfahrungen. Auch in dieser Hinsicht ist mein Ansatz von George Batailles Theorie der Erotik inspiriert; vgl. unten, Fn. 4. Um die sexuelle Erfahrung von Liebe und Gotteserfahrung abzugrenzen, müsste die spezifische körperliche Dimension des Sex eingehender entwickelt werden.

[3] Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zu Sexualtheorie, „I. Die Abirrungen“, Reclam Verlag 2010.

[4] George Bataille, Der heilige Eros, „Einführung“, übers. v. Max Hölzer, Hermann Luchterhand Verlag 1963.

[5] Platon, „Das Gastmahl“, in: Sämtliche Dialoge, Band 3, übers. v. Otto Apelt, Felix Meiner Verlag 1988.

[6] Ebd.

[7] Aristoteles, Über die Seele, übers. v. Willy Theiler, Rowohlt Verlag 1968.

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