06 Aug

Ist die Alternative „Pornografie“ tatsächlich Pornografie?

von Natascha Bencze (Zürich)


Hinsichtlich des unbestreitbar grossen Einflusses, den der sexuelle Trieb auf unser Leben hat, scheinen den philosophischen Auseinandersetzungen mit der menschlichen Sexualität keine Grenzen gesetzt zu sein. Oftmals richten wir unser Verhalten, unsere Handlungen und Entscheidungen danach, was unsere potentiellen Chancen auf die Befriedigung unserer sexuellen Bedürfnisse erhöht. Welche Attribute dabei als besonders wirksam gelten und weshalb dies der Fall ist, sind Fragen, die sich einerseits mit den individuellen Vorlieben befassen, andererseits aber auch übertragen auf die Gesellschaft und in Bezug auf die Kultur untersucht werden. Kulturübergreifende Vergleiche können dabei äusserst aufschlussreich sein. In vielen Kulturkreisen gilt das Sprechen über dieses Anliegen jedoch als Tabu. Dass in einer Gesellschaft im öffentlichen Diskurs nicht darüber gesprochen wird, bedeutet jedoch nicht, dass die Bevölkerung ihren Vorlieben nicht nachgeht. Der Internetzugriff ermöglicht es uns heute, in wenigen einfachen Schritten pornografisches Material aufzurufen und meist kostenfrei anzusehen. Da es ebenso einfach ist, selbst Material hochzuladen, scheint es keine sexuelle Fantasie zu geben, welche von der Online-Welt der Pornografie nicht abgedeckt wird.

Obschon pornografische Darstellungen in Form von Malereien bereits in der Vorantike existierten, hat sich das Konsumverhalten der Menschen durch die unermessliche Geschwindigkeit der Akkumulation und Verbreitung von pornografischem Material im und durch das Internet stark verändert. Dieser Wandel wirft zahlreiche Fragen auf: Welchen Einfluss hat der Pornografie-Konsum auf das Sexualverhalten im realen Leben und auf zwischenmenschliche Beziehungen? Wie können wir mit der Omnipräsenz pornografischer Inhalte in unserem Alltag – beispielsweise in Form von auf Webseiten aufpoppenden Werbungen – umgehen, wenn das Thema „Sexualität“ in der Öffentlichkeit noch immer ein Tabu ist? Wie und in welchem Alter klären wir Kinder auf, wenn sie bereits im jungen Alter mit solchem Material konfrontiert werden? Welche pornografischen Inhalte sind grenzüberschreitend und anhand welcher Kriterien wird eine solche Überschreitung bewertet? Ist das Verbieten oder Zensieren von pornografischem Material ein Eingriff in die sexuelle Freiheit? Abhängig davon, aus welcher Perspektive die Internet-Pornografie beleuchtet und analysiert wird, fällt ihre Bewertung unterschiedlich aus. Aus der Sicht der feministischen Philosophie wurde die Pornografie besonders stark kritisiert. Während einige Vertreter von Anti-Porno-Theorien sich dafür einsetzen, die Pornografie gänzlich zu verbieten, wollen andere die Problematiken der „Mainstream-Pornografie“ mit alternativen Produktionen bekämpfen.

Da es nicht den einen feministischen Standpunkt gibt, ist es nicht verwunderlich, dass die Konsensfindung innerhalb der feministischen Philosophie auch bezüglich der Pornografie eine Herausforderung darstellt. In manchen Theorien wird der Pornografie vorgeworfen, dass sie Unwahrheiten über die weibliche Sexualität verbreitet. Pornografische Darstellungen erwecken den Eindruck, dass die Frau jederzeit zur Verfügung steht, wenn der Mann seine Lust befriedigen will. Ihr werde dabei jegliches eigene sexuelle Verlangen und Subjektdasein abgesprochen; Im Mittelpunkt stehe stets die männliche Erregung und der männliche Orgasmus. Dass die Frau in der Pornografie objektifiziert wird, wirke sich schliesslich auf den Umgang mit Frauen im realen Leben aus, womit die Pornografie zur Erhaltung und Legitimierung der patriarchalischen Gesellschafts- und Machtstrukturen beitrage. Andere Positionen halten diese Kritik für fehlplatziert und behaupten dagegen, dass eine solche Auffassung von einer konservativen Haltung zeugt, die ihrerseits die Wahrheit über das weibliche sexuelle Verlangen leugnet. Es gebe für jede Darstellung unzählige Deutungsmöglichkeiten und die Diagnose, dass die Frau stets als passives und wehrloses Opfer dargestellt wird, sei nicht gerechtfertigt. Ausserdem sei der Betrachter fähig zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden, sodass die Behauptung, die Pornografie trage zur Verharmlosung des Sexismus bei, der Pornografie zu viel Macht zuspreche. Doch wenn wir berücksichtigen, dass viele Jugendliche sich Pornos ansehen, bevor sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen sammeln, dann wäre in diesem Fall der Zweifel an der Fähigkeit, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden, sicherlich angebracht. Denn wenn keine anderweitige Aufklärung stattfindet, dann gibt es für Jugendliche zu diesem Zeitpunkt keine Realität, die sie von der Fiktion abgrenzen könnten.

Wenn wir davon ausgehen, dass die Pornografie die autoritäre Kraft besitzt, den zwischenmenschlichen Umgang im realen Leben zu beeinflussen, dann scheint es sinnvoll, pornografische Inhalte hinsichtlich ihrer Wirkung und potentiell negativen Folgen zu untersuchen und diese, wenn möglich, zu verhindern. Einen möglichen Lösungsansatz, wie bereits erwähnt, verfolgen alternative Pornografie-Produktionen, die sich mit den Problematiken der Mainstream-Pornografie auseinandersetzen und eine davon befreite Form von Pornografie auf den Markt bringen möchten. Sie setzen sich für Gleichstellung, d.h. gegen diskriminierende Darstellungen, aber auch für eine höhere Frauenquote innerhalb der Produktion – durch die weibliche Besetzung in der Regie und Kameraführung wird beispielsweise versucht, dem „male gaze“ entgegen zu wirken –, sexuelle Offenheit, Akzeptanz und Toleranz, und faire Arbeitsverhältnisse ein. Die Verwendung des Begriffs „Diskriminierung“ erscheint in diesem Kontext jedoch etwas vage, da er einerseits die Arbeitsverhältnisse der Produktion anspricht und sich andererseits auf den Inhalt pornografischer Darstellungen bezieht. Ausserdem impliziert die alternative Pornografie, indem sie ihre Ziele offen kommuniziert, dass die bisherigen Produktionen nicht diesen Standards entsprechen, und nimmt damit eine bevormundende Position ein.

Für die Bezeichnung alternativer Pornografien wird kein einheitlicher Begriff verwendet; so werden einige als „feministisch“, andere als „queer“ und wieder andere als „egalitär“ bezeichnet. Auch hier herrscht in der feministischen Theorie Unklarheit darüber, wie sich diese Produktionen inhaltlich unterscheiden, und ob dabei dasselbe Ziel verfolgt wird. Eine Gemeinsamkeit scheint jedoch zu sein, dass alternative Produktionen eine Abwehrhaltung gegenüber Ungleichheiten und unterdrückende Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft einnehmen. Um diese Haltung im Zusammenhang mit der Pornografie nachvollziehen zu können, muss geklärt sein, in welchem Verhältnis die Sexualität zur Gesellschaft steht. Es wäre beispielsweise denkbar, dass unsere sexuellen Vorlieben auf gesellschaftliche Normen zurückzuführen sind (von den Normen abweichende Vorlieben wären als Abwehrhaltungen gegenüber diesen Normen zu verstehen). Was in einer Gemeinschaft als Norm akzeptiert gilt, hat Auswirkungen auf jedes einzelne Mitglied dieser Gemeinschaft, unabhängig davon, ob sich ein Mitglied mit der Norm identifizieren kann und will oder nicht. So beeinflussen in unserer Gesellschaft die Heteronormativität und patriarchalische Struktur noch immer unsere Wertvorstellungen und somit unser Verhalten, wodurch diese Normen gelebt und, solange nicht andere Normen die Oberhand gewinnen, erhalten bleiben. Betrachtet man die Sexualität als gesellschaftliches Konstrukt, so könnte die Pornografie als Spiegelung dieser, von der Gesellschaft konstruierten Sexualität und somit der vorherrschenden Machtstrukturen verstanden werden. Wird die Pornografie aber als eine solche Spiegelung verstanden, weil sie auf die Befriedigung sozial konstruierter Bedürfnisse abzielt, dann steht die alternative Pornografie vor einem Widerspruch: Will sie sich als „Pornografie“ bezeichnen, so ist sie gezwungen, die Gesellschaft so zu spiegeln, wie sie ist. Doch sie scheint gerade aus diesen Strukturen ausbrechen zu wollen.

Eine Möglichkeit, diesen Widerspruch aufzulösen, liegt darin, den „Pornografie“-Begriff so zu verstehen, dass er sich auf die Intention von alternativen Produktionen anwenden lässt. Dafür müsste der Pornografie die Eigenschaft zukommen, gesellschaftliche Normen zu verändern bzw. verändern zu wollen. Doch besitzt das, was wir als „Pornografie“ bezeichnen, tatsächlich die Macht und Autorität, unsere Sexualität zu beeinflussen und zu steuern bzw. kann ihr eine solche Absicht zugeschrieben werden?  Richtet sich unsere Sexualität nach der Pornografie oder umgekehrt? Die alternative Produktion könnte sich den Fragen der Begriffsklärung entziehen, indem sie sich nicht mehr weiter als „Pornografie“ bezeichnet. Doch damit ist lediglich eine weitere Diskussion eröffnet: Was ist die „alternative Pornografie“, wenn sie keine Pornografie ist?


Natascha Bencze schliesst in diesem Semester den Bachelor in Philosophie (Nebenfach: Kunstgeschichte) an der Universität Zürich ab.

Print Friendly, PDF & Email