Von schlechtem Sex zur patriarchalen Ehe? Überlegungen zu Fichtes Geschlechtertheorie in der Grundlage des Naturrechts (1796/7)

Von Esther Neuhann (Hamburg)


In seinem Werk Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre [GNR] schließt Johann Gottlieb Fichte von der vermeintlichen Tatsache, dass die Frau[1] beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr eine rein passive Rolle einnehme, auf die Notwendigkeit, dass sie bei der Eheschließung „alle ihre Rechte abtrete“[2]. Diese Argumentation funktioniert nun nicht schlicht so, dass die passive Rolle der Frau beim Sex in eine passive soziale Rolle übersetzt würde. Vielmehr meint Fichte, dass die passive sexuelle Rolle der Frau ihrer vernünftigen, aktiven Menschlichkeit erst einmal widerspricht. Dieser Widerspruch werde durch die patriarchale Ehe insofern gelöst, dass sich die Frau bei der Eheschließung aktiv für ihre Unterwerfung entscheide.

Diese Argumentation Fichtes möchte ich im Folgenden nachzeichnen und im Kontext der GNR kritisch überprüfen. Die Schlussfolgerung, dass Männer und Frauen im (Ehe)Recht ganz ungleich gestellt sein sollten, scheint dabei grundlegenden Prämissen von Fichtes egalitärer Anerkennungstheorie des Rechts (vgl. insb. das Erste Hauptstück der GNR) zu widersprechen. Es lässt sich, wie ich darlegen werde, auch mindestens eine andere Fichte-immanente Infragestellung seiner Argumentation vorbringen. Kommt Fichtes egalitäre Anerkennungstheorie dann also gewissermaßen von seiner Geschlechtertheorie unbeschadet davon? Auf diese Frage werde ich abschließend eine differenzierte Antwort aus Sicht meines Verständnisses von feministischer Philosophie geben.

Schlechter Sex

Der Ausgangspunkt von Fichtes sogenannter „Deduktion der Ehe“ im Ersten Anhang zur GNR ist, dass Menschen notwendigerweise in zwei Geschlechter aufgeteilt sind, die sich zum Zwecke der Fortpflanzung und somit der Erhaltung der Gattung zusammentun müssen. Fichtes Argument dafür, warum dies begrifflich notwendig sei (in der Art notwendig, in der Junggesellen unverheiratet sind) und es sich dabei nicht um eine bloß zufällige Einrichtung der Natur handele, lasse ich hier außen vor.[3] Die menschliche Bestimmung zur Fortpflanzung äußere sich in einzelnen Individuen jedenfalls als „Naturtrieb“ (298), der auf die „eigne [sexuelle, E.N.] Befriedigung“ (299) gerichtet sei. Der eigentliche Naturzweck des Sexualtriebs, nämlich die Fortpflanzung, sei für Individuen also nicht unmittelbar einsichtig. Für Fichte wohnt Frauen und Männern der Sexualtrieb, der sich durch Geschlechtsverkehr befriedigen lässt, gleichermaßen inne. Deutlich unterscheide sich aber ihre Rolle im Geschlechtsakt:

„Die besondere Bestimmung dieser Natureinrichtung ist die, daß bei der Befriedigung des Triebes […], was den eigentlichen Akt der Zeugung anbelangt, das eine Geschlecht sich nur tätig, das andere sich nur   leidend verhalte.“ (300)

Dass mit dem „eine[n] Geschlecht“ Männer und mit dem „andere[n]“ Frauen gemeint sind, ergibt sich aus dem Kontext des Zitats eindeutig; wahlweise schreibt Fichte auch von dem „erste[n]“ und „zweite[n]“ Geschlecht. Außerdem ist der Ausdruck „leidend“ an dieser Stelle als synonym zu „passiv“ zu verstehen. Aus dem Zitat lassen sich vor diesem Hintergrund zwei Thesen Fichtes ableiten:

1. Der Sexualtrieb von Menschen lässt sich nur in einer Sexualpraktik befriedigen, die prinzipiell Zeugung ermöglicht. Es handelt sich also um heterosexuellen Sex zwischen fruchtbaren Personen (d.h. u.a. Personen eines bestimmten Alters) und zwar um Penetrationssex.

2. Beim heterosexuellen Penetrationssex verhalten sich Frauen passiv und Männer aktiv. Konkret scheint Fichte also zu meinen: Die Frau spreizt vielleicht noch die Beine und lässt die männliche Penetration aber ansonsten unbeteiligt über sich ergehen. Dieser Rollenunterschied beim Geschlechtsakt hat für Fichte weitreichende Konsequenzen: „Auf diese einzige Verschiedenheit gründet sich der ganze übrige Unterschied der beiden Geschlechter.“ (303)

Auch wenn Fichte das Gegenteil meint (vgl. die 1. These), scheint es mir aufgrund dieser beiden Thesen gerechtfertigt, von nun an bei dem für Fichtes Argumentation relevanten Geschlechtsverkehr von schlechtem Sex zu sprechen, da dieser wohl mindestens für die beteiligten Frauen alles andere als befriedigend ist.

Von schlechtem Sex zur patriarchalen Ehe

Die Tatsache des schlechten Sex ist nun aber für Fichte selbst nicht zufriedenstellend. Denn Frauen und Männer sind für ihn beide vernünftige Wesen und „[d]er Charakter der Vernunft ist absolute Selbsttätigkeit“ (300). Während Männer also aufgrund ihrer aktiven Rolle beim schlechten Sex dem Charakter der Vernunft gemäß handeln, so ist die weibliche Rolle darin der Vernunft entgegengesetzt:   

„Es ist sonach gar nicht gegen die Vernunft, daß das erste Geschlecht die Befriedigung seines      Geschlechtstriebs als Zweck sich vorsetze, da er durch Tätigkeit befriedigt werden kann, aber es ist   schlechthin gegen die Vernunft, daß das zweite die Befriedigung des seinigen sich als Zweck vorsetze,   weil es sich dann ein bloßen Leiden zum Zwecke machen würde.“ (300f.)

Frauen handeln nach Fichte also irrational, wenn sie sich vornehmen, durch schlechten Sex im oben bestimmten Sinne, ihren Sexualtrieb befriedigen zu wollen. Das klingt erst einmal plausibel, aber Fichtes Schlussfolgerung daraus ist nicht, dass Frauen besseren Sex anstreben sollten, sondern dass sie eine patriarchale Ehe eingehen sollten! Wie kommt er dazu?

Dafür muss der Charakter der Vernunft zunächst noch einmal genauer betrachtet werden: die „absolute Selbsttätigkeit“. Das vorangestellte „absolut“ soll kennzeichnen, dass der Charakter der Vernunft nicht in einfacher Selbsttätigkeit bestehe. Einfach selbsttätig zu sein hieße, nur aufgrund etwa einer angedrohten Strafe zu agieren (z.B. einen Job anzunehmen, der von der Arbeitsagentur vorgeschlagen wurde), ohne das Handlungsziel als vernünftig anzusehen (der Job wird vielleicht als langweilig oder gar unmoralisch angesehen). Der Charakter der Vernunft ist hingegen Selbsttätigkeit, um der Selbsttätigkeit willen: Handeln aus durch die eigene Vernunft bestimmten Gründen. Das Gegenteil davon ist deshalb auch nicht einfach Leiden, sondern „Leiden um des Leiden willen“ (300). Ein solches absolutes Leiden liegt nach Fichte bei Frauen vor, die schlechten Sex haben (Leiden 1), um ihren nicht frei gewählten Sexualtrieb dabei zu befriedigen, sich also passiv diesem Trieb hinzugeben (Leiden 2). Fichte scheint nun ferner zu meinen, dass die Transformation eines Leidens (1 oder 2) zu einer Tätigkeit hinreichend dafür ist, dass das Einnehmen der passiven Rolle beim schlechten Sex nicht vernunftwidrig ist. Sein konkreter Vorschlag ist, dass die Frau, anstatt zu leiden (Leiden 1), um ihren Sexualtrieb zu befriedigen (Leiden 2), allein für die Erfüllung eines selbstgewählten Zwecks, nämlich der sexuellen Befriedigung ihres Ehemanns, den sie liebt, leiden (Leiden 1) sollte. Damit wird Leiden 2 durch einen aktiv gewählten Zweck ersetzt. Fichte erläutert, dass etwa der selbstgewählte Zweck, Kinder haben zu wollen, hierfür nicht taugen würde, weil damit nicht der Geschlechtsverkehr mit einem spezifischen Mann gerechtfertigt werden könnte; den Zweck, Kinder zu haben, würde eine Frau nämlich besser dadurch erreichen, dass sie den Erstbesten nehme, „welches denn doch keine große Achtung für ihre [eigene, E.N.] Person anzeigt“ (300).

Wie versteht es Fichte nun genauer, dass der Zweck, den eigenen geliebten Ehemann sexuell zu befriedigen, die Rolle der Frau beim schlechten Sex zu einer vernunftgemäßen macht?

Fichte meint, dass in einem „unverdorbenen Weibe“ (305) eigentlich gar kein reiner Sexualtrieb vorhanden sei, sondern eine Art des sublimierten Sexualtriebs, nämlich das Verlangen nach Liebe, „der edelste aller Naturtriebe“ (304). Und diese Liebe „ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen“ (305). Wird der Liebestrieb erfüllt, finde eine „Befriedigung des Herzens“ und gerade keine „sinnliche[] Befriedigung“ statt (ebd.). Wenn eine Frau aus Liebe schlechten Sex hat, scheint dies nun für Fichte erst einmal hinreichend dafür zu sein, dass sie dabei nicht ihren Vernunftcharakter verrät:

„Darum ist auch das Weib in der Geschlechtsvereinigung nicht in jedem Sinne Mittel für den Zweck des Mannes; sie ist Mittel für ihren Zweck, ihr Herz zu befriedigen […].“ (ebd.)

Welche Rolle spielt dabei nun die Ehe? Kurz gesagt, ist für Fichte die wahre Liebe einer Frau für einen Mann exklusiv (vgl. 306) und endlos: „Die sich einmal gibt, gibt sich auf immer.“ (ebd.) Und es ist eben genau diese Liebe, die durch die Ehe geschützt werden soll.  In den Teilen zur Ehe in Fichtes Das System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798) [SL], die das „dort [in der GNR, E.N.] Gesagte […] nur kurz zusammen[fassen]“ (SL, 325) sollen, schreibt Fichte sogar, dass im „Begriffe der Liebe […] der der Ehe […] enthalten“ sei (SL, 328). Aber warum kann nur im obigen Sinne wahre Liebe die Vernünftigkeit der Frau beim schlechten Sex retten? Das liegt für Fichte daran, dass eine Frau dabei einem Mann „ihre Persönlichkeit [gibt], indem sie sich zum Mittel der Befriedigung des Mannes macht“ (306). Diese Aufgabe der eigenen Persönlichkeit kann die Frau vor sich selbst nur dadurch rechtfertigen, dass sie es aus Liebe tue (und nicht aus Lust). Daran müsste sie aber retrospektiv zweifeln, wenn ihre Liebe für diesen Mann zu einem zukünftigen Zeitpunkt erloschen wäre oder es sich um keine exklusive Liebe handele. Zusätzlich buchstabiert Fichte nun noch aus, dass, da eine Frau sich durch schlechten Sex bereits zum Mittel des Mannes gemacht habe und ihm dadurch ihre Persönlichkeit gegeben habe, sie ihm ihre Persönlichkeit auch noch in anderer Hinsicht komplett übergeben muss: „Das Geringste, was daraus folgt, ist, daß sie ihm ihr Vermögen und alle ihre Rechte abtrete, und mit ihm ziehe.“ (306) Der Grund, den Fichte dafür angibt, ist wieder, dass ansonsten an ihrer Liebe gezweifelt werden könnte und somit auch die ursprüngliche Abgabe ihrer Persönlichkeit (durch ihre passive Rolle beim schlechten Sex) unwürdig wäre: „Ihre eigne Würde beruht darauf, daß sie ganz […] ihres Mannes sei, und sich ohne Vorbehalt an ihn und in ihm verloren habe.“ (306). Damit ist der argumentative Weg vom schlechten Sex zur patriarchalen Ehe beschritten.

Es ließe sich noch einiges mehr über Fichtes Geschlechter- und Ehetheorie sagen; an dieser Stelle, sei aber nur noch erwähnt, dass für ihn – trotz seiner chauvinistischen Vorstellung von Sex und seinem Ideal einer patriarchalen Ehe – nicht einvernehmlicher Sex und Zwangsehen ein großes Übel darstellen (vgl. 313ff.). Das liegt wie erläutert daran, dass für sittlichen Geschlechtsverkehr die Liebe der Frau für den Mann entscheidend ist, und nur die Frau selbst darüber urteilen kann, wen sie liebt, und sie deshalb auch nicht zur Eheschließung „überrede[t]“ (315) werden darf. Dies sowie eine Vergewaltigung stellt für Fichte gar eine „Vergessenheit alle[n] Menschenrechts“ (314) dar. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass von Menschenrechten – zumindest dem Wortlaut nach – in der GNR nur einige wenige Male die Rede ist.

Mit Fichte gegen Fichte

Fichtes dargestellte Geschlechtertheorie widerspricht deutlich unseren heutigen Vorstellungen. Gleichwohl enthält dasselbe Werk Fichtes seine bekanntgewordene Anerkennungstheorie, die besagt, dass Menschen überhaupt nur dann selbstbewusst in der Welt agieren können, wenn sie mit anderen in egalitären Rechtsverhältnissen zusammenleben. Dieser Ansatz wird von vielen – ebenso mir selbst – noch heute als systematisch vielversprechend angesehen. Wie sollte also mit den aus heutiger Sicht sexistischen Stellen in der GNR umgegangen werden?[4] Beeinträchtigen sie die egalitären Grundzüge von Fichtes Rechtstheorie, und wenn ja, wie?

Zumindest scheint bezüglich der dargestellten Argumentation von Fichte nichts leichter zu sein als darzulegen, dass sie im Widerspruch zu einigen grundlegenden Prämissen von Fichtes eigener Philosophie steht. Das ist bezüglich eines Ausgangspunktes der Argumentation, dass Frauen beim Sex eine rein passive Rolle innehätten, besonders offensichtlich. Selbst wenn akzeptiert wird, dass Frauen beim (schlechten) Sex nichts tun, außer die Beine zu spreizen, muss dies – nach allem was Fichte uns an anderen Stellen nahelegt –, als eine aktive Tätigkeit angesehen werden. Denn in Fichtes idealistischer Philosophie stellt – jedenfalls von einem philosophischen Standpunkt aus betrachtet – letztlich alles vom Erkennen eines Baumes bis zum Fällen desselben eine Tätigkeit dar. Dennoch unterscheidet er zwischen solchen Tätigkeiten, die uns als „gebunden“ (19, Herv. entfernt) erscheinen, und solchen, für die wir uns frei entscheiden können. Wenn ich, einerseits, den Baum vor meinem Fenster erkenne, bin ich dabei zwar tätig, allerdings gebunden, da ich nicht einfach frei entscheiden kann, dass dort stattdessen ein Hochhaus steht. Andererseits kann ich mich frei entscheiden, das Fenster vor meinem Schreibtisch zu öffnen oder geschlossen zu lassen. Nur die letztere Art von Tätigkeit lässt sich als Tätigkeit im engeren Sinne ansehen. Eine solche Tätigkeit im engeren Sinne ist für Fichte als Reflexionsgegenstand vonnöten, wenn wir auf uns selbst reflektieren, also für unser Selbstbewusstsein – das wiederum unseren Vernunftcharakter ausmacht. Nun scheint es doch recht offensichtlich, dass das Beine-Spreizen der Handlung des Fenster-geschlossen-Lassens mehr ähnelt als derjenigen, den Baum zu erkennen. Wieso also überhaupt der Frau beim Sex diese gänzliche Passivität zugeschrieben wird, erscheint demnach rätselhaft.

Die Passivität der Frau lässt sich auch nicht dadurch begründen, dass wir ihre Rolle bei der biologischen Fortpflanzung (anstatt beim schlechten Sex) zugrunde legen – so etwa, wenn behauptet wird, die Eizelle der Frau empfange passiv den Samen des Mannes, während der schnellste Samen des Mannes sich aktiv eine Eizelle aussuche. Abgesehen davon, dass eine solche vermenschlichte Darstellung von biologischen Prozessen – als ob der Samen handele – ohnehin zweifelhaft ist, ist sie selbst als metaphorische Beschreibung unpassend, denn, wenn hier jemand auswählt, dann wohl eher die Eizelle (siehe dazu die Berichterstattung im MDR und den zugrundeliegenden wissenschaftlichen Aufsatz[5]).

Feministische Philosophie und Sexismus in klassischen Texten der Philosophie

Können die systematisch vielversprechenden Teile von Fichtes GNR also ohne Rücksicht auf seine Geschlechtertheorie gelesen werden? Und wenn sich Fichtes egalitäre Anerkennungstheorie des Rechts von seiner Geschlechtertheorie trennen lässt, müssen wir sie dann überhaupt zur Kenntnis nehmen?

Zur ersten Frage: Zumindest aus der in diesem kurzen Text geleisteten immanenten Infragestellung von Fichtes Argumentation „von schlechtem Sex zur patriarchalen Ehe“ mit seinen eigenen Mitteln sollte noch nicht geschlossen werden, dass es keine systematische Verbindung zwischen Fichtes Geschlechtertheorie und seiner egalitären praktischen Philosophie gibt. So ist etwa für Fichtes Rechts- sowie Moraltheorie die Verkörperung von moralischen bzw. Rechtssubjekten notwendig (vgl. GNR, Erstes Hauptstück §5 und §6 sowie Fichtes SL §9, V.). Und gleichzeitig meint er auch – wie oben erwähnt –, dass die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen notwendig sei, die sich wiederum in unterschiedlichen Körpern zeige. Vielleicht ist es also für Fichte auch notwendig, dass sich zwischen den auf einer Ebene gleichen verkörperten Moral- und Rechtssubjekten auf einer anderen Ebene eine auch körperlich manifeste Ungleichheit einstellt? Darüber hinaus scheint jede Handlung, und damit auch jede moralische Handlung, für Fichte letztlich inhaltlich auf unsere Naturtriebe zurückzugehen[6], worunter der Sexualtrieb fällt (vgl. SL, 325). Wenn gleichzeitig die Zweigeschlechtlichkeit notwendig ist, gibt es dann auch notwendigerweise unterschiedliche Handlungsnormen für Männer und Frauen?

Zur zweiten Frage: Eine Geschlechtertheorie wie Fichtes zu lesen, ist – auch unabhängig von einem Interesse an Fichtes Philosophie im Allgemeinen – lehrreich, da sie uns vor Augen führt, dass bis heute übliche Praktiken wie diejenige, dass Frauen bei der Hochzeit den Namen ihres Mannes annehmen, aufs Engste mit patriarchalen Ehekonzepten verbunden sind. So schreibt Fichte: „Sie hat aufgehört, das Leben eines Individuums zu führen; ihr Leben ist ein Teil seines Lebens geworden, (dies wird trefflich dadurch bezeichnet, daß sie den Namen des Mannes annimmt.)“ (307) Auch inwiefern die Abwertung weiblicher Lust mit der Rechtfertigung patriarchaler Normen zusammenhängt, wird durch Fichtes Text mustergültig gezeigt. Weil es so eindrücklich ist, sei hier noch ein Zitat erlaubt: „Der Geschlechtstrieb des Weibes in seiner Rohheit ist das widrigste, und ekelhafteste, was es in der Natur gibt; und zugleich zeigt er die absolute Abwesenheit aller Sittlichkeit.“ (SL, 327) Darüber hinaus lässt sich an Fichtes Ausführungen auch sehen, dass Fichtes patriarchale Schlussfolgerungen auf ziemlich fragwürdigen Argumenten beruhen.

Diese beiden Antworten ergeben sich für mich aus einem bestimmten Verständnis feministischer Philosophie im Kontext der Beschäftigung mit klassischen Texten, das ich abschließend in zwei Geboten ausdrücken möchte:

1. Feministische Philosoph:innen sollten nicht leichtfertig unliebsame Geschlechtertheorien von klassischen Autor:innen als irrelevant für die systematische Gesamtposition beurteilen; denn womöglich steckt der Sexismus tiefer als auf den ersten Blick erkennbar. Gleichzeitig sollten dabei nicht individuelle Philosoph:innen moralisch als sexistisch verurteilt werden – das ist m.E. anachronistisch[7] und für heutige feministische Zwecke nicht hilfreich.[8]

2. Feministische Philosoph:innen sollten philosophische Klassiker daraufhin befragen, wie diese „zur Herausbildung geschlechterhierarchischer Denk- und Handlungsmuster beigetragen“ (Nagl-Docekal 2008: 302) oder diese abgebildet haben. Das kann uns auch heute noch beim Aufzeigen der Verwobenheit von andauernden Phänomenen (Annahme des Namens des Ehemanns, die Abwertung weiblicher Lust) mit patriarchalen Normen helfen und dabei, zu sehen, dass diese Normen schon vor über zweihundert Jahren ziemlich schlecht begründet waren.


Esther Neuhann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg. Dort arbeitet sie derzeit an einem DFG-Projekt zum Thema Fichte und die Menschenrechte. 2019 wurde sie mit der Arbeit Zeitstrukturen des Rechts. Über die Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gerechtigkeit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main promoviert. Sie möchte darauf hinweisen, dass sie vom Hören des Vortrags von Gabriel Gottlieb (Xavier University) zum Thema „Fichte on Rape“ (21. April 2021, Institutskolloquium, Philosophisches Seminar, Universität Hamburg) im Vorfeld des Verfassens des Textes profitiert hat.


Literatur

Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg: Meiner (1967 [1796/7]).

– – Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg: Meiner (1995 [1798]).

Nagl-Docekal, Herta: „Feministische Philosophie: Wie Philosophie zur Etablierung geschlechtergerechter Bedingungen beitragen kann”, in Ruth Becker und Beate Kortendiek (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (2008), S. 295–304.


[1] Ich unterscheide in diesem Text nicht strikt zwischen weiblichen Menschen und Frauen bzw. männlichen Menschen und Männern, da Fichte keine Unterscheidung von sex und gender vornimmt und mit „Weib“ oder „Frau“ cis Frauen meint.

[2] Fichte 1967 [1796/7]: 306. Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf Fichtes GNR.

[3] Damit verbunden problematisiere ich hier auch nicht Fichtes Annahme einer strikten Zweigeschlechtlichkeit.

[4] Zum Umgang mit rassistischen, sexistischen und antisemitischen Stellen in klassischen Werken der Philosophie, vgl. diese hilfreiche Handreichung.

[5] Darauf gestoßen bin ich durch eine hörenswerte Diskussion zwischen Christoph Türcke und Antje Schrupp im Deutschlandfunk.

[6] „Jeder mögliche Zweckbegriff geht sonach auf Befriedigung eines Naturtriebs.“ (SL, 145)

[7] Es ist zu beachten, dass es zu Fichtes Zeit und in seinem Umkreis durchaus (aus heutiger Sicht) progressivere Stimmen bezüglich der Geschlechterfrage gab. Vgl. Theodor Gottlieb von Hippels Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1795).

[8] Dieses erste Gebot ähnelt Marina Martinez Mateos Vorschlag für den Umgang mit der Frage, ob Kant ein Rassist war, siehe hier und hier (Folge 3).