Ethik als Ankerpunkt in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit

Von Thomas Schumacher (KSH München)


Sozialarbeitsschaffende sind sich einig, dass berufliches Handeln in der Sozialen Arbeit ethisches Wissen erfordert. Dazu sind gemeinhin zwei Bezugspunkte im Blick: zum einen die Erfahrung schwieriger Entscheidungssituationen, zum andern der Charakter Sozialer Arbeit als einer Hilfe von Menschen für Menschen. Wie ethisches Wissen im Beruf aber greift: ob in ein berufliches Verständnis eingewoben oder als Haltung individualisiert, ist eine offene Frage.

Das bedeutet aber auch: Das gesehene ethische Wissen ist entweder Teil der beruflichen Handlungsstrukturen, oder es rührt von den handelnden Personen her und ist deshalb nicht leicht zu erfassen. Hier soll deutlich werden, dass Ethik Sozialer Arbeit nur nützt, wenn sie in den beruflichen Strukturen sichtbar wird. Das bedeutet, dass sie zur beruflichen Konzeptarbeit gehört, und auch, dass der Sozialen Arbeit zuzurechnende ethische Merkmale in der Praxis der Praktiker*innen zu Kriterien werden.

Die Erwartung, dass Sozialarbeitsschaffende ethisches Rüstzeug für den Fall der Fälle mitbringen, greift dagegen zu kurz, weil löbliches persönliches Engagement mit Professionalität verwechselt wird. Zudem liegt in ihr eine unfaire Zumutung, denn sie lädt die Verantwortung für ethisch richtiges Handeln ganz auf die Schultern der in die Fallarbeit involvierten Akteurinnen und Akteure.

Blicken wir zur Verdeutlichung nochmals auf den unstrittigen doppelten Ausgangspunkt.

  • Es geht um die Erfahrung schwieriger Entscheidungssituationen: Wo ein Dilemma begegnet, etwa bei der Frage, ob ein junger Mensch nach einem massiven Fehlverhalten in einer Jugendhilfemaßnahme verbleiben kann oder aber, trotzdem sein Hilfebedarf nochmals deutlich geworden ist, daraus zu entlassen ist, kann eine ethische Betrachtung abwägen und entscheiden helfen. Ein wichtiger Aspekt ist hier: Ethik vermittelt Legitimation.
  • Und es geht in der Sozialen Arbeit darum, dass eine Hilfe von Menschen für Menschen geleistet wird: Die Qualität der beruflichen Arbeit bemisst sich nicht zuletzt daran, inwieweit es gelingt, Ziele so in den Blick zu nehmen und zu formulieren, dass menschliche Bedarfe, heute plakativ auf eine menschenrechtliche Matrix bezogen, gesehen und bedient werden. Der Effekt hier ist: Ethik begründet einen Standpunkt.

In beiden Bezügen – das ist leicht zu sehen – ist die berufliche Einbettung entscheidend: dass ein beruflicher Standpunkt aufscheint und nicht einer, der von Akteur zu Akteur wechselt; und dass eine berufliche und nicht eine persönliche Handlungsweise legitimiert wird. Der Standpunkt und die von ihm ausgehende Rechtfertigung würde berufliche Profillinien unterlaufen, wenn es nur immer ein eigener Standpunkt wäre; tritt er aber als berufliches Merkmal in Erscheinung, verschafft er Akteuren Klarheit, Rechtfertigung und Orientierung; für Adressaten bietet er Berechenbarkeit und Transparenz; und im öffentlichen Raum markiert der Beruf den Anspruch, der ihn als Profession wahrnehmbar macht.

Auch das ist leicht zu sehen: Wenn die Soziale Arbeit angeben kann, von welchem ethischen Standpunkt sie herkommt, und wenn sie diesen Standpunkt plausibel zu kommunizieren vermag, wird sie, bezogen auf ihre Aufgaben in der Gesellschaft, ein Partner auf Augenhöhe für Politik und Öffentlichkeit und nicht weniger für Träger, die auf Seiten der Verwaltung wie der freien Wohlfahrtspflege Expertise und Kompetenz beruflicher Sozialer Arbeit nutzen.

Es gibt hier einen Vorbehalt: Denn es kann – und muss – einstweilen noch als ein Problem angesehen werden, dass die Soziale Arbeit nirgendwo institutionell verortet ist. Greifbar wird sie über Studienabschlüsse und in der Praxis als Versprechen, dass die, die beruflich eingemündet sind, über sowohl ausreichende wie auch einschlägige Handlungskompetenz verfügen, um in einer vielfältigen Bedarfs- und Aufgabenlage einen beruflichen Handlungsansatz zu repräsentieren. Soziale Arbeit soll aber nicht das sein, was man ihr zuordnet – auch wenn der Befund derzeit noch in diese Richtung weist.

Einen entscheidenden Schritt aus dieser Problematik heraus bedeutet es, wenn nach dem ethischen Standpunkt der Sozialen Arbeit gesucht wird. Dieser zeigt an, welche Kriterien Sozialarbeitshandeln tragen, aber auch, wie Aufgabenstellungen dem Beruf Soziale Arbeit zuzuordnen sind. Von ihrem ethischen Standpunkt wird deutlich, dass sich die Soziale Arbeit nicht aus beliebig zugewiesenen Bedarfssituationen zusammensetzt, sondern dass ihr ein Merkmal zugrunde liegt, das es möglich macht, das, was ihr zugehört, einschlägig zuzuordnen.

Dann und nur dann ist die Soziale Arbeit nicht einfach das, was man als solche bezeichnet, sondern ein Beruf mit klarem Profil und eine Profession mit ausgewiesener Leistungskraft für die Gesellschaft. Wie aber soll das gehen? Wie kann ein ethischer Standpunkt ermittelt und zugewiesen werden?

Möglich wird das, indem zwei Horizontlinien verbunden werden. Die erste ist die einer ethischen Analyse mit dem Ziel festzustellen, von welchen Basispunkten und Prinzipien heutige Vorstellungen vom Menschen geleitet sind. Der Rahmen ist schnell gefasst: Es geht um Individualität und selbstbestimmte Lebensführung für den Einzelnen und um Würde und Wertschätzung im Blick auf soziale Anliegen.

Die zweite Linie geht auf das berufliche Verständnis und auf die Feststellung, wie Menschen als Adressaten, als Kollegen, als Teil von Öffentlichkeit in der Sozialen Arbeit zur Geltung kommen sollen: als Merkmalsträger und Empfänger von Leistungen oder als Partner und Mitgestalter in einer Hilfearbeit.

Zusammengeführt zeigen beide Linien, dass Menschen in der Sozialen Arbeit nicht zum Objekt werden. Das ist die Grundbotschaft, mit der sich die Soziale Arbeit für ein gelingendes Zusammenleben einbringt und engagiert; das ist die Arbeitsbasis in den sozialarbeitenden Organisationen und beruflichen Strukturen; das ist das erste Signal an jede und jeden, die und der sozialarbeitliche Unterstützung in einer schwierigen Lebenssituation in Anspruch nimmt.

Sieht man darin den ethischen Standpunkt der Sozialen Arbeit zum Ausdruck gebracht, so ist auch klar, dass er weitere Festlegung enthält. Die sozial unterstützende Arbeit, die der Beruf leistet, richtet sich – das hat der 1989 verstorbene Gerhard Weisser schon in den 1950er Jahren zur Position geformt – an den Menschen als potentiell autonomen und aktiven Mittelpunkt seiner Lebenslage.

Darin liegt zugleich ein ethisches Versprechen, und es fordert zu einer Haltung auf, die darauf gerichtet ist, Autonomie und Selbstverantwortlichkeit bei Adressanten und in der Gesellschaft zu fördern. Wohin auch immer sozialarbeitliches Berufshandeln zielt, ist es durch eine Haltung getragen, die von Respekt und Wertschätzung geprägt ist; die jede und jeden in seinem und ihrem menschenrechtlichen Anspruch sieht; die auf ein Miteinander bezogen ist, in dem Solidarität gelebt wird und Teilhabe selbstverständlich ist.

Eine solche Haltung ist in der Sozialen Arbeit nicht privat. Sie ist – anders wird ein gelingendes Hilfehandeln nicht vorstellbar – eingewoben in das fachliche Verständnis; sie ist der leitende Impuls im methodischen Vorgehen; sie der prägende Aspekt dort, wo die Soziale Arbeit nach ihrem beruflichen Selbstverständnis sucht. So haben Theorie und Praxis in der beruflichen Ausfaltung ihr strukturierendes Moment, ihren Ankerpunkt, von dem her Soziale Arbeit gedacht und gelebt wird.

Abschließend noch ein Hinweis: Der ethische Standpunkt der Sozialen Arbeit, wie er hier skizziert wurde, und die Implikationen, die greifbar wurden, enthalten keinen Anspruch auf Wahrheit. Sie sind eine Setzung und darin am ehesten als ein Bekenntnis zu verstehen, als ein Bekenntnis zum Menschen, der in seinem Ringen um den richtigen Weg gesehen wird. Der Standpunkt, der dazu eingenommen wird, ist offen für Kritik. Er muss sich in der öffentlichen Wirkung bewähren, und er muss einlösen, was er für die Soziale Arbeit verspricht: tragfähiger Ausgangspunkt zu sein, um ein berufliches Verständnis zu verankern und um den Beruf als Profession weiterzuentwickeln.


Thomas Schumacher, Professor für Philosophie in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Sozialen Arbeit; Ethik der Sozialen Arbeit; berufliches Selbstverständnis Sozialer Arbeit als Wissenschaft und Profession.

Publikation zum Thema

Schumacher, Thomas (2018): Mensch und Gesellschaft im Handlungsraum der Sozialen Arbeit. Ein Klärungsversuch. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

(https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/produkte/details/35487-mensch-und-gesellschaft-im-handlungsraum-der-sozialen-arbeit.html)