Ethik (in) der Sozialen Arbeit

Von László Kovács (TH Augsburg)


Ethik ist eine sehr alte, Soziale Arbeit ist eine vergleichsweise junge Disziplin. Die Beziehung zwischen beiden ist dennoch sehr eng. Einerseits braucht die Soziale Arbeit die Ethik, denn sie muss Entscheidungen im realen Leben treffen, Prioritäten setzen, dabei unterschiedliche Werte gegeneinander abwägen und ihre Entscheidungen begründen. Andererseits braucht die Ethik die Soziale Arbeit, denn diese bietet die praktische Umsetzung für viele soziale moralische Probleme. Eine Ethik ohne Soziale Arbeit wäre in vielen entscheidenden Fragen wirkungslos und müsste um die eigene Existenzberechtigung bangen.

Doch zurück zur ersten Beziehung: Soziale Arbeit braucht Ethik, u.a. weil als Begleiterscheinung zu ihren Entscheidungen häufig ein moralisches Unbehagen, eine Unsicherheit entsteht, ob das, was man tut, gut ist. Soziale Arbeit fragt die Ethik nach Lösungen. Diese Beziehung steht im Fokus des Beitrags und diese Beziehung legt durch die Erwartung der Sozialen Arbeit an die Ethik ein konkretes Verständnis der Ethik fest.

Ethik lässt sich auch als theoretische Disziplin verstehen, als Reflexion über Gründe. Dieses Verständnis von Ethik eignet sich nicht für die praktische Soziale Arbeit. In der Praxis werden konkrete Antworten auf konkrete Fragen gesucht. Eine Metaethik und ein Streit der Ethiktheorien ist für die Praxis nicht nur uninteressant, sondern verwirrend. Um konkreter zu werden, entwickeln Soziale Arbeit und Ethik gemeinsam eine eigene Bereichsethik – so nennt man disziplinspezifische anwendungsbezogene Ethiken. Bevor wir auf die Eigenschaften dieser Bereichsethik, die Ethik der Sozialen Arbeit, eingehen, müssen wir die Rolle der Bereichsethik in der Sozialen Arbeit untersuchen. Diese Rolle zeigt sich bereits im Selbstbild der Sozialen Arbeit. Die internationale Definition lautet:

„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein. Diese Definition kann auf nationaler und/oder regionaler Ebene weiter ausgeführt werden.“ (DBSH 2016, https://www.dbsh.de/profession/definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung.html)

In dieser Definition zeigt sich, dass Soziale Arbeit nicht bloß Fakten produzieren will wie eine empirische Beobachtungswissenschaft, und nicht nur Methoden anwendet, wie ein Handwerk, oder Theorien entwickelt wie eine Profession, sondern ethische Werten und Normen verhandelt, abwägt, praktisch umsetzt, ihre Entscheidungen begründet. Sie tut das in der Spannung zwischen ihrem Mandat, die Wünsche und Bedürfnisse der Klient:innen zu befriedigen und gleichzeitig den Interessen des Staates gemäß der Sozialgesetze des jeweiligen Landes umzusetzen. Wenn die beiden in Konflikt geraten, was häufig der Fall ist, muss die Soziale Arbeit in der Lage sein, ihre ethischen Kompetenzen einzusetzen. Die Bereichsethik will – so die Berliner Erklärung zu Berufsethik und praxisbezogenen Prinzipien von 2016 – diese Aufgaben zu unterstützen.

Die Definition enthält ferner konkrete normative Begriffe. Gerechtigkeit, Wohlergehen (oder das gute Leben), Verantwortung, Achtung, Autonomie etc. sind Begriffe, die in der Ethik beheimatet sind und deren Inhalte in der Ethik festgelegt werden. Diese haben eine hervorgehobene Stellung in der Ethik der Sozialen Arbeit. Es wäre sehr einfach, wenn die Soziale Arbeit nur eine oberste Norm hätte. Dann könnten wir aus dieser Norm alle anderen Normen und Werte ableiten. Auch die Prioritäten wären klar(er). Doch die Definition präsentiert auf der gleichen Ebene mehrere Normen und Werte wie soziale Entwicklung und gleichzeitig sozialer Zusammenhalt, oder einheitliche Menschenrechte und gleichzeitig Achtung der Vielfalt. Diese Normen und Werte bieten Orientierung, aber sie können auch im Widerspruch miteinander stehen. Dann muss die Soziale Arbeit in der Lage sein, Prioritäten zu setzen, Entscheidungen zu treffen und diese so zu begründen, dass alle ihre Gründe nachvollziehen können.

Diese Herausforderung ist nicht selten in Bereichsethiken. In der Medizin hat man vergleichbare Konflikte bereits seit längerem diskutiert und eine durchaus pragmatische Lösung in der Prinzipienethik gefunden. Prinzipien der mittleren Ebene versuchen Gemeinsamkeiten von verschiedenen Ethiktheorien zu identifizieren und diese mit der alltäglichen Praxis bzw. der Kasuistik der Profession zu vereinbaren. In der Medizinethik wurden vor einem halben Jahrhundert vier solche Prinzipien ausgearbeitet und sie haben sich inzwischen weltweit gefestigt: Wohltun, Nicht-Schaden, Autonomie und Gerechtigkeit. Mit diesen vier Prinzipien lassen sich die meisten Wertkonflikte in der Medizin gut strukturieren und ohne große Verluste an Inhalten und Perspektiven diskutieren.

In Anlehnung an diese vier Prinzipien hat der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) 2016 sechs Prinzipien für die Orientierung in ethischen Fragen in der Sozialen Arbeit formuliert: Wohlwollen, Nicht-Schaden, Autonomie, Gerechtigkeit, Solidarität und Effizienz. Die Prinzipien sind offensichtlich eine gemeinschaftlich erarbeitete Anpassung der vier Prinzipien der biomedizinischen Ethik. Sie haben die gleiche Funktion wie in der Medizinethik. Diese sechs Prinzipien sind zwar noch nicht so verbreitet und in der Praxis verankert wie in der Medizin, aber sie sind strukturell genauso nützlich, denn sie bieten Begriffe für das moralische Unbehagen der Beteiligten und ermöglichen eine Diskussion über diese Werte und Normen.

Jetzt stellt sich die Frage, was sollen wir tun, wenn wir in der Sozialen Arbeit vor einem besonderen Dilemma stehen oder in der etablierten Praxis den Eindruck haben, dass unser gewöhnliches Tun moralisch problematisch ist. Es bietet sich ein dreistufiges Vorgehen vor:

  1. Wir versuchen unser Unbehagen durch die oben vorgestellten sechs Prinzipien zu strukturieren und unser Problem zu benennen. Möglicherweise können wir das Problem gleich lösen, denn wir stellen durch die strukturierte Darstellung bereits fest, welche Werte und Normen eigentlich Vorrang haben sollten. Wenn die Lösung nicht ins Auge springt, haben wir trotzdem Begriffe gefunden und das Unbehagen zu einem begreifbaren Konflikt und zu einer Frage gewandelt.
  2. Wenn wir keine befriedigende Lösung erreicht haben, stellen wir unsere offen gebliebene Frage im Team mit anderen aus der Profession vor. Diese können weitere Aspekte und Argumente hinzufügen und ein vollständigeres Bild der Probleme schaffen. Das vollständigere Bild enthält sowohl Tatsachen als auch professionsethische Normen und Werte, die von anderen bzw. von der gesamten Profession der Sozialen Arbeit so vertreten werden. Diese Erweiterung der Perspektive bringt uns möglicherweise bereits zu einer Lösung.
  3. Auch der zweite Schritt garantiert nicht, dass wir zu einer Lösung kommen. Es kann sein, dass wir nach dem professionellen Coaching aus der Sozialen Arbeit eine professionelle Ethikberatung benötigen. Der DBSH hat gemäß ihrer Berliner Erklärung von 2016 eine bundesweit agierende Ethikkommission, in der ausgewiesene Ethik-Spezialist*innen berufen werden. Mit dieser Unterstützung werden die negativen Dimensionen der Entscheidungen zwar nicht überwunden, aber die bestmögliche Begründung für die bestmögliche Entscheidung wird erreicht.

Mit diesem Vorgehen zeigt sich ein hoher Grad an Autonomie für die Profession. Den normativen Maßstab, an dem die Entscheidungen gemessen werden, bilden die Menschenrechte. Diese bilden die Grundlage der Berufsethik der Sozialen Arbeit und eine Realutopie, die über die Soziale Arbeit hinausweist. Menschenrechte und Menschenwürde sind in dieser Utopie die Standards für individuelles, gesellschaftliches und staatliches Handeln. Egal nach welchem Schritt die Lösung gefunden wird, wird eine gründliche Dokumentation der Entscheidung und der Begründung benötigt. Einerseits verstärkt diese Dokumentation die Bereichsethik innerhalb der Praxis, denn diesen Ergebnissen folgend kann man Leitlinien formulieren und Schulungen in der Sozialen Arbeit gestalten. Gleichzeitig bietet eine solche Dokumentation jenseits der Sozialen Arbeit reichhaltige Reflexionsgrundlagen für die Ethik als Profession, denn nicht nur die Praxis hinterfragt sich anhand der Theorien, sondern auch die Theorien, in diesem Fall die Ethiktheorien, müssen sich an praktischen Fallbeispielen messen lassen.


László Kovács ist Professor für Politik, Ethik und Philosophie an der Technischen Hochschule Augsburg und ebendort auch Vizepräsident für Studium und Lehre.