Über die Umsetzung des Ethischen in der Sozialen Arbeit

Von Iris Kohlfürst (FH Linz)


Soziale Arbeit ist der Umsetzung moralischer Werte verpflichtet – grundlegend sichtbar ist dies nicht zuletzt in ihrer internationalen Definition, in der dezidiert auf die Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, die Achtung der Vielfalt und auf kollektive Verantwortung als zentrale Prinzipien des beruflichen Handelns und professionellen Verständnisses verwiesen wird (obds 2023). Ergänzend sehen beispielsweise Großmaß und Perko (2011) neben Gerechtigkeit und Verantwortung auch Anerkennung und Care als wesentliche Prämissen und Reflexionskategorien der Sozialen Arbeit an; für Kaminsky (DBSH 2014) sind Autonomie, Wohlwollen, Nicht-Schaden, Solidarität, Gerechtigkeit und Effektivität Werte und Prinzipien, an denen sich die Profession Soziale Arbeit orientieren soll. Die von nationalen bzw. internationalen Berufsverbänden der Sozialen Arbeit formulierten ethischen Grundsätze (oftmals als Ethikkodex der Sozialen Arbeit bezeichnet) zielen nicht nur auf die Sicherung der professionellen Identität und Selbstvergewisserung, sondern dienen der Führung der Fachkräfte und vor allem auch dem Schutz der Adressat*innen vor unethischen (Handlungs)Situationen im Kontext der sozialarbeiterischen Begleitung im beruflichen Alltag (Banks 2021).

Das Vorhandensein ausformulierter ethischer Grundlagen bzw. Zugänge und deren Anerkennung für das professionelle Selbstverständnis führen allerdings nicht zwingend zu entsprechenden Entscheidungen und Handlungen. So lassen sich im beruflichen Alltag eine Vielzahl an unethischen Handlungen festmachen – unter anderem in Form von sexualisierter Gewalt (beispielsweise „Möglicher Missbrauch in Kinderheim – Anklage erhoben“ (sueddeutsche.de 2024)) oder Korruption (Linsen et al. 2012). Hinzu kommen mögliche unethische Verhaltensweisen von Fachkräften wie beispielsweise abgegebene Spenden (Geld oder Gegenstände) für sich selbst behalten, aufgrund persönlicher Befangenheit Adressat*innen unterschiedlich behandeln, die Bedürfnisse der Adressat*innen willentlich und wissentlich missachten, die eigene Machtposition missbrauchen oder abwertend mit oder über Adressat*innen sprechen (Kohlfürst 2016). Zudem gibt es Arbeitssituationen, in denen es aufgrund der äußeren Rahmenbedingungen nicht immer möglich ist, gemäß den professionsethischen Vorgaben zu handeln (Kohlfürst/Kulke 2023).

Einflussfaktoren auf das ethische Handeln im beruflichen Alltag

Hinsichtlich der Umsetzung ethisch relevanten Verhaltens im beruflichen Alltag der Sozialen Arbeit sind wesentliche Momente zu differenzieren (Kohlfürst 2023). So muss zunächst eine Entscheidung dahingehend gefällt werden, was das in einer jeweiligen Situation aus professionsethischer Sicht gebotene Verhalten überhaupt ist. Dieses ist trotz Kenntnis der professionsethischen Vorgaben nicht immer eindeutig zu erkennen, vor allem im Kontext von entsprechenden Dilemmasituationen. In weiterer Folge darf nicht selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass das Wissen um das ethisch Gebotene dazu führt, dass Fachkräfte sich auch entsprechend verhalten (wollen oder können).

Es lassen sich interne und externe Einflußfaktoren, welche professionelle Entscheidungs- und Handlungsspielräume bestimmen und beschränken können, festmachen (Como-Zipfel et al. 2023; Kohlfürst/Kulke 2023): Auf der Makroebene sind hinderliche bzw. einschränkende gesellschaftliche/politische Strukturen beispielsweise entsprechende rechtliche Bestimmungen/Vorgaben, divergierende gesellschaftliche und politische Interessen und Zugänge (vor allem bei erforderlicher Zusammenarbeit mit weiteren Institutionen, Behörden oder staatlichen Kontrollorganen) sowie neoliberal geprägte Vorgaben in Bezug auf finanzielle Rahmenbedingungen oder den inhaltlichen und erfolgsbezogenen Ansprüchen bzw. Vorgaben der Kostenträger. Auf der Mesoebene spielen die konzeptionellen Grundlagen und Rahmenbedingungen der jeweiligen Organisation (beispielsweise das Leitbild, die jeweilige Personal- und Leitungsstruktur, die Organisationskultur und die zur Verfügung stehenden zeitlichen, personellen und räumlichen Ressourcen) eine wesentliche Rolle in Bezug auf die Umsetzungsmöglichkeiten ethischen Verhaltens. Auf der Mikroebene sind unter anderem die individuellen ethischen Vorstellungen bzw. Interpretationen, die professionellen Kompetenzen, die beruflichen Erfahrungen, die situative Befindlichkeit (Tagesform) der jeweiligen Fachkraft zu verorten, die das Handeln beeinflussen.

Die Kenntnis der Professionsethik garantiert nicht deren Umsetzung – auf der Verhaltensebene sind vielmehr der (individuelle) Wille, vor allem das (individuelle und organisatorische/strukturelle) Können und eventuell auch der (organisatorische) Zwang zur (Nicht)Umsetzung der professionsethischen Vorgaben entscheidend (Kohlfürst 2023). Der Wille zu moralischem Handeln wird von verschiedenen Aspekten beeinflusst – beispielsweise ob grundsätzlich eine internale Motivation zu moralischem Handeln besteht oder ob die jeweilige Arbeitssituation und Unternehmenskultur zu einem Gefühl der fehlenden Wertschätzung und Anerkennung, der Ungerechtigkeit und Ausgenutztwerdens führen. So kann es dazu kommen, dass sich Fachkräfte der Sozialen Arbeit der Professionsethik nicht mehr im vollen Ausmaß verpflichtet fühlen und sich nicht entsprechend verhalten wollen. In solche Situationen können organisationsinterne Vorgaben (beispielsweise entsprechende Kontrollen und Anweisungen) die Fachkräfte zum professionsethischen Handeln zwingen.

 Das individuelle Können zum Handeln gemäß der Professionsethik wird durch die tatsächlichen fachlichen methodischen Kompetenzen als Ergebnis einer professionellen Ausbildung und Sozialisation sowie durch die Selbstkompetenz im Sinne einer entsprechenden Selbstreflexion bestimmt. Das organisatorische/strukturelle Können erfordert entsprechende Strukturen, die ein Handeln gemäß den professionsethischen Vorgaben auch ermöglichen. Sind diese Strukturen nicht vorhanden, kann es zu unethischen Verhaltensweisen bzw. Situationen im beruflichen Alltag der Sozialen Arbeit kommen. Bei den betroffenen Fachkräften kann dies zu dem aus der Pflege schon länger bekannten Phänomen des moralischen Stresses als Folge moralischer Konflikte führen. Diese sind dadurch charakterisiert, dass Fachkräfte zwar wissen, was das aus ethischer Sicht Gebotene ist, sich aber aufgrund der äußeren Umstände nicht in der Lage sehen, sich entsprechend zu verhalten (Großmaß/Perko 2011; Monteverde 2019). Kersting (1999) spricht in diesem Kontext auch von der Gefahr eines moralischen Coolouts im Sinne des „sich kalt Machens“, um so mit bestimmten Situationen einen individuellen Umgang finden zu können.

Förderung ethischer (Handlungs-)Situationen im beruflichen Alltag

Es ist deutlich, dass ethisches Handeln im beruflichen Alltag der Sozialen Arbeit eine Gemengelage aus verschiedenen sich wechselseitig beeinflussenden Faktoren darstellt. Ausgehend von jenen Einflussfaktoren, die auf der Makro- und Mesoebene verortet sind, ist hier der politische Auftrag der Sozialen Arbeit erkennbar: Soziale Arbeit und (Sozial)Politik sind eng miteinander verbunden, da die Gesetzgebungen weitestgehend die Rahmenbedingungen (die zur Verfügung stehenden personellen, räumlichen und zeitlichen Ressourcen) und (legalen) Handlungsspielräume Sozialer Arbeit bestimmen (Burzlaff 2019). Die Soziale Arbeit ist aufgefordert, im Rahmen von Policy Practice auf die Gestaltung und Implementierung neuer Politiken bzw. auf die Veränderung oder Abschaffung bereits bestehender Politiken entsprechenden Einfluss zu nehmen (Burzlaff 2019, obds/ogsa 2024). Benz und Rieger (Rieger 2013) differenzieren diesbezüglich vier verschiedene Dimensionen politischen Handelns im Kontext der Sozialen Arbeit; neben der Politikimplementation umfassen diese die Politikberatung, Interessensvertretungen und politische Bildung. Entscheidend ist die professionelle Reflexion dahingehend, dass im Mikrobereich des persönlichen Helfens die sozialpolitischen Grundlagen verhandelt werden – die Soziale Arbeit trägt also entweder dazu bei, „den status quo gesellschaftlicher Verhältnisse und Interessenlagen zu stabilisieren oder arbeitet an der Veränderung der Rahmenbedingungen ihres Handelns“ (Rieger 2013, S. 65). Eine Veränderung der Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit kann so ethische (Handlungs)Situationen fördern, da sie nicht nur ein entsprechendes Handeln ermöglicht, sondern sich auch positiv auf die Motivation zu diesem Verhalten auswirken kann.

Ethische (Handlungs)Situationen können auch auf der Meso- und Mikroebene gefördert werden, indem Fachkräfte unethisches Verhalten von Kolleg*innen oder Vorgesetzten nicht stillschweigend hinnehmen, sondern es ansprechen und öffentlich machen. Prasad (2023) spricht in diesem Kontext von Whistleblowing, verstanden als „das Äußern von belegten Bedenken über Fehlverhalten, ausbeuterisches, unethisches und/oder diskriminierendes Handeln, schädliche Praktiken, Risiken oder Gefahren, die Klient_innen und/oder ihr soziales Umfeld oder Mitarbeitende der Einrichtung betreffen“ (S. 191). Dabei ist zwischen internem (innerhalb der Organisation) und externem (nach außen, beispielsweise Dachverbände, Geldgeber*innen oder Medien) Whistleblowing zu unterscheiden; die Schwierigkeiten liegen oftmals in der fehlenden Möglichkeit der Wahrung der Anonymität und den befürchteten persönlichen Folgen (z.B, einer Kündigung). Entsprechend ist gegebenenfalls auch Mut, in diesem Kontext Zivilcourage, im beruflichen Alltag erforderlich, um so die Umsetzung der ethischen Vorgaben der Sozialen Arbeit bestmöglich umzusetzen.


FH-Prof.in Dipl. Sozialpäd.in (FH) Mag.a Dr.in Iris Kohlfürst, Professorin für Ethik und Methoden der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Oberösterreich. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen neben ethischen und methodischen Aspekten der Sozialen Arbeit im Bereich der Professionalisierung, Akademisierung und politischer Partizipation im Kontext der Sozialen Arbeit.


Quellen

Banks, Sarah (2021): Ethics and Values in Social Work. London: Red Globe Press.

Burzlaff, Miriam (2019): Policy Practice – Eine Einführung mit Fokus auf Curricula Sozialer Arbeit. In: Rieger, Günter/ Wurtzbacher, Jens (Hrsg.): Tatort Sozialarbeitspolitik. Fallbezogene Politiklehre für die Soziale Arbeit. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 27-51.

Como-Zipfel, Frank/ Kohlfürst, Iris/ Weß, Anna (2023): Über (un-)moralische Strukturen in der Praxis pädagogischer, pflegerischer und psychosozialer Professionen. In: Kohlfürst, Iris / Kulke, Dieter/Leupold, Michael /Como-Zipfel, Frank (Hrsg.) (2023): Ethische Fallreflexion für die Praxis sozialer Berufe. Freiburg: Lambertus, S. 14-31.

Como-Zipfel, Frank/Kohlfürst, Iris/Kulke, Dieter (2019): Welche Bedeutung hat Ethik für die Soziale Arbeit? Berlin: Deutscher Verein/Lambertus.

DBSH (Hrsg.) (2014): Berufsethik des DBSH. Ethik und Werte. Forum Sozial 4/2014.

Großmaß, Ruth/Perko, Gudrun (2011): Ethik für soziale Berufe. Paderborn [u.a.]: Schöningh.

Kersting, K. (1999). Coolout im Pflegealltag. Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft, 4(3), 53-60. https://dg-pflegewissenschaft.de/wp-content/uploads/2017/06/PG-3-1999-Kersting.pdf (18.04.2025).

Kohlfürst, Iris (2016): Die moralische Landschaft der Sozialen Arbeit – eine empirische Analyse der Umsetzung von Werten und Normen im beruflichen Alltag. Linz: pro mente.

Kohlfürst, Iris (2023): Das Vier-Faktoren-Modell zur Reflexion (un-)moralischer (Handlungs-)Situationen in der Praxis sozialer Berufe – ein Bildungsformat an der Fachhochschule Oberösterreich.  In: Kohlfürst, Iris/Kulke, Dieter/Leupold, Michael /Como-Zipfel, Frank (Hrsg.) (2023): Ethische Fallreflexion für die Praxis sozialer Berufe. Freiburg: Lambertus, S. 177-191.

Kohlfürst, Iris/Kulke, Dieter (2023): „Ja. Im Alltag wird’s oft schwierig.“ – Die Umsetzung der Berufsethik in der Praxis sozialer Berufe. In: Kohlfürst, Iris/Kulke, Dieter/Leupold, Michael /Como-Zipfel, Frank (Hrsg.) (2023): Ethische Fallreflexion für die Praxis sozialer Berufe. Freiburg: Lambertus, S. 85-104.

Linssen, Ruth/Schön, Felix/Litzcke, Sven (2012): „Man kennt sich, man hilft sich“ oder doch schon Korruption? Empirische Hinweise zu fragewürdigen Praktiken im Sozialwesen. In: np 1/2012, S. 27-43.  

Monteverde, Settimio (2019): Komplexität, Komplizität und moralischer Stress in der Pflege. In: Ethik in der Medizin, Vol. 31, S. 345–360.

Obds (2023): Definition der Sozialen Arbeit; konkretisiert für Österreich. https://obds.at/dokumente/definition-der-sozialen-arbeit-konkretisiert-fuer-oesterreich/ (12.08.2024).

Obds/ogsa (2024): Ethische Grundsätze der Sozialen Arbeit. Ein Rahmen für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Österreich. Eigenveröffentlichung. https://obds.at/dokumente/entwurf-ethische-grundsaetze-in-der-sozialen-arbeit-ein-rahmen-fuer-sozialarbeit-und-sozialpaedagogik-in-oesterreich/ (12.08.2024).

Prasad, Nivedita (2023): Whistleblowing: eine ethische Entscheidung aus Gewissensgründen. In: Prasad, Nivedita: Methoden struktureller Veränderung in der Sozialen Arbeit. Stuttgart: utb GmbH, S. 189-203.

Rieger, Günter (2013): Das Politikfeld Sozialarbeitspolitik. In: Benz, Benjamin/ Rieger, Günter, Schönig, Werner/ Többe-Schukulla, Monika (Hrsg.): Politik Sozialer Arbeit. Band 1: Grundlagen, theoretische Perspektiven und Diskurse. Weinheim und Basel: Beltz Juventa; S. 54-69.

Sueddeutsche.de (2024): Möglicher Missbrauch in Kinderheim – Anklage erhoben. https://www.sueddeutsche.de/panorama/sexualisierte-gewalt-moeglicher-missbrauch-in-kinderheim-anklage-erhoben-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-241203-930-306528 (19.04.2025)