23 Jul

Kants rassistischer Rassenbegriff

Von Reza Mosayebi (Bochum)

Dass Kants Rassentheorie aus heutiger Sicht widerlegbar ist, bedarf kaum einer Erwähnung. Doch selbst in solcher Art Theorien finden sich Momente, bei denen es immer noch Sinn macht, auf ihren Dogmatismus und ihre Gefährlichkeit aufmerksam zu machen. Inzwischen zählt Kant (nicht Blumenbach) für viele Ideenhistoriker*innen als der Gründer der modernen, „wissenschaftlichen“ Theorie der Rasse. Und schon hier ist wichtig daran zu erinnern, dass es Kant war, der (z. B. im Gegensatz zu Montesquieu oder Buffon) aufgrund seiner Teleologie für die Permanenz der Rassen, nachdem sie einmal entstanden sind, argumentierte (VvRM 2:442; BBMR 8:105; ÜGTP 8:166). Für Kant war die Rasse ein unveränderliches Schicksal von Individuen.

Doch – wie so oft – steckt der Teufel im Detail. Kant war aus zwei zusammenhängenden Gründen gegen jede Rassenmischung: Nach seinem teleologischen Narrativ sollten die einzelnen niedrigeren und höheren Rassen erhalten bleiben, eine Vermischung der Rassen aber löse sie vollständig auf (damit unterscheidet sich Kants Konzeption der Rassenmischung von der One-Drop-Rule), und führe zu einer Degradierung höherer Rassen (ÜGTP 8:166–67; BBMR 8:104–05; Anth 7:320; s. weiter etwa Refl 1520 15:878). Kant ging nämlich davon aus, dass bei der Vermischung allein die rassischen Nachteile vererbbar sind. Nach seiner Auffassung war somit die Entstehung von und Zugehörigkeit zu einer Rasse nicht nur irreversibel, sondern es sei auch nicht gut gewesen, verschiedene Rassen durch Mischung „zusammen[zu]schmelz[en]“ (Anth 7:320).

Das hat eine, in der Literatur vernachlässigte, Kehrseite, nämlich Kants Argumente zugunsten der Mischung innerhalb der weißen Rasse (VvRM 2:430; ÜGTP 8:166–67). (Wohlgemerkt, Kant hat ein weites Verständnis der Weißheit, die zwischen Okzidentalischem und Orientalischem Schlag unterscheidet, somit nicht auf Europäer*innen – Kant gendert nicht! – beschränkt ist, s. etwa Refl 1520, 15:879.) Auch dies beruht hauptsächlich auf zwei wichtigen Gründen: Die Weißen sind für ihn die überlegene Rasse (VvRM 2:440; ÜGTB 8:174; PG 9:316) und ihre innerrassische Diversität sorgt für die „Mannigfaltigkeit der Charaktere“ (ÜGTP 8:166), die er als Zweck der Natur für den Fortschritt der Kultur betrachtet (KU 5:431; Päd 9:449).

Doch was ist die Moral dieser Geschichte für heute? Um die moderne Rassentheorie und deren Rolle für den Rassismus zu verstehen, ist eine genaue und offene Untersuchung von Kants Rassentheorie unabdingbar. Weiterhin: Wie und aus welchen Gründen eine Rassentheorie die Mischung von „Rassen“ auffasst, verrät viel über diese Theorie selbst. So birgt die sog. One-Drop-Rule eine essentialistische Konzeption der Rasse in sich, welche (in der Regel) die Reinheit einer Rasse verteidigt. Ferner ist Kants eigener Dogmatismus, unter anderem bezüglich der Übertragung ausschließlich schlechter Eigenschaften bei der Rassenmischung (etwa im Unterschied zu José Vasconcelos‘ Idee der Raza Cósmica, welche sich genau für die entgegengesetzte Richtung entscheidet, nämlich für die Akkumulation guter Eigenschaften in gemischten Rassen), mehr als überraschend. Kants teleologische Opposition zur Rassenmischung auf der einen und seine Befürwortung der Vermischung innerhalb der weißen Rasse auf der anderen Seite wollen letzten Endes die Frage klären, wer die wahren Akteure des kulturellen Fortschritts sind. In ihrer janusköpfigen Funktion diente „Rasse“ Kant dazu, in seiner Naturgeschichte zu erläutern, wie es dazu kommen konnte, dass Menschen dort sind, wo sie (kulturell) jetzt – das ist in der Aufklärungszeit – sind, und in seiner Geschichtsphilosophie trägt der Begriff dazu bei zu klären, wie Menschen dorthin gelangen, wo sie sein sollten.

Noch interessanter sowohl für heutige Analysen des Rassismus als auch zugunsten antirassistischer Agenden scheint es mir zu sein, Kants Rassentheorie in Verbindung mit seiner Moralphilosophie im breiteren Sinne zu betrachten. Und zwar so, dass wir eine mögliche Voreingenommenheit (bias) für letztere beiseitelegen; das heißt, Kants Rassentheorie zusammen und auf gleicher Augenhöhe mit seiner Moraltheorie lesen. Hierbei beachte man, dass Kant alle seine drei Abhandlungen über Rasse, selbst die erste aus seiner vorkritischen Periode, bis Ende der 1790er Jahren mehrmals unverändert wiederveröffentlicht hat. Beachtet man diese Punkte, lässt sich (trotz dem Ignorieren und Leugnen vieler) noch einiges von Kants Rassentheorie lernen – nicht unbedingt lediglich, um ihn zu kritisieren (geschweige denn zu canceln).

11 Jun

Die mutlose Unmündigkeit des Menschen

Von Jörg Noller (Augsburg)

In seinem bekannten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784 schreibt Kant, „Faulheit und Feigheit“ seien „die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen […], dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben“ (8:35). Diese Diagnose gilt auch für die heutige Zeit, in der wir mit der Gefahr einer „digitalen Unmündigkeit“ konfrontiert sind. Denn wir sind immer mehr bereit, unser Denken an Algorithmen – in Kants Worten „Satzungen und Formeln“ zu delegieren, die zu „mechanischen Werkzeuge[n]“ unseres Denkens werden. In Abwandlung eines Zitats von Kant können wir sagen: „Habe ich ChatGPT, das für mich Verstand hat, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“ Kants Forderung lautet deswegen: „Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Wo sich Kant allerdings irrt, ist in meinen Augen seine darauf folgende These, „[d]aß der bei weitem größte Theil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte“ (8:35). Kants Generalisierung des „schönen Geschlechts“ verwundert bei all seiner sonstigen Scharfsinnigkeit. Es mag sicherlich der Fall sein, dass Männer und Frauen zu Kants Zeit anderen gesellschaftlichen Zwängen und Normen unterlagen als heute. Doch geht Kants These noch weiter. Sie betrifft nicht nur gesellschaftliche Zustände, sondern eine generelle Disposition zur mutlosen Unmündigkeit, die er dem „schönen Geschlecht“ unterstellt. Aufklärung setzt jedoch voraus, allen Menschen, egal welchen Geschlechts, den nötigen Mut zu unterstellen, der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entgehen.

11 Jun

Kants Urteil über Frauen

Von Konstantin Pollok (Mainz)

Kant hat, in mancher Hinsicht historisch verständlich, aber dennoch philosophisch und menschlich erschütternd Fehlurteile nicht nur gefällt, sondern auch zu begründen versucht. Sein Antisemitismus (7:205–06), sein Kultur- und Sprachchauvinismus (7:191), seine Ansicht zur Todesstrafe (6:333–37) und, meines Erachtens sehr zentral, seine Misogynie sind nicht zu rechtfertigen. Kant anerkennt zwar die Klugheit einzelner Frauen, z. B. der Madame du Châtelet, aber im Allgemeinen besitzen seiner Auffassung nach Frauen keinen dirigierenden (bzw. in Bezug auf Wissenschaft „architektonischen“ Verstand; 15:167), ihr Verstand sei stattdessen von den „Leidenschafften verdunckelt“ (25:152). In einer Vorlesung soll er gesagt haben: „Es ist nicht zu läugnen daß es auch Fälle giebt, wo dem Mann der dirigirende Verstand mangelt, und wo nur eine Frau denselben besizt, (Mit solchen Frauen mag ich nicht gerne zu thun haben) allein man muß eine jede Regel so viel wie möglich allgemein laßen, wenn gleich einige Fälle davon abgehen.“ (25:355) Aus diesem Grund spricht Kant der Frau die aktive Staatsbürgerschaft und sogar die Vertragsfähigkeit ab. Kant hat aber andererseits mit der Freiheit und Gleichheit als Kernelementen der „Würde der Menschheit“ (4:440) praktische Ideen und Normen begründet, gemessen woran jene groben Fehlurteile überhaupt erst als solche zu erkennen und zu kritisieren sind.

14 Mai

Kants unzeitgemäßes Eherecht und seine zeitgemäßen Grundlagen

Von Martin Brecher (Mannheim)

Kants Überlegungen zu Sexualität und Ehe gehören zu den immer wieder Kopfschütteln hervorrufenden Teilen seiner praktischen Philosophie. Kants These der sexuellen Verdinglichung, der zufolge sich Akteure beim (nicht-ehelichen) Sex „zur Sache“ machen, und seine wunderlich wirkende Konzeption der Ehe als ein „auf dingliche Art persönliches Recht“ lösen schnell Befremden aus. Dabei fanden bereits nicht wenige der Zeitgenossen Kants diese Theoreme durchaus fragwürdig. Der erste Rezensent der kantischen Rechtslehre, der Göttinger Philosoph Friedrich Bouterwek, sprach in Bezug auf das „auf dingliche Art persönliche Recht“ etwa von einem „neue[n] Phänomen am juristischen Himmel“, betrachtete Kants Eherecht also als eine Sternschnuppe, als etwas bloß Transitorisches, das bald wieder verschwinden würde. In diesem Sinne wurden Kants Überlegungen bereits damals als etwas in gewisser Weise Unzeitgemäßes angesehen.

In jüngerer Zeit erfreuen sich Kants Überlegungen zu diesem Themenkomplex wieder eines größeren Interesses und dienen auch als Ausgangspunkt für neue Theoriebildung – wobei insbesondere Kants Verdinglichungsthese, die viele seiner zeitgenössischen Kritiker so befremdlich fanden, ein Grund ist, sich heute überhaupt mit Kants Sexualmoral zu beschäftigen. Doch Kants Behauptung, dass das Verdinglichungsproblem nur durch die monogame und lebenslange Ehe abwendbar sei – und dass die Ehepartner einander „auf dingliche Art“ besitzen müssten –, macht Kants Ansatz nur schwer anschlussfähig. Viele Interpret*innen, die versuchen, Kants Ehekonzeption einer für uns heutigen zeitgemäßen Deutung zuzuführen, unterschätzen meines Erachtens, wie wesentlich die genannten Merkmale für Kants Ehekonzeption sind und wie eng sie mit seiner Verdinglichungsdiagnose zusammenhängen. Dies legt nahe, direkt an den Grundlagen der kantischen Moral – an der Vorstellung unserer Autonomie und Würde als Vernunftwesen – anzusetzen und von dort aus zeitgemäße Antworten auf heutige Fragen zu entwickeln. Die Grundlagen der kantischen Moral nämlich sind alles andere als unzeitgemäß, sondern so ungemindert aktuell wie wichtig.

14 Mai

Kant and the “Cannibalism” of Sex

Von Matthew King (Bristol)

Kant makes the bizarre claim that “carnal enjoyment is cannibalistic in principle (even if not always in its effect)” (Kant 1999, 495 [6:359]). He then follows this with three examples, yet each refers only to some possible types or effects of the enjoyment, rather than something inherent to it. Kant implies that the gap does not matter though, for he thinks that all carnal enjoyment ultimately involves the same issue. He then explicates the “cannibalistic” issue as the making of ourselves, or parts of ourselves, into “a consumable thing (res fungibilis)”. He claims that if we imagined a contract for this it would be “contrary to law” (495 [6:360]), then presumably takes this to rule out the rightfulness of carnal enjoyment itself.

However, and even ignoring the surprising equation of this worry about carnal enjoyment with cannibalism, Kant’s concern is clearly incorrect. Carnal enjoyment does not principally turn ourselves, or parts of ourselves, into res fungibilis. This is because there is no trade of organs when we have sex and enjoy carnal pleasure. Instead, there is only the exchange of a service which involves our organs, but does not alienate or destroy them in principle. There is therefore no tension with contractual law and, if there were, Kant would then have to commit to the illegality of all contracted labour, since labour always involves the use of one or more of our organs as a part of a service. Kant is therefore simply wrong about the “cannibalism” of carnal enjoyment, at least in principle.

References

Kant, Immanuel. “The Metaphysics of Morals”. The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant: Practical Philosophy, translated and edited by Mary J. Gregor, Cambridge: Cambridge University Press, 1999c, pp. 353-603.

14 Mai

Kants (Beinahe-)Schluss vom Sein aufs Sollen

Von Elke Elisabeth Schmidt (Siegen)

Zu den überholten Elementen aus Kants praktischer Philosophie gehört neben Rassismus, Sexismus usw. der hier und da überraschend aufblitzende Versuch, moralische Forderungen aus der Natur abzuleiten. Aus der Annahme einer zweckmäßig eingerichteten Natur resultieren, anders als Kant meinte, aber keine normativen Implikationen (die von ihm selbst diskutierte Frage, ob die Rede von Zwecken in der Natur sinnvoll ist, klammere ich aus). So folgt beispielsweise, anders als Kant zu denken scheint (§ 7, Tugendlehre), allein aus der zweckmäßigen Einrichtung der Sexualorgane – hier liegen natürliche Strukturen vor, die grundsätzlich der Funktion der Fortpflanzung bzw. Arterhaltung dienen – nicht, dass sexuelle Handlungen ohne Fortpflanzungszweck verwerflich sind. Andernfalls läge eine Art Sein-Sollen-Fehlschluss vor; es ist auch nicht moralisch verwerflich, langsam zu gehen, nur weil wir schnell rennen können. Weder Masturbation noch Sex mit Verhütung noch homosexueller Sex dienen zwar der Arterhaltung. Doch sie zerstören diese Funktion auch nicht, und jedenfalls sind sie nicht deswegen verwerflich, weil es diese Funktion gibt. Sie wären nur dann verwerflich, wenn Fortpflanzung Pflicht wäre und sexuelle Handlungen ohne Fortpflanzungszweck die Fortpflanzung zu einem anderen Zeitpunkt prinzipiell ausschlössen. Doch kann man heute das eine tun und morgen das andere (Zwecke muss man nicht immer verfolgen), und außerdem ist es nicht Kants These, dass Fortpflanzung Pflicht ist (er sagt nur: Wenn man Sex haben will, dann so, dass er der Fortpflanzung dient). Eigentlich ist also nicht recht zu sehen, wo selbst für Kant das Problem liegen soll, wenn es darum geht, Sex bloß zum Spaß zu haben. (Und so ergänzt Kant seine Kritik am Sex wohl auch mit der von ihm geltend gemachten Instrumentalisierungsgefahr der, nota bene, eigenen Person. Im Hintergrund steht dabei seine berühmte Menschheitsformel – aber das ist ein anderes Thema.)