11 Jul

Habermas: Vom Rechtsradikalismus lernen

Von Walter Reese-Schäfer (Hamburg)


Die deliberative Demokratie, wie Habermas sie seit langem vertritt, hat zwei Voraussetzungen: Die Bereitschaft, in den öffentlichen Argumentationsprozessen auf die Argumente der anderen Seite einzugehen, und zum zweiten das staatsbürgerliche Engagement, also die politische Beteiligung. Habermas hat in seinen Analysen zum neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit aufgezeigt, wie der Wandel von den journalistisch kuratierten Medien zu den immer noch weitgehend kontrollfreien Plattformen diese zugrundeliegende Voraussetzung geschrumpft, zersetzt und in interne Echoräume der Selbstbestätigung regrediert hat. In seinem theoretischen Ansatz deckt sich das mit Entpolitisierungstendenzen, wie sie in der Medienforschung seit Langem beobachtet werden. Habermas bewegt sich hier, wie es ihm als Anregung gebendem Philosophen auch zukommt, weitgehend im Feld von allerersten Arbeitshypothesen, die er bislang nur einigermaßen erklären und ansatzweise plausibilisieren kann.

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Das heißt, er macht sich selbst Gegeneinwände und Einsprüche, die bei der ersten Lektüre zunächst einmal etwas irritierend wirken und aus der Gedankenspur bringen können. Das beginnt mit seinem Satz über Trump: „Trumps fatale Aufforderung hätte in der Wut der Bürger, die am 6. Januar 2021 das Kapitol gestürmt haben, kaum das erwünschte Echo gefunden, wenn nicht die politischen Eliten seit Jahrzehnten die legitimen, von der Verfassung gewährleisteten Erwartungen eines erheblichen Teils ihrer Bürger enttäuscht hätten.“ (Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Suhrkamp: Berlin 2022, S. 17) Und er geht noch weiter: Die Grundrechtsordnung der Bürgerbeteiligung hat einen idealisierenden Überschuss, der von den wütenden Bürgern bei besonderen Gelegenheiten immer wieder einmal eingeklagt wird.

Rechtfertigt er hier den billigen Populismus? Gar den Trumpismus oder die Le Pennerie? Das wird er gewiss nicht meinen. Aber all dies, nämlich die finsteren Seiten der Zivilgesellschaft, haben einen Platz gefunden in seiner theoretischen Gesamtkonzeption, der bisher noch von niemandem beachtet wurde. Und zwar an einer ganz bestimmten Stelle: Dem Aufbringen, der Artikulation von Themen, die bisher vom politischen Diskurs vernachlässigt wurden, dann aber, wie Habermas es anstrebt, doch am Ende von einem auf staatsbürgerlichen Konsensen beruhenden deliberativen Prozesse abgearbeitet werden. Natürlich ist Habermas kein Populist, er versteht aber die wüsten Formen des Konflikts, die der Verfassungsstaat muss aushalten können, mit denen das politische System aber auch umgehen können muss, weil es sonst in Gefahr ist, seine Legitimation zu verlieren.

Ich will seinen differenzierten Blick auf den Neopopulismus, weil ich auch den fundamentalistischen Flügel der Habermasiasten überzeugen möchte (Habermas selbst versteht sich, wie alle wissen, als verfassungsrechtlich wohlinformierter Realist) an einigen Zitaten des Starnbergers festmachen, der uns einfachen Theoretikern in den Maschinenräumen der Wissenschaft, der Medien und der Politik doch immer wieder mal von seinem Olymp herab ein paar Dinge zu bedenken gibt, die wir mitunter nicht einmal zu denken gewagt haben. Im heutigen Frankreich wird der Barrikadenbau gegen rechts als „la politique du castor“ gekennzeichnet, nämlich als der Bau von Dämmen, wie es die Biber machen, die den Fluss des Deliberationsprozesses in Überschwemmungen treiben.

Dazu, und damit mir auch geglaubt wird, bringe ich die entscheidenden Zitate des Meisters: „Man kann beispielsweise den agonalen Charakter von Wahlkampagnen, den Kampf der Parteien oder die vielfältigen Protestformen sozialer Bewegungen erst richtig einordnen, wenn man sieht, dass der funktionale Beitrag der politischen Massenkommunikation zu einer insgesamt deliberativen Meinungs- und Willensbildung darin besteht, konkurrierende öffentliche Meinungen zu entscheidungsrelevanten Themen zu erzeugen.“ (Der neue Strukturwandel, S. 79). Funktionell ist das alles also zielführend, denn erst in den Beratungen der Institutionen, die sich an die zunächst einmal ziemlich wildwüchsige Meinungsartikulation anschließen, ist dann wieder Konsensorientierung vonnöten – andernfalls sind unsere „wie sich heute herausstellt, nicht besonders stabilen Demokratien“ (S. 109) dann allerdings in Gefahr.

Also für diese Strecke des Meinungsbildungsprozesses gilt: „Die informelle Kommunikation in der breiten Öffentlichkeit kann auch robuste Manifestationen oder wüste Formen des Konflikts aushalten, denn ihr Beitrag beschränkt sich auf die Mobilisierung der jeweils relevanten Themen, Informationen und Argumente, wohingegen Beschlüsse andernorts gefasst werden.“ (S. 79). Das wäre schön! Aber wenn Trump dann doch gewählt wird? Wenn der Rassemblement National, der jetzt gerade noch abgefangen werden konnte, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen doch die Mehrheit bekommt? Wenn die AfD doch den Ministerpräsidenten in einem Bundesland stellt? Irgendwie hat Habermas da oben in Starnberg ja recht, und auch hier unten in Hamburg besteht wenig Gefahr eines populistischen Sieges, aber in Thüringen, Sachsen, oder in Ungarn und der Slowakei? Gar im gelobten Land der Demokratie, in Frankreich?

Ja, und an diesem Punkt setzt Habermas noch eins drauf, und damit hat er mich endgültig aus der Fassung gebracht. Denn, wie wir alle wissen, lebt die deliberative Demokratie vom staatsbürgerlichen Engagement, von der Bereitschaft der Bürger, überhaupt sich zu beteiligen und durch ihre Beteiligung zu signalisieren, dass sie auch einer gegen sie gerichteten Mehrheitsentscheidung sich unterwerfen würden. Diese geht vielen Diagnosen zufolge zurück. Dazu erklärt der Olympier mit dem Bergblick aus Starnberg: „Und die Skepsis gegenüber der unter normalen Umständen bestehenden Bereitschaft der Bürger zur politischen Beteiligung müsste im Hinblick auf das Ausmaß an politischem Engagement überprüft werden, das uns heute im Zuge eines wachsenden Rechtsradikalismus überraschend vor Auge geführt wird.“ (S. 108) Genau: Die wollen sich ja politisch engagieren und ganz anders als den vielen Maoisten und DKPler aus meiner Studienzeit 1970-75, die eine Überwachung durch den Verfassungsschutz gescheut haben wie der Teufel das Weihwasser und dagegen permanent prozessierten, scheinen den heutigen Rechten unsere Geheimdienste vollkommen egal zu sein.

Trotzdem: Unsereins muss etwas schlucken. Habermas nennt in dem gerade angeführten Zitat doch irgendwie die wüsten Aktivisten des Populismus als, ja, Vorbild wäre wohl zu viel und im Kern falsch gesagt, also als, ich würde sagen Denkanstoß, dass mehr Staatsbürgerlichkeit möglich wäre. Er will uns erschüttern. Vermutlich hat er auch noch Recht. Man müsste dann allerdings auch die Themen nennen, die vermutlich den Ausschlag geben. Zum ersten ist es, in den USA wie in Europa, die massive Immigration. In den Augen der Bürger besonders wohl deren illegale Anteile. Also Donald Trumps Mauerpropaganda, und wohl auch das Erfolgsthema der französischen Rechten, sogar auch der neuen polnischen Mehrheit Donald Tusks, die keineswegs einwanderungsfreundlich ist, und natürlich die ungarische Position, die dort alle sozialdemokratischen Haltungen nachhaltig aus der Politik herausgefegt hat. Dann ist es die naiv russophile Friedensorientierung, die von den Grünen und Teilen der Sozialdemokratie nunmehr ganz nach rechts zur AfD in Deutschland und zum Rassemblement National in Frankreich übergesprungen ist. Schon bei George Orwell war zu lernen: Der Pazifist des letzten Krieges ist der Kriegstreiber des nächsten, denn Friedensorientierung ist immer kontextabhängig, also im Kern weder rechts noch links, auch wenn sie im Moment auf der radikalen Rechten ihren Ankerpunkt gefunden hat.

            All das, was ich hier vorgebracht habe, sind keine bloßen Randbemerkungen, keine Marginalien. Vielmehr geht es um ein Kernproblem der zivilgesellschaftlichen Theorie. Wenn, wie Habermas es vor allem in „Faktizität und Geltung“ ausbuchstabiert hat, die Bürgeraktivitäten der Zivilgesellschaft Grundlagen und Voraussetzungen der demokratischen Deliberation überhaupt erst bereitstellen, dann müssen wir alle überlegen: Wie gehen wir mit den unzivilen, den dunklen, den bösen Seiten des Bürgeraktivismus um, mit den fiesen, gemeinen, antisemitischen, ausländerfeindlichen, nicht rechtsstaatlichen Neigungen unserer Mitbürgerinnen, wie sie vor allem an den beiden Extremen des politischen Spektrums zu verorten sind? Die damalige Theorie der Zivilgesellschaft war allzu schiedlich-friedlich. Habermas ist mutig genug, die andere Seite in den Blick zu nehmen und das Thema direkt ins Visier zu nehmen, so wie es auch Emmanuel Macron und wohl auch der vielfach unterschätzte Olaf Scholz getan haben.

Was folgt: Jürgen Habermas hat uns einige Denk- und Deliberationsaufgaben gestellt, die, was die Einwanderungspolitik angeht, schon in den Äußerungen des Kanzlers Olaf Scholz („Abschieben im großen Stil“) und der Innenministerin Nancy Faeser angekommen sind, aber noch nicht in der politischen Praxis. In dem Punkt des Krieges bleibt die Unterstützung der Ukraine in ihrem Überlebenskampf unverbrüchlich, jedenfalls bis zum Wahltermin in den USA. Deliberation ist nicht nur positiv und wohlwollend, die Zivilgesellschaft kann auch ganz hässliche Ergebnisse hervorbringen. Ich glaube, das ist es, was Habermas uns vorsichtig vermitteln wollte.


Walter Reese-Schäfer ist emeritierter Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Im Campus-Verlag hat er ein Einführungsbuch zu Habermas veröffentlicht.