Vernunftlos oder beseelt? Unterwegs zu einer philosophischen und praktischen Neubewertung der Tiere
von Michael Rosenberger (Linz)
In meiner Schulzeit habe ich noch gelernt, dass die erste Fließbandproduktion der Welt das „Model T“ von Henry Ford gewesen sei, jenes Auto, das seit 1913 vom Band lief. Nicht gewusst hat man damals, dass Ford sich entscheidende Inspirationen in den Schlachthöfen von Chicago erwarb. Chicago ist bereits 1860, also über ein halbes Jahrhundert früher, die Weltmetropole des Schlachtens. Und das verdankt die Stadt der systematischen Nutzung von Fließbändern zum Töten und Zerlegen von Tieren. Schlachttiere sind der erste „Rohstoff“, der auf Fließbänder wandert, Fleisch das erste Massenprodukt aus großindustrieller Serienfertigung. Wird das den Tieren gerecht? Oder sind Tiere Sachen, die wir Menschen ausschließlich unter dem Aspekt des Nutzens für uns betrachten dürfen?
1) Die totale Vernutzung der Tiere von der Befruchtung bis zur Zerlegung
Schritt für Schritt hat die industrielle Logik der totalen Vernutzung das Tier immer weiter erfasst, bis man am Anfang seines Lebens angekommen ist, der künstlichen Besamung des Muttertiers. Gezüchtet wird heute in der Regel auf maximale Leistung hin. Schlachttiere sollen so schnell wie möglich so viel Fleisch wie möglich ansetzen. Milch gebende oder Eier legende Tiere sollen so viel Milch oder Eier geben wie möglich. Dass dabei die Gesundheit der Tiere auf der Strecke bleibt, ist in der ökonomisierten Logik der Tierhaltung belanglos. Knochenbrüche von etwa der Hälfte der Legehennen, die den gesamten Kalk ihres Körpers für die Eierschalen verbrauchen, Kreislaufprobleme der Kühe, deren Körper die produzierte Milchmenge kaum verkraftet, unterentwickelte Knochen der Fleischtiere, deren Muskeln schneller wachsen als die Knochen: Das sind nur einige Beispiele, wie blind die Tierzucht für das Wohlbefinden der Tiere geworden ist.
Diese Blindheit setzt sich fort in der Tierhaltung. Hörner werden abgesägt, Schwänze kupiert und Schnäbel gekürzt, weil die Tiere einander sonst in den beengten Ställen verletzen würden. Die tierlichen Bedürfnisse nach Bewegung, nach Körperpflege, nach Rückzugs- und Ruheräumen, nach artgemäßem Futter und artgemäßer Futteraufnahme sowie artgemäßen Örtlichkeiten der Ausscheidung von Kot und Urin, nach einer interessanten, selbst gestaltbaren Umwelt und nach sozialer Interaktion in einer überschaubaren Gruppe werden höchstens in Ansätzen berücksichtigt. Und schließlich richtet sich auch die Lebensdauer der Tiere allein nach ökonomischen Gesichtspunkten. Sobald ein Fleischtier sein Optimalgewicht erreicht hat, wird es geschlachtet. Sobald Legehennen oder Milchvieh nicht mehr die maximale Leistung bringen, werden sie entsorgt. Auf diese Weise erreichen die meisten Nutztiere nur einen kleinen Bruchteil ihrer natürlichen Lebensdauer.
Die Gesetzgebung hat dem wenig entgegenzusetzen. Zu sehr sind die nationalen Tierschutzgesetze und die Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union den ökonomischen Belangen verpflichtet, als dass für das Tierwohl nennenswerte Spielräume entstehen würden. Noch dazu werden diese geringen gesetzlichen Standards häufig unterlaufen, weil die Kontrollen durch staatliche Aufsichtsbehörden zu selten und zu nachgiebig durchgeführt werden.
2) Der lange Schatten der Geschichte: Tiere als sprach- und vernunftlose Wesen
Die moderne Nutzung der Tiere hat tiefe Wurzeln in der abendländischen Geistesgeschichte. Schon der Sophist Protagoras (etwa 490 bis 411 v. Chr.) unterscheidet den Menschen prinzipiell von den anderen Tieren. Während die Tiere so ausgestattet seien, dass sie durch körperliche Eigenschaften für das Überleben ihrer Art sorgen können, brauche der Mensch die Vernunft, um seine körperliche Benachteiligung kompensieren und sich gegen die großen Beutegreifer verteidigen zu können. Zwischen Mensch und Tier bestehe also ein prinzipieller, nicht nur ein gradueller Unterschied, so Protagoras, denn der Mensch habe die Vernunft mit den Göttern gemeinsam. Die Tiere hingegen sind für ihn Aloga (ἄλογα), sprach- und vernunftlose Wesen (Platon, Protagoras 321 c 1).
Diese frühe, vorsokratische Unterordnung der Tiere unter den Menschen setzt sich in der griechischen und römischen Philosophie trotz einer kleinen Minderheit Andersdenkender durch. Auch die frühchristliche Theologie übernimmt sie unhinterfragt – obgleich vorsichtige Zweifel geäußert werden. So beobachten viele Autoren Fähigkeiten, die der Vernunft sehr nahekommen:
- Tiere lernen aus Erfahrung und aus Fehlern (Johannes Chysostomus, Ad populum Antiochenum homiliae XV,2).
- Tiere suchen gezielt die für ein aktuelles Problem relevanten sinnenhaften Erinnerungen im Gedächtnis und fügen sie zu einer handlungsleitenden Schlussfolgerung zusammen, wenn auch nicht in abstrakten Begriffen (Aurelius Augustinus, De trinitate XII,2).
- Störche beweisen mit ihrem Gespür für den richtigen Moment der Reise nach Süden eine „fast vernünftige Überlegung“ (Basilius von Caesarea, Homilie 8,5). Geier schlussfolgern logisch, wenn sie Heeren folgen, weil sie wissen, dass es dort Leichen gibt (Basilius von Caesarea, Homilie 8,7). Auch Hunde schlussfolgern, wenn sie die Spur eines Tieres verfolgen (Ambrosius von Mailand, Hexaemeron 6. Tag IV,22).
Die meisten Autoren gehen nicht so weit wie Laktanz, der behauptet, außer dem aufrechten Gang und der Vernunft (incl. Religion und Moral) habe das Tier alle Fähigkeiten mit dem Menschen gemeinsam: Sprache und Emotionalität, Lachen und Spielen sowie die Sorge für die Zukunft (Laktanz, De ira Dei 7). Und doch bröselt im frühen Christentum die von den Griechen so rigoros gezogene Trennmauer zwischen dem Menschen und den anderen Tieren erheblich. Zum Einsturz kommt sie aber nicht. Denn das Grunddogma, die Tiere seien Aloga, tastet keiner der Kirchenväter an. Und so wandert es durch die Jahrhunderte weiter bis in den Rationalismus des 17. Jahrhunderts:
„Dadurch lässt sich auch der Unterschied zwischen den Menschen und Tieren erkennen. Denn es ist sehr bemerkenswert, dass es keine so stumpfsinnigen und dummen Menschen gibt, sogar die sinnlosen nicht ausgenommen, die nicht fähig wären, verschiedene Worte zusammenzuordnen und daraus eine Rede zu bilden, wodurch sie ihre Gedanken verständlich machen; wogegen es kein anderes noch so vollkommenes und noch so glücklich veranlagtes Tier gibt, das etwas Ähnliches tut. Das kommt nicht von der mangelhaften Beschaffenheit ihrer Organe, denn man sieht, dass die Spechte und Papageien ebenso gut Worte hervorbringen können wie wir, und doch können sie nicht ebenso gut wie wir reden, das heißt zugleich bezeugen, dass sie denken, was sie sagen; während Menschen, die taubstumm geboren, also ohne die Organe sind, die anderen zum Sprechen dienen, ebenso oder mehr als die Tiere einige Zeichen von selbst zu erfinden pflegen, um sich denen verständlich zu machen, die im täglichen Zusammensein mit ihnen Muße haben, ihre Sprache zu lernen. Dies beweist nicht bloß, dass die Tiere weniger Vernunft als die Menschen, sondern dass sie gar keine haben.“ (René Descartes 1998, Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, Stuttgart, 54f)
Auch Immanuel Kant, obgleich ein großer Tierfreund, bleibt im rationalistischen Paradigma gefangen. Erst der Bruch mit diesem im angelsächsischen Utilitarismus Jeremy Benthams ermöglicht einen tierethischen Neuanfang: „Die Frage ist nicht ‚Können sie denken?‘ oder ‚Können sie reden?‘, sondern ‚Können sie leiden?‘“ (Jeremy Bentham 1828, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, London, Bd. 2, 235-236)
3) Die Notwendigkeit einer tierethischen Umkehr
Auf der Basis der Evolutionstheorie, die den Menschen mit seinen vierbeinigen Verwandten zusammenbringt, und der Hirnforschung, die zeigt, wie gering die Unterschiede zwischen dem menschlichen Gehirn und dem Gehirn der meisten Tiere sind, verschärft sich die Notwendigkeit, zwischen Menschen und anderen Tieren mehr Verbindendes und weniger Trennendes zu sehen. Ein neues Ethos im Umgang mit den Tieren ist überfällig. Ihre Betrachtung als vernunft- und seelenlose Wesen hat ausgedient. Sie sind unsere Mitgeschöpfe, unsere Schwestern und Brüder.
Michael Rosenberger ist seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie an der KU Linz