Zur Rolle von Religion und Weltanschauungen in der Tierethik

von Clemens Wustmans (Berlin)


Religiöse Überzeugungen spielen im komplexen Feld von Tierethik, Tierschutz und Tierrechtsbewegung eine ambivalente Rolle: Tierschutzvereine und Tierheime sind in großer Zahl nach Albert Schweitzer benannt, auf der Ebene sozialer Bewegungen begründen nicht wenige Menschen ihre Motivation für den Tierschutz mit ihrer religiösen Sicht auf die Welt, um sich für ihre Mitgeschöpfe einzusetzen (ein Begriff, der so auch im deutschen Tierschutzgesetz zu finden ist) und zumindest im deutschsprachigen Raum ist die Umweltbewegung der 1970er und 80er Jahre kaum ohne ihre religiöse Dimension denkbar.

Andererseits nimmt die Theologie innerhalb des tierethischen Diskurses eher eine Außenseiterrolle ein und gerade die Tierrechtsbewegung zeigt deutlich atheistische Züge. Damit verbunden ist eine starke Skepsis gegenüber religiös begründeten Ethiken, zumal gerade die Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere in der westlichen Welt als Folge der historischen Dominanz der großen „abrahamitischen Weltreligionen“ gesehen wird. Von Peter Singer bis Richard David Precht reicht die Bandbreite derjenigen, die im Verhältnis von Judentum, Christentum und Islam gegenüber nichtmenschlichen Tieren kaum Unterschiede ausmachen können. In den genannten Religionen finde sich einen Hauptgrund für den völlig versachlichten Blick des herrschenden Menschen auf das unterworfene Tier, prominente Figuren wie Franz von Assisi nähmen kaum mehr als eine „Alibifunktion“ ein.

Nun ist es in historischer (und eurozentrischer! – nur für die kann ich allerdings ehrlichweiser sprechen oder schreiben) Perspektive natürlich zutreffend, religiösen Menschen ein oft problematisches, von Ausbeutung und Missachtung vieler Bedürfnisse gekennzeichnetes Verhältnis gegenüber nichtmenschlichen Tieren zu attestieren. Kirchen und Glaubensgemeinschaften haben dies in ihrer Auslegung biblischer Texte gestützt und auch die Theologie hat sich bis in die jüngste Vergangenheit relativ wenig um dieses problematische Verhältnis gekümmert.

Gleichwohl muss man festhalten: Dies gilt nun nicht nur für religiöse Menschen und theologische Ethik – auch in der Philosophie nimmt die Mensch-Tier-Beziehung erst seit wenigen Jahren einen ernstzunehmenden Raum ein und die Kehrseite des Rationalismus und der Einführung des (menschlichen) Selbstbewusstseins als genuin philosophisches Thema bei Descartes waren eben auch die Vorstellung von nichtmenschlichen Tieren als Automaten. Kurz: Es braucht weder eine religiöse Weltanschauung als Grundlage, um eine problematische Mensch-Tier-Beziehung auszubilden, noch sind gläubige Menschen per se ausgenommen aus dem Kreis derer, die sich für Tierschutz oder auch Tierrechte einsetzen. Und damit kommen die Theologie bzw. die theologische Ethik ins Spiel, deren Aufgabe ja ganz grundsätzlich als kritische Reflexion von Ethos und Moralvorstellungen derjenigen Menschen betrachtet werden kann, die mit einer bestimmten Glaubensvorstellung in Kontakt gekommen sind, diese plausibel finden und zur Grundlage ihrer Vorstellung vom Guten machen.

Für tierethische Diskurse, so meine These, ergeben sich daraus zwei Konsequenzen: An Stelle von „Grabenkämpfen“ und dem Abarbeiten an Vorbehalten dagegen, eine Ethik der Mensch-Tier-Beziehung theologisch zu fundieren und damit das Prinzip weltanschaulicher Neutralität aufzugeben, scheinen deskriptive Ehrlichkeit (in der historischen Beschreibung wie der globalen Gegenwartsanalyse) und ein normativer Schulterschluss viel weiterführender zu sein.

Was meint deskriptive Ehrlichkeit? Vor allem muss es bedeuten, in deskriptiven, also beschreibenden Darstellungen dessen, welche Haltung religiöse Ethiken gegenüber nichtmenschlichen Tieren einnehmen, Ambivalenzen und Pluralität ernst zu nehmen und gelten zu lassen. Weder waren alle „Naturreligionen“ die Basis holistischer Idyllen, in denen alle Lebewesen im harmonischen Einklang lebten, noch hat beispielswiese das Christentum ausschließlich die Idee vom Menschen als „Krone der Schöpfung“ und dem Herrschaftsauftrag über die Welt hervorgebracht. Die christliche Tradition, die ich als evangelischer Theologe beispielhaft herausgreifen möchte, ist eben eines nicht: eine einheitliche Tradition. Nicht nur gibt es verschiedene Konfessionen und Denominationen mit zum Teil höchst verschiedenen Ethiken, auch innerhalb einer Strömung des Christentums sind die ethischen Konsequenzen, die aus grundsätzlich gemeinsamen Werten gezogen werden, sehr variabel. Sicher in die Irre führt es jedoch, Personen wie Franz von Assisi oder Albert Schweitzer (sofern dieser überhaupt als Theologe wahrgenommen wird) als absolute Außenseiter wahrzunehmen, während alle übrigen Vertreter*innen der Theologie das böse Spiel des radikalen Speziezismus betrieben hätten.

Die elementare biblische Sicht, nichtmenschliche Tiere als Mitgeschöpfe wahrzunehmen, ist nicht von der Hand zu weisen: Nicht nur, dass nichtmenschliche Tiere auf beinahe jeder Seite der Bibel in irgendeiner Weise vorkommen – oft werden sie auch nicht nur als „nützliche Gefährten“ des Menschen, sondern als Teil einer der menschlichen Verfügbarkeit entzogen, eigenständigen Welt beschrieben (Ps 104,17; Hiob 39) – und relativ unbefangen als Lebewesen mit einer Seele (Ps 104,20) gesehen. Diese elementare biblische Sicht wird in weiten Teilen der Christentumsgeschichte deutlich. In der Reformationszeit formuliert beispielsweise Martin Luther im kleinen Katechismus die Mitgeschöpflichkeit von Mensch und Tier als Selbstverständlichkeit. Eine kategoriale Trennung von Mensch und Tier, wie sie der neuzeitliche Rationalismus formuliert, scheint ihm fremd: In den Tischreden Luthers findet sich vielmehr der Hinweis, dass er erwartet, nichtmenschliche Tiere würden Teil der „ewigen Erlösung“ sein. Entsprechende ethische Konkretionen zum Umgang mit nichtmenschlichen Tieren finden sich auch bei Philipp Jakob Spener oder Johann Lavater, also keineswegs „Alibi-Randfiguren“ der Christentumsgeschichte.

Auch ganz pragmatisch spielten religiöse Überzeugungen im Tierschutz oft eine Rolle: Der erste Tierschutzverein in Deutschland wurde 1837 in Stuttgart auf Initiative des Theologen Albert Knapp gegründet, in England war es bereits vorher, vor allem in puritanischen Kreisen, ähnlich. Knapp wurde in seinem Engagement vor allem durch den Pfarrer Christian Adam Dann geprägt. Die Gründung des Stuttgarter Vereins kann als dessen Vermächtnis gelten. Dass mit Knapp und Dann zwei stark im Pietismus verankerte Theologen die „Gründungsväter“ der deutschen Tierschutzbewegung waren, ist sicherlich kein Zufall, sondern hängt mit der rationalitätskritischen, stark auf das Gefühl konzentrierten Haltung des Pietismus zusammen. Neben der Verankerung des Tierschutzgedankens in der bürgerlichen Öffentlichkeit gelang es, dass in Württemberg ebenso wie in Sachsen, erste Tierschutzgesetze erlassen wurden. Auch der Begriff „Bioethik“ stammt aus der Theologie, er wurde in den 1920er Jahren durch den evangelischen Pfarrer Fritz Jahr aus Halle geprägt. Für Jahr waren vor allem naturwissenschaftliche Erkenntnisse beeindruckend, die eine grundlegende Unterscheidung von Mensch und Tier in Frage stellten. Daneben bezog er sich ausdrücklich auch auf theologische Vorbilder wie Franz von Assisi und Schleiermacher sowie die indischen philosophischen Schulen, um sein Konzept der Bio-Ethik zu legitimieren.

Auffällig ist: Je mehr das Besondere des Menschen in seiner Rationalität gesehen wird, desto größer ist die Distanz zu den nichtmenschlichen Tieren und desto eher werden deren Empfindungen relativiert. Eine vom Gefühl bestimmte Haltung zur Welt, die diese Welt als Schöpfung versteht und Gott dafür lobt, war andererseits lange Zeit sogar eher für Perspektiven geöffnet, auch das Leiden nichtmenschlicher Tiere als ethische Herausforderung wahrzunehmen. Diese Haltung – und das ist mit deskriptiver Ehrlichkeit gemeint – fand und findet ihre Grundlage eben oft gerade in religiösen Weltanschauungen.

Gleichzeitig ist der Vorwurf des oft „arroganten Anthropozentrismus“ in den Weltreligionen nicht von der Hand zu weisen. Bedeutende Theologen waren davon überzeugt, dass Gott die nichtmenschlichen Tiere für den Gebrauch des Menschen geschaffen habe. Der Mensch habe das Recht, sie nach seinem Belieben zu nutzen und zu töten. Mitte des 19. Jahrhunderts, als es Christ*innen (Theologen, oft aber besonders auch Pfarrersfrauen) waren, die den Tierschutzgedanken im Bürgertum vorantrieben, hat sich Papst Pius IX. hartnäckig gegen den Aufbau einer nationalen italienischen Tierschutzorganisation in Rom widersetzt. Auch Proteste spanischer Bischöfe gegen den Stierkampf (der voller religiöser Symbole ist) finden sich nicht.

Doch auch in der Theologie finden Entwicklungen statt, die der Tierethik einen weitaus größeren Raum geben: Der anglikanische Bischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu bezeichnet es als „eine Art theologischen Schwachsinn“ zu glauben, dass Gott die gesamte Welt nur für die Menschen geschaffen habe. Papst Franziskus hat die Enzyklika „Laudato Si“ veröffentlicht. Und so wäre auch für die akademische Tierethik eigentlich nichts naheliegender als ein „normativer Schulterschluss“.

Zunehmende Säkularität und Atheismus, also die Ablehnung religiöser Überzeugungen, sind uns in Mitteleuropa vertraut und speziell in Städten wie Berlin beinahe selbstverständlich – global sind sie das nicht. Nach wie vor fußt die Weltanschauung mehrerer Milliarden Menschen auf der Welt auf religiösen Prinzipien. Säkularität stellt global gesehen eher die Ausnahme dar. Und wissenschaftstheoretisch könnte man ergänzen: Weltanschauliche Neutralität gibt es ohnehin nicht. Auch, wer mit einer klar atheistischen Haltung Ethik treibt, hat einen weltanschaulichen Hintergrund (legt diesen aber im Zweifel nicht so eindeutig offen, wie es schon, qua „Berufsbezeichnung“, Theolog*innen machen).

Es läge also nahe, dort, wo Ethik normative Ansprüche hat, also Vorschläge und Vorlagen für gesellschaftliche Debatten liefert, theologische Begründungen mit einzubeziehen. Wenn der Alttestamentler Jürgen Ebach beispielsweise das Bild von der biblischen Schöpfung als „utopischer Erinnerung“ entwirft, meint das, dass der Mensch zu diesem ursprünglich von Gott gewollten Zustand zurückfinden soll. Und dieser Zustand schließt eben beispielsweise auch eine vegetarische Ernährung mit ein, die mit ihrer Begründung im Schöpfungsbericht der Genesis in Christentum wie Judentum eine entsprechende Autorität bekommt.

Tierethisch würde dementsprechend der normative Einsatz – hier im Beispiel für eine vegetarische oder vegane Lebensweise – vom Prinzip der Begründungsoffenheit profitieren. Diese wäre sicher hilfreicher als eine fundamentale Ablehnung religiöser Prinzipien als Grundlage von Ethik, indem sie anerkennt, dass es verschiedene Weltanschauungen, Prinzipien und grundsätzliche Überzeugungen geben kann, die alle gemeinsam zu einem gleichen Ziel, zu einer gleichen Vorstellung davon, was „gut“ ist, führen können.


Dr. Clemens Wustmans ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie (Ethik und Hermeneutik) an der Humboldt-Universität zu Berlin.