Zwischen Würde und Nutzwert: die Diskussion um den Eigenwert von Tieren

von Martin M. Lintner (Brixen)


Bei Interviews oder Diskussionen über tierethische Fragen wird oft folgende Frage gestellt: „Unsere Haustiere lieben und verhätscheln wir und geben jede Menge Geld aus, damit es ihnen gutgeht. Aber wie unsere Nutztiere aufwachsen und leben, darüber machen wir uns weitgehend keine Gedanken. Ihre Haltungs- und Schlachtungsbedingungen werden weitgehend nach dem ökonomischen Nutzenkalkül ausgerichtet, das Wohlergehen und die Gesundheit eines Tieres spielen maximal eine nur untergeordnete Rolle. Ist das nicht ein Widerspruch?“

Die Frage spiegelt die Ambivalenz, ja auch eine gewisse Doppelmoral im Umgang mit den Tieren wider. Sie verweist auf das grundsätzliche Problem, dass wir vielfach den Wert eines Tieres von dessen Beziehung zu uns abhängig machen. Am deutlichsten zeigt sich dies im Begriff „Nutztier“. Damit bezeichnen wir Tiere, die von Menschen wirtschaftlich genutzt werden und deren Wert an ihrem instrumentell und ökonomisch quantifizierbaren Nutzen bemessen wird. Die Problematik zeigt sich aber auch im Umgang mit Haus- und Heimtieren, die für jemanden umso wichtiger sind, je intensiver die emotionale Beziehung zu ihnen ist. Sie haben vielleicht keinen unmittelbaren Nutz-, wohl aber einen emotionalen Wert für bestimmte Menschen. In anderen Situationen ist das Verhalten gegenüber einem Tier davon bedingt, ob es für niedlich empfunden wird oder nicht. Gewisse Haustierrassen werden gezielt so gezüchtet, dass auch ausgewachsene Individuen Merkmale des Kindchenschemas behalten, was für die betroffenen Tiere oft mit gravierenden gesundheitlichen Problemen verbunden ist. Es besteht also die Gefahr, dass ein Tier nicht um seinetwillen respektiert wird, sondern aufgrund seiner instrumentellen, emotionalen oder ästhetischen Bedeutung für uns Menschen. Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob einem Tier als solchem, unabhängig von seiner wie auch immer gearteten Beziehung zu einem Menschen, ein Wert zukommt und – falls ja – in welchem Sinn.

In den diversen tierethischen Ansätzen herrscht breiter Konsens, dass der traditionelle ontologische Anthropozentrismus, dem zufolge nur der Mensch sowohl Subjekt als auch Objekt moralischer Rechte ist und der Wert eines Tieres an seinem Nutzen für die Menschen bemessen werden kann, überwunden werden muss. Selbst Papst Franziskus prangert in seiner Umweltenzyklika Laudato si’ (2015) mit scharfen Worten einen „despotischen“ und „fehlgeleiteten Anthropozentrismus“ an, der den Eigenwert der Tiere, den Vorrang ihres Seins vor dem Nützlichsein nicht achtet (vgl. Nrn. 68–69). Aus tierethischer Sicht wird auch jene anthropozentrische Position kritisch hinterfragt, die dem Menschen aufgrund der Denk- und Sprachfähigkeit eine Vorrangstellung gegenüber den Tieren zuschreibt, bzw. der den menschlichen Interessen mit dem Argument, der Mensch könne sie bewusst und gezielt wahrnehmen und verfolgen, einen Vorrang gegenüber den Interessen von Tieren zuerkennt. Demgegenüber wird argumentiert, dass auch Tiere Interessen haben und dass die Zielgerichtetheit oder der Bewusstseinsgrad, mit denen sie sie verfolgen, sich vom Menschen lediglich graduell, nicht jedoch qualitativ unterscheiden würden und dass auch Tiere kommunikationsfähig seien. Im Übrigen habe schon Jeremy Bentham (1748–1832) betont, dass die entscheidende ethische Frage nicht jene sei, ob Tiere denken oder reden, sondern ob sie leiden können.

Diese für die Geschichte des Tierschutzes sowie für die unterschiedlichen tierrechtlichen Positionen bedeutsame Referenz macht meines Erachtens jedoch eine bedenkliche Engführung tierethischer Fragestellungen ersichtlich, insofern in erster Linie nur schmerzempfindliche Lebewesen in den Blick genommen werden – wobei das vitale Interesse von schmerzempfindlichen Lebewesen, Schmerzen zu vermeiden, unbestritten ist. Deshalb halte ich es für wichtig, die Rede vom „Tier“ bzw. von „den Tieren“ zu differenzieren. Die unterschiedlichen tierlichen Spezies weisen nämlich unterschiedliche Grade biologischer Komplexität sowie verschiedenste Bedürfnisse und Fähigkeiten – sensitive, emotionale, soziale und kognitive – auf. Allen gemein ist, im Sinne der Lehre der Entelechie des Aristoteles, das natürliche Streben, sich entsprechend den artspezifischen Bedürfnissen und Fähigkeiten zu entfalten. Die US-amerikanische Ethikerin Martha Nussbaum spricht in diesem Sinne von einem „guten“ bzw. „gedeihlichen Leben“ (vgl. Nussbaum), dessen Verwirklichung davon abhängt, ob es einem Lebewesen möglich ist, seine vitalen Bedürfnisse zu stillen und sich gemäß seinen wesentlichen artspezifischen Befähigungen zu entwickeln. Besonders bei höher entwickelten Tieren können diese individuell je nach Charakter eines Individuums unterschiedlich ausgeprägt sein. Zu den Grundbedürfnissen gehören die psychophysische Unversehrtheit, Ess- und Trinkverhalten, Bewegungs- und Ruhebedürfnis, soziales Verhalten und Körperpflege, Paarung, Fortpflanzung und Aufzucht von Jungen, Territorial- und Aggressionsverhalten etc. Zu den Befähigungen gehören u. a. Schmerzempfindlichkeit, emotionale und kognitive Vermögen, soziale Intelligenz.

Ethisch relevant ist jedoch nicht in erster Linie die Entelechie als solche, sondern die Annahme, dass eine ihr entsprechende Entfaltung ein – wie auch immer geartetes bzw. von den einzelnen Individuen unterschiedlicher Arten wie auch immer empfundenes oder wahrgenommenes – Wohlbefinden (im Sinne der aristotelischen Eudämonie) zur Folge hat. Die Einsicht in dessen natürlichen Voraussetzungen und die Fähigkeit, sich in ein anderes Individuum einzudenken bzw. einzufühlen, sind Quellen ethischer Verpflichtung gegenüber einem anderen Lebewesen.

Eine an den artspezifischen sowie individuellen Bedürfnissen und Befähigungen ansetzende Tierethik erlaubt einerseits, den spezifischen Eigenheiten sowohl von Spezies wie von Individuen gerecht zu werden und andererseits die Grundlage jeglichen ethischen Anspruchs zu berücksichtigen, nämlich die menschlichen Fähigkeiten der Erkenntnis, des Willens, der Freiheit und der Verantwortlichkeit (vgl. Franziskus, Nr. 118). Ihre Anerkennung rechtfertigt gerade nicht (wie in der Vergangenheit oft geschehen), Tiere den menschlichen Interessen unterzuordnen, sondern begründet vielmehr den Anspruch, das Streben eines jeden Lebewesens nach einem gedeihlichen Leben zu respektieren.

Was bedeutet dies für die eingangs gestellte Frage nach dem (Eigen-)Wert eines Tieres? Eine erste Konsequenz ist die Forderung, im moralischen Urteilen und Handeln jedes Lebewesen „um seiner selbst willen“ zu berücksichtigen. Dies beinhaltet auch, die je spezifischen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Eigenschaften wahrzunehmen und anzuerkennen, woraus unterschiedliche Formen von Rücksichtnahme gegenüber Individuen verschiedener Spezies abgeleitet werden können (vgl. Siegetsleitner, 105; Lintner, 124–129). In diesem Sinn bedeutet Eigenwert, dass das bloße Dasein und das Streben nach einem gedeihlichen Leben eines jeden Lebewesens vom Menschen als ethisch relevante Sinngehalte und -potentiale erkannt werden können. Diese Werthaftigkeit kommt einem Lebewesen unabhängig von seiner (potentiellen oder aktuellen) instrumentellen, relationalen oder ästhetischen Funktion für uns Menschen zu.

Dies erfordert, dass wir unser Wissen über die Tiere, besonders über ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten beständig erweitern müssen. Diesbezüglich liefern die Naturwissenschaften, vor allem die Verhaltensbiologie, wichtige, weil ethisch relevante Erkenntnisse. Zugleich zeigt sich hier aber auch die Grenze des epistemischen Anthropozentrismus, insofern wir diese Erkenntnisse lediglich aus der Beobachtung und Deutung tierlichen Verhaltens gewinnen können. Selbst wenn Tiere als Subjekte wahrgenommen werden, mit denen wir bzw. die mit uns interagieren, können wir immer nur vom menschlichen Standpunkt aus versuchen zu verstehen, wie ein Tier sich selbst, sein Umfeld und die Welt wahrnimmt und was es warum bzw. wozu tut.

Eine zweite Schlussfolgerung ist die Differenzierung von Eigenwert und Würde. Wird Würde im Kant’schen Sinn durch die Fähigkeit zur praktischen sittlichen Selbstbestimmung nach vernünftigen Normen begründet, sehe ich nicht, wie eine univoke Ausweitung des normativen Gehalts des Würdebegriffs auf alle Tiere philosophisch argumentiert werden kann. Dem Würdebegriff und dem Verständnis von Eigenwert ist hingegen gemein, dass weder Menschen noch Tiere lediglich als Mittel gebraucht werden dürfen, wobei der Mensch im Sinne der sittlichen Selbstbestimmung als Selbstzweck, Tiere hingegen „um ihrer selbst willen“ im oben erläuterten Sinn zu respektieren sind. Wohlbefinden, von dem die Rede war, erreicht der Mensch, wenn er in seiner psychophysischen Integrität geachtet wird und entsprechend seinen sittlichen Überzeugungen selbstbestimmt leben kann. Bein einem Tier kann Wohlbefinden vorausgesetzt werden, wenn seine psychophysische Unversehrtheit gewahrt wird und es entsprechend seinen artspezifischen Bedürfnissen und Fähigkeiten leben kann.

Diese Argumentation lässt sich in folgendem tierethischen Imperativ zusammenfassen: Handle so, dass du die Tiere nie bloß als Mittel zur Verfolgung eigener Interessen und zur Befriedigung eigener Bedürfnisse brauchst, sondern immer zugleich auch ihre je eigenen artspezifischen und individuellen Bedürfnisse sowie sensitiven, emotionalen, sozialen, kognitiven etc. Fähigkeiten respektierst und berücksichtigst (vgl. Lintner 2017, 100–104).


Martin M. Lintner ist Inhaber des Lehrstuhls für Theologische Ethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen, Südtirol.


Literatur

Franziskus (2015), Laudato si’. Enzyklika über die Sorge für das gemeinsame Haus (24. Mai 2015); online abrufbar unter: http://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20150524_enciclica-laudato-si.html (29.12.2019)

Lintner, Martin M. (2017): Der Mensch und das liebe Vieh. Ethische Fragen im Umgang mit Tieren. Mit Beiträgen von Christoph J. Amor und Markus Moling. Innsbruck: Tyrolia

Nussbaum, Martha (2010): Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität, Spezieszugehörigkeit. Berlin: Suhrkamp

Siegetsleitner, Anne (2007): Zur Würde nichtmenschlicher Lebewesen, in: Sabine Odparlik / Peter Kunzmann (Hgg.): Eine Würde für alle Lebewesen (ta ethica 4), München: Herbert Utz Verl., 103–118