Markt und Wettbewerb – Vehikel der Diskriminierung oder Katalysatoren für Toleranz?

Von Arnd Küppers (Mönchengladbach)


Auf den ersten Blick scheint es geradezu abwegig, beim Thema Toleranz ausgerechnet an Markt und Wettbewerb zu denken. Ist der kapitalistische Markt nicht vielmehr der Ort mannigfaltiger Diskriminierungen und Demütigungen? Der Ort, an dem Menschen von dem Genuss bestimmter Güter ausgeschlossen werden, weil sie zu arm sind, um sie sich zu kaufen? In unseren Breiten sind es vielleicht die Markenklamotten oder das neueste Smartphone: Wer sich solche Prestigeobjekte nicht leisten kann, wird in seiner Peergroup gedisst. Das ist keineswegs nur unter Teenagern so; dort ist es nur am offensichtlichsten. Die Volkswirte wissen schon lange, dass Menschen auch über den Konsum ihren Status herausstellen. Der amerikanische Ökonom Thorstein Veblen hat dieses Phänomen in seiner Theory of the Leisure Class bereits 1899 erörtert.

Aber der Markt schließt Menschen nicht nur von dem Genuss von Prestigegütern aus, sondern die Ärmsten der Armen auf dieser Welt können sich oft selbst das Lebensnotwendige nicht leisten. „Diese Wirtschaft tötet“, hat Papst Franziskus 2013 dazu in seinem ersten Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium geurteilt. Und weiter: „Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht.“

Der Markt also als Hort von Diskriminierung und Intoleranz? Das erscheint, wenn man es recht bedenkt, doch zumindest merkwürdig. Denn die moderne Toleranzidee hat ihren historischen Ursprung im Liberalismus – genauso wie die Marktwirtschaft. Kann es denn wirklich sein, dass ein und dieselbe geistige Bewegung im politischen Bereich Institutionen der Toleranz und in der sozio-ökonomischen Sphäre solche der Intoleranz geschaffen hat? Ein zweiter, genauerer Blick scheint jedenfalls nicht verkehrt zu sein.

Zunächst einmal ist festzuhalten: Auch die vormoderne, nicht über Märkte organisierte Wirtschaftswelt war voller diskriminierender Strukturen. Deswegen war es mit der sozialen Mobilität, gelinde gesagt, nicht weit her in den Zeiten von Feudalismus und Zunftwesen. Als dann im 19. Jahrhundert Gewerbe- und Berufsfreiheit eingeführt wurden, ging es sehr wohl auch um ein ethisches Anliegen: Das in der aufklärerischen Philosophie propagierte Selbstverfügungsrecht des Menschen als moralisches Subjekt sollte auch im Wirtschafts- und Arbeitsleben verwirklicht werden. Zwar ist es richtig, dass sich die soziale Realität in der Epoche der Industrialisierung diesem Ideal nicht fügen wollte. Der formal freie Arbeitsvertrag pervertierte für die Arbeiterinnen und Arbeiter zu einem Dokument realer Unfreiheit, und die daraus resultierende Arbeiterfrage zog epochale gesellschaftliche und politische Friktionen nach sich.

Darüber darf man allerdings nicht vergessen, dass das bürgerliche Zeitalter auch einen enormen Freiheitsschub mit sich brachte, und Kräfte freigesetzt wurden, die einen Wohlstand hervorbrachten, wie die Welt ihn zuvor nicht gesehen hatte. Das konnte nur geschehen, weil Erfinder und Unternehmer nicht mehr in dem Maß vorangegangener Epochen durch gesellschaftliche Ressentiments und institutionelle Zwänge eingeengt waren, sondern ihre Ideen wesentlich freier entfalten konnten. Die amerikanische Ökonomin Deirdre McCloskey hat in ihrer beeindruckend lehrreichen Trilogie zum bürgerlichen Zeitalter dargelegt, dass es nicht die materiellen Veränderungen, Erfindungen oder neue Produktionsmethoden, gewesen sind, die seit 1800 zu einer Wohlstandsexplosion in Europa und Nordamerika geführt haben. Der entscheidende Faktor war vielmehr die Befreiung der Menschen, die jahrhundertlang von bornierten Monarchen, Adeligen, Geistlichen, Stadträten und Zunftmeistern verachtet und ausgebremst worden waren, und die nun ihre volle Kreativität entfalten konnten und sich mit Mut und Tatkraft an die Verwandlung der Welt gemacht haben.

Zuallererst haben Marktwirtschaft und freier Wettbewerb also für die Beseitigung von Intoleranz und Diskriminierung gesorgt und das sehr konsequent. Verantwortlich dafür ist ausgerechnet das oben inkriminierte rechnende Denken des Marktes. Wer ein gutes Angebot macht, bekommt auf dem Markt seine Chance. Ressentiments und Intoleranz erhöhen die Transferkosten und rechnen sich nicht. Deswegen ist es ökonomisch rational, sich auf dem Markt tolerant zu verhalten. Die soziale Inklusion diskriminierter Minderheiten gelingt im Wirtschaftssystem deshalb meist schneller und besser als in anderen Sphären der Gesellschaft. Nur in einer freien Marktwirtschaft haben auch Unorthodoxe, Sonderlinge und selbst Spinner grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten wie alle anderen – und zweifellos fallen einige der in der Wirtschaftsgeschichte erfolgreichsten Unternehmerinnen und Unternehmer in diese Kategorie der Nonkonformisten. Aber nicht nur für sie brachte die Marktwirtschaft eine ungeheure Befreiung, sondern auch für die Konsumentinnen und Konsumenten, die nicht mehr durch Anbieterkartelle – und nichts anderes waren etwa die Zünfte –   diskriminiert und ausgebeutet werden konnten. Zu Recht hat Franz Böhm den Wettbewerb als das genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte bezeichnet.

Ist es also am Ende genau umgekehrt? Sind Wettbewerb und Marktwirtschaft nicht vielmehr die Voraussetzungen gesellschaftlicher Nicht-Diskriminierung und Toleranz? Manche Behauptungen sind so falsch, dass selbst ihr Gegenteil nicht stimmt. Ja, die Marktwirtschaft hat überkommene Formen der Intoleranz und Diskriminierung beseitigt, aber auch neue entstehen lassen. Die Diskriminierung, die im Kapitalismus stattfindet, ist aber anderer Natur als im übrigen gesellschaftlichen Leben. In früheren Zeiten, aber auch noch heute bezieht sich die „normale“ Intoleranz im sozialen Miteinander meist auf bestimmte abweichende Eigenschaften von Minderheiten, auf ihre Religion, ihre Behinderung, ihren kulturellen Hintergrund oder ihre sexuelle Orientierung beispielsweise. Gegenüber solchen Eigenschaften von Menschen verhält sich derjenige, der der ökonomischen Rationalität des Marktes folgt, hingegen indifferent, also tolerant. Trotzdem gibt es auch auf dem Markt Diskriminierung. Diese ist mit dem überkommenen Begriff von Intoleranz aber kaum zu fassen, dem stets auch ein affektiver Beiklang der Abneigung innewohnt. Marktliche Diskriminierung dagegen ist emotional kühl, sie verbleibt im Modus des rechnenden Denkens und schließt Menschen allein aufgrund mangelnder ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit aus. Für die Betroffenen ist diese Form der Diskriminierung indes nicht per se weniger verletzend.

Bei genauem Hinsehen ist die Meritokratie der bürgerlichen Markt- und Wettbewerbsgesellschaft keineswegs moralisch so erhaben gegenüber der vormodernen Aristokratie mit ihren verachtenswerten intoleranten Sozialstrukturen. Diese Intuition ist der Ausgangspunkt der epochalen Theory of Justice des amerikanischen Philosophen John Rawls. Viele Zufälle entscheiden über die Lebenschancen von Menschen: ob sie in Reichtum oder Armut geboren werden; ob sie einer sozialen Minderheit angehören oder der Mehrheitsgesellschaft; ob sie gesund sind oder krank; ob sie behindert sind oder nicht; ob sie mehr oder weniger intelligent sind; ob sie als Kinder geliebt werden und ein Urvertrauen ins Leben vermittelt bekommen oder nicht. Rawls spricht von der natürlichen Lotterie und meint damit, dass das Schicksal oft nicht weniger Ursachen für diskriminierende Ungleichheit setzt als die Geburtsrechte in früheren Zeiten. Die reine Marktwirtschaft ändert an diesen unterschiedlichen Chancen nichts, im Gegenteil: den einen bietet sie nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, sich zu entfalten; die anderen setzt sie einem Wettbewerb aus, dem sie kaum oder gar nicht gewachsen sind.

Natürlich gibt es viele einzelne Gegenbeispiele, aber aufs Ganze gesehen gilt doch: Markt und Wettbewerb sorgen regelmäßig dafür, dass diejenigen, die das Schicksal ohnehin schon auf die Sonnenseite des Lebens gestellt hat, reüssieren, während die vom Glück weniger Begünstigten es viel schwerer haben. Hinzu kommt: Mag das allgemeine Wohlstandsniveau in freien Marktgesellschaften auch höher sein als anderswo, so sind doch auch die sozialen Unterschiede größer, was nicht selten Herablassung auf der einen und Neid auf der anderen Seite nach sich zieht. Ein weiteres unübersehbares Phänomen ist, dass manche der weniger Begünstigten oft Ressentiments gegenüber denen entwickeln, die ganz am unteren Ende der Wohlstandsskala stehen.

Eine Marktwirtschaft, die bloß frei ist, kann deshalb nicht wirklich als Katalysator für gesellschaftliche Toleranz wirken. Hinzukommen muss noch das Soziale. Nach dem berühmten Diktum Alfred Müller-Armacks liegt die Idee Sozialer Marktwirtschaft darin, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“. Wenn sich dieser soziale Ausgleich nicht in dem bloß Materiellen erschöpfen, sondern tatsächlich den gesellschaftlichen Zielen von Nicht-Diskriminierung und Toleranz dienen soll, dann geht es dabei keinesfalls bloß um Umverteilung. Sondern dann geht es auch und vor allem um Inklusion, Chancengerechtigkeit und umfassende Teilhabe an allen gesellschaftlichen Lebensvollzügen. Schon 1960 hat Müller-Armack eine zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft mit gesellschaftspolitischer Stoßrichtung gefordert, die nicht nur den allgemeinen Wohlstand heben, sondern dem Programm „sozialer Irenik“ dienen sollte, wozu für ihn vor allem die Toleranz unter den verschiedenen sozialen Gruppen und Weltanschauungsgemeinschaften gehörte. Damit war der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Ludwig Erhards seiner Zeit weit voraus. Seine Forderung ist in den Jahrzehnten danach nicht nur nicht eingelöst worden, sondern völlig in Vergessenheit geraten. Die sogenannte „neoliberale Revolution“ des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist am Ende nicht primär an verfehlten wirtschaftspolitischen Maßnahmen, sondern an dem kruden Ökonomismus gescheitert, in dem sie sich verlaufen hat. Der Mensch ist aber mehr als der homo oeconomicus, und die Gesellschaft ist mehr als ein Basar. Gerade weil wir in Zeiten leben, in denen Ressentiment, Vorurteil und Intoleranz beängstigend fröhliche Urständ feiern, brauchen wir im 21. Jahrhundert eine Soziale Marktwirtschaft mit gesellschaftspolitischem Leitbild. Dieses muss nicht mehr nur lauten: Wohlstand für alle, sondern: gesellschaftliche Anerkennung für alle.


Dr. Arnd Küppers ist Wissenschaftlicher Referent und Stellvertretender Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach.