Was ist und welchen moralischen Nutzen hat die Toleranz?

Von Achim Lohmar (Duisburg-Essen)


Eine beliebte Vexierfrage lautet: Kann die Toleranz auch der Intoleranz gelten? Die Reflexion über diese Frage scheint sowohl eine positive als auch negative Antwort zu erzwingen. Wenn Toleranz etwas damit zu tun hat, abweichende Standpunkte und Orientierungen zu dulden, und wenn gerade darin der positive Wert der Toleranz besteht – büßte dann die Toleranz ihren Wert nicht ein, wenn einige Standpunkte von vorneherein von ihr ausgenommen werden? Und wäre das dann überhaupt noch echte Toleranz oder nicht vielmehr eine ausgrenzende Haltung? Mit scheinbar gleichem Recht könnte man aber auch denken, dass die Toleranz gerade dann ihren Wert einbüßen würde, würde sie sich auch auf die Intoleranz richten. Der Intoleranz Raum zu geben, heißt auch, der Intoleranz die Möglichkeit zur Entfaltung zu gewähren. Und wie könnte so etwas gefordert oder etwas Gutes sein? Und wäre eine Haltung, die der Intoleranz die Freiheit zur Entfaltung gewährt, überhaupt noch echte Toleranz oder nicht vielmehr nur moralische Gleichgültigkeit?

Wir haben also einen gewissen Grund anzunehmen, dass Toleranz nicht vorliegt, wo intolerantes Verhalten zurückgewiesen wird. Wir haben aber auch einen gewissen Grund anzunehmen, dass Toleranz nicht vorliegt, wo intolerantes Verhalten nicht zurückgewiesen wird. Dieser Widerstreit ist verwirrend. Umso mehr als es sich dabei nicht nur um das spezielle Problem handelt, wie wir die Beziehung zwischen Toleranz und Intoleranz verstehen sollen. Das Problem scheint vielmehr die Beziehung zwischen der Einstellung der Toleranz und dem moralisch Falschen im Allgemeinen zu betreffen. Wenn wir Fleischkonsum als etwas moralisch Falsches betrachten, dann kann Toleranz in Bezug auf diese Praxis weder darin bestehen, sie zu akzeptieren, noch darin bestehen sie zurückzuweisen. Toleranz in Bezug auf den Fleischkonsum kann aber auch nicht einfach in der Kombination von Akzeptanz und Zurückweisung bestehen.

Trotz dieser verwirrenden Schwierigkeiten ist es unter Philosophen nicht kontrovers, dass Toleranz eine komplexe moralische Einstellung ist, die sowohl ein Ablehnen als auch ein Akzeptieren des Tolerierten enthält. Etwas wie Ablehnung ist Teil der Toleranz, insofern es irreführend wäre jemanden als tolerant in Bezug auf eine Praxis zu beschreiben, die er als unproblematisch betrachtet. So ist niemand tolerant gegenüber Gleichgesinnten qua Gleichgesinnten, weil hier gleichsam der ‚Angriffspunkt‘ für Toleranz fehlt – etwas, das man für falsch hält. Auf der anderen Seite kommt Toleranz aber auch nicht ohne eine Art der Akzeptanz des Tolerierten aus. Niemand ist tolerant gegenüber einem Verhalten, das er ablehnt, wenn das Abgelehnte nicht zugleich auch in irgendeinem Sinne von ihm akzeptiert wird. Toleranz verlangt also auf der einen Seite eine Abgrenzung gegenüber jeder bloß bejahenden oder anerkennenden, auf der anderen Seite ein Abgrenzung gegenüber jeder bloß verneinenden oder zurückweisenden Einstellung. Das ist unkontrovers.

Die eigentliche Herausforderung für eine Theorie der Toleranz besteht nun darin, diese Kombination von Ablehnung und Akzeptanz auf eine überzeugende Weise zu erklären, d.h. zu erklären, wie diese Komponenten in der Einstellung der Toleranz integriert sind. Das gelingt m.E. am überzeugendsten, wenn wir als grundlegende Wahrheit berücksichtigen, dass Toleranz primär eine Beziehung zwischen Personen und nicht eine Einstellung zu Verhaltensweisen als solchen oder in abstracto ist.[1] Es entspricht unserem vortheoretischen Verständnis von Toleranz, dass es für die Toleranz wesentlich und auszeichnend ist, die Perspektive des Anderen zu berücksichtigen. Wir tolerieren Verhalten nicht als einen Typus des Verhaltens, sondern als das Verhalten anderer Personen so wie es sich aus der Perspektive dieser anderen Person, nach unserem Urteil, für diese selbst darstellt. D.h. wir tolerieren ein Verhalten nur insofern es Ausdruck der besonderen motivationalen und kognitiven Lage der betreffenden Person ist.

Diese Herangehensweise entspricht nicht nur unserem vortheoretischen Verständnis. Sie hat auch entscheidende theoretische Vorzüge. Sie kann auf eine einfache Weise erklären, warum die Ablehnung und die Akzeptanz, die Bestandteile der Toleranz sind, nicht miteinander in Konflikt stehen. Sie kann, mit anderen Worten, erklären, warum Toleranz keine irrationale Struktur aufweist. Toleranz enthält eine Ablehnung des Tolerierten in dem Sinne, dass die tolerierende Person eine Abneigung gegen das tolerierte Verhalten hat, das sie als falsch betrachtet. Toleranz enthält eine Akzeptanz des Tolerierten in dem Sinne, dass die tolerierende Person ihre moralische Abneigung gegen das tolerierte Verhalten unter Kontrolle hält und nicht verhaltenswirksam werden lässt. Die Kontrolle ergibt sich dabei aus dem Urteil, dass das Verhalten der anderen Person nicht voll zurechenbar ist. D.h. Toleranz liegt dort vor, wo wir unsere moralische Abneigung gegen das Verhalten anderer nicht wirksam werden lassen, weil wir sanktionierende Reaktionen wie Empörung und Vorwurf angesichts der besonderen motivationalen oder kognitiven Lage der betreffenden Person für unpassend halten.

Wenn wir dagegen annehmen würden, dass sich Toleranz auf ein Verhalten als solches bezieht, müssen die Ablehnung und die Akzeptanz beide auf der gleichen Stufe operieren. D.h. beide Komponenten der Toleranz müssen sich auf ein und dasselbe Objekt beziehen. Aber dann entsteht das Problem, dass die Ablehnung und die Akzeptanz miteinander in Konflikt stehen. D.h. Toleranz kommt bei dieser Analyse als etwas strukturell Irrationales heraus. Auch ist es unter dieser Annahme schwierig, die für Toleranz charakteristische Kontrolle von Gefühlstendenzen zu verstehen.

Davon abgesehen, ist dieser Ansatz auch noch in ganz anderen Hinsicht problematisch. Die Auffassung, dass sich Toleranz auf Verhaltensweisen als solche richtet, ist mit einer bestimmten Konzeption der sozialen Bedeutsamkeit der Toleranz verbunden. Wenn das Objekt der Toleranz Verhaltensweisen sind, die man ablehnt, liegt der Wert der Toleranz in der Beförderung der friedlichen Koexistenz von Menschen mit unvereinbaren Gesinnungen und Lebensstilen. Da er auf der Akzeptanz des abgelehnten Verhaltens als solchen beruht, wäre dieser Friede das Produkt eines bewussten Zurücknahme moralischen Engagements. Toleranz würde demnach den moralischen Status quo einer Gesellschaft durch die Zurücknahme moralischen Engagements in friedlicher Weise befestigen helfen.

Was ist daran problematisch? Wenn man Toleranz als eine Einstellung charakterisiert, deren Wert in der Konservierung des gesellschaftlichen Status quo besteht, koppelt man die Idee der Toleranz von der Perspektive der Aufklärung ab und setzt sie dem Ziel eines moralischen Fortschritts entgegen. Eine solche Auffassung würde aber weder den Phänomenen noch der vermuteten ethischen Bedeutung der Toleranz gerecht. Sie wird den Phänomenen nicht gerecht, insofern sich Toleranz mit den Ausprägungen eines gesellschaftlichen Diskussionsstands und der Veränderung moralischer Urteile und Sensibilitäten entwickelt. Sie wird aber auch der vermuteten spezifischen Bedeutung der Toleranz nicht gerecht, da sie der Toleranz eine Rolle zuschreibt, die genauso gut von moralischer Gleichgültigkeit oder z.B. von der Meinung eingenommen werden könnte, dass es anmaßend wäre Gesinnungen, Weltanschauungen oder Lebensformen zum Besseren ändern zu wollen.

Wenn Toleranz, wie ich argumentiert habe, aber nicht auf Verhaltensweisen als solche bezogen ist, kann ihr Wert auch nicht in der Bewahrung eines Status quo vielfältiger Gesinnungen und Lebensstile gesehen werden. Da sich die in die Toleranz eingehende Ablehnung auf das Verhalten als solches, die in sie eingehende Akzeptanz aber gerade nicht darauf bezieht, liegt die eigentliche Bedeutung der Toleranz in der Beförderung der friedlichen Überwindung eines Status quo insofern er als problematisch empfunden wird.  

Was wird dann aus der unangenehmen Frage, ob die Toleranz auch der Intoleranz gelten kann? Diese Frage ist nach der hier vertretenen Auffassung eine falsch gestellte Frage. Sie setzt voraus, dass intolerantes Verhalten als solches Gegenstand von Toleranz sein könnte. Toleranz, habe ich dagegen argumentiert, bezieht sich nicht primär auf Verhaltensweisen als solche. Wenn wir diese Auffassung aufgeben, geben wir aber auch die Vorstellung auf, dass jedes Verhalten einer bestimmten Art – z.B. Verhalten vom Typus „intolerantes Verhalten“ – entweder tolerierbar ist oder nicht tolerierbar ist. Was dann bleibt, ist die Frage, ob es gerechtfertigt sein kann, bestimmte Vorkommnisse intoleranten Verhaltens zu tolerieren. Da intolerantes Verhalten nicht notwendig zurechenbar ist, lässt sich diese Frage bejahen. Da wir zugleich Grund haben zu vermuten, dass intolerantes Verhalten oftmals zurechenbar ist, sollten wir aber hinzufügen, dass dies oftmals wahrscheinlich nicht gerechtfertigt wäre.


Prof. Dr. Achim Lohmar lehrt Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Normative Ethik und ihre Voraussetzungen, Moralische Verantwortlichkeit und Willensfreiheit, Aufklärung als ethisches Projekt, Werttheorie. Aktuell: “The Ethics of Assertion and the Right of Free Speech”.


[1] Für eine ausführlichere Darstellung und Begründung dieser Auffassung s. Achim Lohmar (2010) „Was ist eigentlich Toleranz?“  in: Zeitschrift für philosophische Forschung 64. S. 8-32. Für eine Verteidigung dieser Konzeption s. Achim Lohmar (2015) „Die Nachsichtigkeitskonzeption der Toleranz. Eine Replik auf Peter Königs“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 67, S. 61-72.