
Philosophie nach Hegel oder wieso es schwierig ist, unsere Zeit in Gedanken zu fassen
Von Markus Gante (Bochum)
Was ist Philosophie? Eine mögliche Antwort wäre: Die Disziplin, die sich obsessiv mit der Frage beschäftigt, was sie eigentlich ist. Natürlich gibt es auch andere. Wahlweise kann sie die erste Wissenschaft oder die Magd der Theologie sein; der ‚Kampf gegen die Verhexungen des Verstandes durch die Mittel unserer Sprache‘ oder der Versuch, eben diese Verhexungen zu produzieren, weil der Alltagsverstand unter Ideologieverdacht steht. Die Liste ist lang und die Antworten, fragt man verschiedene Leute innerhalb der Profession, dürften sehr verschieden ausfallen (wie diese Reihe bestätigen dürfte). Es ist daher ganz sicher nicht mein Ziel, die Frage, was denn Philosophie sei, zu beantworten. Vielmehr möchte ich eine mögliche Antwort auf diese Frage skizzieren, wie sie aus der Perspektive Hegels und seiner Aneignung innerhalb der kritischen Theorie gegeben wurde.
Hegel und der Universalitätsanspruch von Philosophie
Trotz dieser enormen Reduktion von Komplexität wird man das Problem verschiedener Antworten auf die Ausgangsfrage nicht los. Hegel selbst gibt verschiedene, und um erklären zu können, inwiefern sie etwas miteinander zu tun haben, muss man schon ein paar Jahre Hegel studieren – in der Regel kein gutes Zeichen. Hier sind zwei: „Philosophie ist die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit“ (Enz: §574) und: Philosophie ist „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“ (GW 14,1: 15). Lässt man exegetische Genauigkeiten beiseite, dürfte unkontrovers sein, dass die erste Antwort einen deutlich höheren Anspruch impliziert als die zweite. Unsere Zeit in Gedanken zu fassen ist schwer möglich, ohne sich mit der Kommunikationsstrategie der Trump-Administration auseinanderzusetzen (nach Steve Bannon: „flooding the zone with shit“), deren Resultate wohl eher wenige Philosoph*innen geneigt sein dürften, zum Gegenstandsbereich einer sich wissenden Wahrheit zu rechnen. Überhaupt kann es als notorisch unklar gelten, wie dieser Gegenstandsbereich zu bestimmen wäre. Sind es die ewigen Wahrheiten (und wenn ja, welche)? Dann wären die beiden Antworten – das Ergründen ewiger Wahrheiten und das Erfassen der eigenen Zeit – jedoch grundverschieden, zielt erstere ja gerade auf das, was nicht spezifisch mit der eigenen Zeit zu tun hat.
Möglicherweise könnte man eine der Grundspannungen der Hegelschen Philosophie so bestimmen, dass er Einsichten, die er über andere Philosophien entwickelt, nicht (oder nicht hinreichend) auf die eigene anwendet. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie finden wir beispielhaft folgende (in meinen Augen tolle und richtige) Passage: „Jede Philosophie ist eine beschränkte. Ein besonderer Standpunkt, eine Stufe im System. Nur auf dieser Stufe hat sie Sinn, gehört ihrer Zeit an. Es ist mit der Philosophie wie mit jedem Individuum. Es mag sich einer aufspreizen, wie er will, er tritt nicht über seine Zeit hinaus“ (GW 30,1: 13). Kontrastiert man dies mit den von Hegel erteilten Selbstauskünften, mögen einige Zweifel daran entstehen, ob er seine eigene Philosophie als einen solchen beschränkten Standpunkt begriffen haben wollte. Lesen wir hingegen Passagen, in denen Hegel über race und gender, oder auch nur über die Wirkweise bestimmter Naturgesetze spricht, ist offenkundig klar, dass seine Philosophie in hohem Maße eben genau das war: ein beschränkter, zeitgebundener Standpunkt. Ich halte es daher für hilfreich, den Universalitätsanspruch der Hegelschen Theorie nicht entlang des Modells ewiger Wahrheiten zu begreifen.
Die Alternative wäre, das Wissen um die Beschränktheit eines jeden besonderen Standpunktes konstitutiv in die eigene Theoriebildung aufzunehmen. Wenn das richtig ist, bestünde der Universalitätsanspruch des Hegelschen Philosophiemodells nicht darin, ewige Wahrheiten zu suchen, sondern auf methodisch informierte Weise die blinden Flecken verschiedener Perspektiven reflektieren zu können – idealerweise auch der eigenen. Denn wenn für den Geist „das Vorfinden einer Welt als einer vorausgesetzten, das Erzeugen derselben als eines von ihm gesetzten, und die Befreiung von ihr in ihr ein und dasselbe sind“ (Enz: §386), besteht die Befreiung des Geistes darin, die vorgefundene Welt als Summe seiner eigenen Konstruktionsakte zu beschreiben (ihre Unmittelbarkeit zu vermitteln) und gleichzeitig nur durch das Geltenlassen dieser Konstruktionen zu bestehen (Unmittelbarkeit zu setzen). Einfacher ausgedrückt könnte dies heißen, dass Menschen stets mit einer Welt konfrontiert sind, die zu großen Teilen das Produkt ihrer eigenen Handlungsvollzüge ist, obgleich sie ihnen als etwas begegnen kann, das außerhalb ihres Gestaltungsspielraumes steht. Befreiung beschreibt dann den Prozess, die ‚eigene Zeit‘ in einer Weise zu begreifen, in der sich die vorgefundene Welt nicht als unverrückbare Tatsache, sondern als Teil des menschlichen Gestaltungsspielraumes begreifen lässt.
Philosophie als Kritik von Voraussetzungen
1821 beendet Hegel seine Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie mit der folgenden Passage:
Hiemit ist die Geschichte der Philosophie beschlossen; dies Gemälde des sich Bewußtwerdens des Wissens. Die höchste Stufe ist, daß der Geist sich in der Wahrheit selbst bewußt wird. – Diese Reihe haben wir gesehen. Die ganze Weltgeschichte hängt von diesen Begriffen ab; denn die Geschichte ist Geschichte des Geistes und die jetzige Welt ist nur durch ihren Begriff bestimmt; jede Zeit wird erkannt auf ihrer höchsten Spitze durch das Bewußtsein, welches sie von sich hat, durch das Bewußtsein von ihrem Wesen; das Bewußtsein in seiner reinsten Form stellt die Geschichte der Philosophie dar (GW 30,1: 456).
Die allgemeine Auskunft über Philosophie ist, dass sie die reinste Form sei, ihre eigene Zeit abzubilden. Sie tut dies, indem sie die Begriffe, durch die sich Menschen zu einer Zeit bestimmt sehen, expliziert. Die speziellere Auskunft ist, dass – Stand Hegel – nun auch noch erkannt worden sei, dass diese Begriffe einst außerhalb des Gestaltungsspielraums des Geistes standen und man, so Hegel, vor 200 Jahren also in einer Zeit lebte, die nur noch durch den Begriff, den sie von sich selbst hat, bestimmt ist. Eine sehr viel einfachere Art dies auszudrücken, wäre zu sagen, dass die Menschen nun selbstbestimmt und autonom über ihre Geschicke verfügen können sollen, weil sie wissen, dass sie frei und autonom sind und nicht mehr von einer göttlichen Ordnung oder ähnlichem abhängen.
Man kann aus guten Gründen bezweifeln, ob dies jemals eine adäquate Zustandsbeschreibung war. Hegels eigene Philosophie ist voll von (aus unserer Sicht) arbiträren Grenzen menschlicher Selbstbestimmung die (aus Hegels Sicht) gerade als Resultate oder notwendige Bestandteile menschlicher Selbstbestimmung beschrieben werden. Die konstitutionelle Monarchie ist für Hegel Teil des Begriffs, aus dem sich auch ableiten lassen soll, dass ein heteronormatives Familienmodell mit einem aktiven und öffentlichen (wenig überraschend: männlichen) und einem passiven und privaten (wenig überraschend: weiblichen) Teil die angemessene Form menschlicher Selbstbestimmung sein soll. Ebenfalls ist für Hegel Armut ein notwendiger Bestandteil der ökonomischen Ordnung, was ja deskriptiv leider immer noch richtig ist, aber hoffentlich nicht notwendigerweise so sein muss. Ein Zitat, in dem besonders schön zur Geltung kommt, wie man mit Hegel weitermachen kann, ohne sich auf seine konkreten Aussagen festlegen zu müssen, ist dieses:
Wir haben zu einer bestimmten Zeit bestimmte Vorstellungen, z.B. von Gott, vom Staat usf. Bei aller dieser eigenen Einsichten kann es der Fall sein, daß eine grundlose Annahme, eine bewußtlose Voraussetzung die Basis von allem Folgenden ausmacht. Die Menschen sagen zwar, sie hätten selbst gedacht, und das Selbstdenken kann auch stattgefunden haben; aber dieses Selbstdenken hat eine bestimmte Grenze, doch ohne, daß man sie selbst bemerkte (V 6: 302f.).
Meines Erachtens ist es überaus offensichtlich, dass Hegel selbst in einigen Teilen seines Systems eine ‚grundlose Annahme, eine bewußtlose Voraussetzung‘ als Ausgangspunkt gewählt hat und dies unsichtbar gemacht oder nicht bemerkt hat, ist das Ziel der Philosophie nach Hegel doch die Voraussetzungslosigkeit. Versuche, diesen Umstand zu verneinen, dürften wohl eher an Ehrenrettung grenzen, wo es keiner bedarf. Interessanter scheint mir daher zu sein, Hegel vollumfassend ernst zu nehmen, wenn er sagt, dass alle Zeiten von bestimmten, bewusstlosen Voraussetzungen – blinden Grenzen des Selbstdenkens – geprägt sind und es die Aufgabe der Philosophie ist, zu versuchen, eben diese in den Blick zu bekommen, ohne der Illusion aufzusitzen, dass man irgendwann einmal alle aus dem Weg geräumt hätte. Philosophie wäre dann die Perspektive, die sich dafür interessiert, was aus dem Blickwinkel anderer Perspektiven als unmittelbar gegeben gilt – „Voraussetzungen und Versicherungen zu machen“ ist für sie „unzulässig“ (Enz: §1).
Allgemeiner gesprochen ließe sich sagen, dass einer der Kernimpulse der idealistischen Philosophie darin bestand, die gesamte Welt als Resultat menschlicher Selbstbestimmung beschreiben zu wollen. Wo Nicht-Ich ist, soll Ich werden. Hegel überträgt diesen Impuls in eine Geschichtsphilosophie, in der sich der Prozess der menschlichen Zivilisation als ein gradueller Abbau dieser Voraussetzungen innerhalb der Denksysteme verschiedener Epochen darstellt. Zweifelsohne produziert und reproduziert er dabei allerhand eurozentristische Motive und möglicherweise Schlimmeres. Allerdings ergibt sich daraus eine Betrachtungsweise der Welt, die Schule machen sollte: Wenn es Denksysteme gibt, die von bewusstlosen Voraussetzungen abhängen, die als Grenzen der menschlichen Selbstbestimmung erscheinen, besteht die Aufgabe der Philosophie darin, die Grenzziehungsprozesse über die Möglichkeiten menschlicher Selbstbestimmung der Kritik zu unterwerfen.
Kritische Theorie: Natur & Geschichte
Marx greift dieses Motiv in den Grundrissen folgendermaßen auf. Als Grenze der Selbstbestimmung erscheint nun die naturhafte Gesellschaft, also die Art Gesellschaft, die bestimmte gesellschaftliche Anordnungen als notwendig und schicksalhaft begreift, wo sie doch das Produkt tätiger Individuen sind – also etwas von Menschen Gemachtes als außerhalb ihres Gestaltungsspielraumes begriffen wird.
Es ist ebenso sicher, daß die Individuen sich ihre eignen gesellschaftlichen Zusammenhänge nicht unterordnen können, bevor sie dieselben geschaffen haben. Aber es ist abgeschmackt, jenen nur sachlichen Zusammenhang als den naturwüchsigen, von der Natur der Individualität (im Gegensatz zum reflektierten Wissen und Wollen) unzertrennlichen und ihr immanenten, aufzufassen. Er ist ihr Produkt. Er ist ein historisches Produkt. Er gehört einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung an. Die Fremdartigkeit und Selbständigkeit, worin er noch gegen sie existiert, beweist nur, daß sie noch in der Schöpfung der Bedingungen ihres sozialen Lebens begriffen sind, statt von diesen Bedingungen aus es begonnen zu haben. Es ist der Zusammenhang, der naturwüchsige, von Individuen innerhalb bestimmter, bornierter Produktionsverhältnisse. Die universal entwickelten Individuen, deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eignen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind, sind kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte (MEW 42: 95).
Die gemeinschaftliche Kontrolle über das gemeinschaftliche Leben – also die selbstbestimmte oder autonome Gesellschaft – wird von Marx folglich als Überführung von Natur in Geschichte bestimmt, wobei Natur in diesem Zusammenhang als ‚naturwüchsig‘, also als sozial wirksame Scheinnatur zu verstehen ist. Das Projekt des Kapitals stellt dann die Kritik der naturwüchsigen Prämissen der Ökonomie dar, aus denen sich bestimmte gesellschaftliche Organisationsformen als ganz natürlich und alternativlos ableiten lassen. Ein Beispiel wäre die Idee der freien Konkurrenz, die vermeintlich – so sie in der Realität denn einmal auftreten sollte – zur effektivsten Preisbildung und Ressourcenallokation führen solle. Allerdings, so Marx, ist die „freie Konkurrenz […] noch nie entwickelt worden von den Ökonomen, soviel von ihr geschwatzt wird, und sosehr sie die Grundlage der ganzen bürgerlichen, auf dem Kapital beruhenden Produktion“ ausmacht (MEW 42: 327). Dieses Beispiel weist jedoch auf ein nennenswertes Problem hin. Denn weder scheint es so zu sein, dass der theoretische Aufweis, dass es sowas wie freie Konkurrenz nicht gibt (man kann hier an Joan Robinsons Theory of Imperfect Competition (1933)denken), noch der praktische Umstand, dass große Marktsegmente durch allerhand Quasi-Monopole und Oligopole dominiert werden, der steten Berufung auf die Idee der freien Konkurrenz etwas anhaben können – im Falle von Amazon, Google, etc. ironischerweise auch noch genau durch diejenigen, die handfesterweise auf diese Monopole hinarbeiten.
Tritt man einen Schritt hinter die Ökonomie zurück, lässt sich innerhalb der kritischen Theorie im weiteren Sinne zunächst eine Verallgemeinerung dieses Theoriemodells beobachten. Im programmatischen Text Was ist Kritische Theorie erklärt Horkheimer:
Der intellektuellen und materiellen Aktivität der Menschen wird immer etwas äußerlich bleiben, nämlich die Natur als Inbegriff der jeweils noch unbeherrschten Faktoren, mit denen die Gesellschaft es zu tun hat. Soweit aber dazu als weiteres Stück Natur die einzig von den Menschen selbst abhängenden Verhältnisse, ihre Beziehung bei der Arbeit, der Gang ihrer eigenen Geschichte gehören, ist diese Äußerlichkeit nicht nur keine überhistorische, ewige Kategorie – das ist auch bloße Natur im angegebenen Sinn nicht – sondern das Zeichen einer erbärmlichen Ohnmacht, in die sich zu schicken widermenschlich und widervernünftig ist.[1]
Alles, was den Menschen als unbeherrschter Faktor entgegentritt und als eine scheinbar überhistorische und ewige Kategorie (wie Natur, Gott, Schicksal, ökonomische ‚Naturgesetze‘) erscheint, wird zum Gegenstand der Kritik. Philosophie ist aus dieser Perspektive dann das Projekt, der ‚erbärmlichen Ohnmacht‘ entgegenzuwirken, indem sie zeigt, dass die scheinbar überhistorischen und ewigen Kategorien historische Konstrukte sind, die anders gemacht werden könnten und so die durch diese Kategorien geleisteten Legitimation fallen. Ihre Kernaufgabe besteht somit in der Skepsis gegenüber allen vermeintlichen Unmittelbarkeiten, allen ‚Tatsachenbehauptungen‘ über Mensch und Gesellschaft, die auf vermeintlich normativ-neutrale Art und Weise bestimmen, was für Mensch und Gesellschaft möglich und unmöglich sein soll, was natürlich und was unnatürlich ist, was Gott gewollt oder verboten habe.
Polykrise
Mit Blick auf die derzeitige Situation halte ich es für unstrittig, dass wir uns nach wie vor in einem Zustand der ‚erbärmlichen Ohnmacht‘ befinden. Fast alle größeren westlichen Industrienationen erleben einen reaktionären Backlash, dessen Destruktivität, einmal ins Amt gekommen, sich derzeit in den USA beobachten lässt; die Reallohnentwicklung stagniert seit Jahren und hinter all dem liegt die Menschheitsaufgabe der Klimakrise, in der die vereinbarten Ziele in weiter Ferne liegen oder bereits gerissen sind.
Adam Tooze charakterisiert diese Situation als Polykrise. Damit gemeint ist die wechselseitige Abhängigkeit für sich genommen hochkomplexer Problemfelder, deren Wechselwirkungen eine kaum zu überblickende Gesamtlage zur Folge haben.[2] Folgt man dieser Analyse, impliziert dies, dass es kein Hauptproblem gibt, durch dessen Bearbeitung alle weiteren Probleme mitgelöst werden. Habermas zog bereits in der Theorie des kommunikativen Handels den weitreichenden Schluss, dass sich eine Verschiebung von ‚falschem‘ zu ‚fragmentierten Bewusstsein‘ beobachten lässt. In Anbetracht der Komplexität der Weltlage wird das „Alltagsbewusstsein“ seiner „synthetisierenden Kraft beraubt, es wird fragmentiert“ (TKH 2: 521). Weiter erklärt Habermas:
An die Stelle des »falschen« tritt heute das fragmentierte Bewußtsein, das der Aufklärung über den Mechanismus der Verdinglichung vorbeugt. Erst damit sind die Bedingungen einer Kolonialisierung der Lebenswelt erfüllt: die Imperative der verselbständigten Subsysteme dringen, sobald sie ihres ideologischen Schleiers entkleidet sind, von außen in die Lebenswelt (TKH 2: 522).
Nicht mehr mit klassischen Ideologien, sondern mit Imperativen verselbstständigter Subsysteme hat es – folgt man Habermas an dieser Stelle – kritische Theorie also nun zu tun. Was ist der Unterschied? Während klassischerweise Ideologie als ‚falsches Bewusstsein‘ – ein Begriff mit einer hochironischen Geschichte[3] – genutzt wurde, um eine fundamentale Grundverzerrung der Wirklichkeit zu beschreiben, handelt es sich bei Imperativen verselbstständigter Subsysteme erst einmal gar nicht um Verzerrungen, sondern schlicht um Funktionsanforderungen einer komplexen Gesellschaft, die den Menschen über den Kopf gewachsen ist.
Habermas möchte damit die Vorstellung angreifen, dass es sowas wie ein Grundproblem der Gesellschaft gebe oder, anders gesagt, dass es sowas wie eine ideologische Fundamentalverzerrung gebe, die zwar schwer in den Blick zu bekommen sei, aber gerade deshalb die Aufmerksamkeit der Philosophie verdiene. Zunächst scheint es mir sinnvoll zu sein, anzuerkennen, dass größere Teile der kritischen Theorie tatsächlich innerhalb eines solchen Paradigmas operierten. Je nach persönlichem Geschmack kann man dies wahlweise als Unterscheidung von Haupt- und Nebenwiderspruch ausdrücken, man kann zu raffinierteren Varianten greifen, die die Warenform selbst als das Fundamentalproblem schlechthin behandeln, und auch Hegel selbst spricht immer wieder davon, dass eine gegebene Gesellschaft durch ‚ein Prinzip‘ bestimmt sei, das die Philosophie zu begreifen habe: „Der Charakter einer Zeit in seiner höchsten Gestaltung aufgefaßt, ist in der Geschichte der Philosophie gegeben. Verfassung, Regierung, Sittlichkeit der Völker; Alles geht aus einem Prinzip hervor“ (GW 30,1: 19). Habermas’ Skepsis gilt also der Idee einer Fundamentalverzerrung im Singular, weil dies die Komplexität moderner Gesellschaften unterbietet. Geht man diesen Gedanken mit, folgt für eine Philosophie, die ihre Zeit in Gedanken fassen soll, dass sie keinen letzten Begriff mehr erreichen wird, der ausreicht, die ganze Zeit in Gedanken zu fassen. Hegel selbst bezeichnet diesen letzten Begriff, unter dem sich eine Zeit begreifen lässt, als ihre ‚Definition des Absoluten.‘ Er glaubte, wie bereits angesprochen, dass die „höchste Definition des Absoluten“ Geist ist, und aus dem „Drang“, sie zu finden, „allein die Weltgeschichte zu begreifen ist“ (Enz: §384).
Heute, so Habermas, kann das fragmentierte Bewusstsein genau diese Einheit nicht mehr hervorbringen – es gibt keine, so könnte man das auch ausdrücken, Definition des Absoluten mehr, die die Einheit von Gesellschaft garantieren könnte. Versteht man Hegels Philosophiemodell als den systematischen Versuch, zu beobachten, was andere Perspektiven je als unmittelbar gegebene Voraussetzung akzeptieren, ist man auf einen solchen Einheitsbegriff jedoch auch nicht angewiesen. Vielmehr ließe sich dann sagen, dass die Idee einer Definition des Absoluten im Singular eben genau eine solche unkritisch aufgenommene Voraussetzung Hegels gewesen ist, die sich soziologisch zudem mit der damals prävalenten Idee einer zentralen Steuerungsinstanz ‚Staat‘ koppeln lässt und mittlerweile überaus zweifelhaft geworden ist.[4] Weitermachen kann man dann, indem man sagt, Philosophie ist nach wie vor mit der kritischen Untersuchung ‚bewusstloser Voraussetzungen‘ betraut, nur muss sie akzeptieren, dass es nicht die eine gibt, an der alle leiden und dass sie selbst aller Wahrscheinlichkeit nach etwas nicht im Blick hat, was spätere Generationen von Philosoph*innen einmal an ihr beobachten können. Sonst wäre es ja auch langweilig. In einem Wort: Philosophie als „sich vollbringende[r] Skepticismus“ (GW 9: 56) ist gut damit beraten, nicht nur den anderen, sondern auch sich selbst gegenüber skeptisch eingestellt zu sein.
Markus Gante ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum für klassische deutsche Philosophie / Hegel Archiv der Ruhr Universität Bochum.
[1] Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, in: Zeitschrift für Sozialforschung VI,2, 1937, S. 245–292, S. 264.
[2] Gut veranschaulicht durch das World-Economics Forum hier, der Begriff Polykrise geht auf Edgar Morin zurück: https://www.weforum.org/stories/2023/03/polycrisis-adam-tooze-historian-explains/
[3] Meines Wissens nach verwendet Engels diesen Begriff zuerst in einem Brief, in dem er gebeten wird zu erklären, was Ideologie denn nun sei. Marx war bereits gestorben und Engels leitet seine Ausführungen mit folgender Warnung ein: „Wenn man vierzig Jahre mit einem Mann wie Marx zusammenarbeitete, wird man zu Lebzeiten gewöhnlich nicht so anerkannt, wie man es zu verdienen glaubt; stirbt dann der Größere, so wird der Geringere leicht überschätzt – und das scheint mir grade jetzt mein Fall zu sein“ (MEW 39: 96). Anders gesagt: folgende Ausführungen bitte mit Vorsicht genießen.
[4] Nassehi, Armin. 2006. Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M., S. 89.
Literatur
Hegel, G.W.F. 1968ff. Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg.
- GW 9: Phänomenologie des Geistes
- GW 14,1: Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Grundlinien der Philosophie des Rechts.
- GW 30,1: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1819 und 1820/21.
Habermas, Jürgen. 1981. Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 2). Frankfurt a.M.
Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, in: Zeitschrift für Sozialforschung VI,2, 1937, S. 245–292.
Marx, Karl u. Friedrich Engels. 1968. Briefe Januar 1893-Juli 1895 (= MEW 39), hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus. Berlin/DDR.
Marx, Karl. 1983. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (= MEW 42), hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus. Berlin/DDR.
Nassehi, Armin. 2006. Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M.